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Nr. 25/1999

Sprengbomben im Kinderzimmer

Vor der Berliner Band Atari Teenage Riot nehmen Eltern Reißaus. Die Musiker drohen in ihren Liedern mit Mord und Zerstörung und blasen zur Straßenschlacht
 Von Jürgen Ziemer

Die Lehrer an der High-School in der Nähe von Boston trauten ihren Augen nicht: »Atari Teenage Riot, 60 Seconds Wipeout« stand auf dem Plakat, dazu ein Datum in den nächsten Tagen. Zwar wusste niemand, wer oder was Atari Teenage Riot war, aber es klang gefährlich, und dazu war von Auslöschung die Rede, von Auslöschung in 60 Sekunden. Bereitete hier jemand ein Massaker vor wie in Littleton, Colorado? War er diesmal so irre, es vorher anzukündigen? Die Polizei ließ die Schule räumen, ein Sprengstoffkommando rückte an, durchsuchte Klassenzimmer nach Bomben und Schusswaffen. Gefunden wurde nichts.

Wie auch? Das Plakat war bloß die Ankündigung des neuen Albums der Berliner Band Atari Teenage Riot. Die Schüler lachten über das beabsichtigte Missverständnis, und einer schickte sogar eine E-Mail nach Deutschland: »Wegen euch hatten wir einen Tag schulfrei, das war ziemlich cool.« Die Berliner genießen solche Reaktionen - zeigen sie doch, wie ihr Erfolgsprinzip funktioniert: Jugendliche lieben sie für ihre Provokationen und Geschmacklosigkeiten, weil selbst die tolerantesten Eltern für sie kein Verständnis haben. Atari Teenage Riot leisten pubertäre Identitätsstiftung in Zeiten, da Rockmusik die Erwachsenen schon lange nicht mehr schreckt - sie sind das letzte Mittel, Erziehungsberechtigte in die Flucht zu schlagen. Die schleppen ihre Gören ja mittlerweile selbst zu Konzerten der Rolling Stones, wo diese von Mick Jagger obszöne Gesten lernen.

Sich anders als die Eltern fühlen, diese Lust befriedigen Atari Teenage Riot so erfolgreich wie keine andere deutsche Band. In den USA bringen ihre Platten es auf sechsstellige Verkaufszahlen, Tourneen mit Superstars wie Beck und Wu-Tang-Clan zeugen vom Marktwert des eben in ein Quartett verwandelten Trios. Alec Empire, der Kopf der »Revolution Power Rangers« (taz), wurde vor zwei Jahren von dem amerikanischen Branchenblatt Entertainment Weekly sogar in die Liste der 100 wichtigsten Köpfe aufgenommen. Dort finden sich sonst nur seriöse Künstler vom Kaliber eines Steven Spielberg.

Alec Empire ist ein schlaksiger, dunkelhaariger Junge von 26 Jahren. Er tritt gern mit kajalgeschwärzten Augen auf; so sieht er aus wie eine Mischung aus Luke Skywalker, Iggy Pop und Christoph Schlingensief. Wie der Berliner Theatermann hat Alec Empire einen Sinn für verwegene Aktionen. Zuletzt nutzte er die Demonstrationen zum Revolutionären 1. Mai 1999 in Berlin als Werbespektakel für seine neue Platte 60 Seconds Wipeout, die soeben erschienen ist. Im Stadtteil Kreuzberg fliegen an diesem Datum jedes Jahr Steine, und Schaufenster und Autos gehen zu Bruch.

Kulturkampf auf dem Sattelschlepper.

Mit einem Sattelschlepper setzten sich Atari Teenage Riot an die Spitze des Demonstrationszugs. Auf dem Wagen türmte sich eine Batterie von Lautsprechern, daneben turnten die vier Musiker - gekleidet und aufgeputzt, als kämen sie aus einem japanischen Manga-Comic: Nic Endo, das jüngste Mitglied der Band, trug asiatische Schriftzeichen auf ihrem kalkweiß geschminkten Gesicht, der Rapper Carl Crack lugte unter seiner Afrofrisur hervor wie ein zu allem entschlossener Black Panther; die Sängerin Hanin Elias, ganz in Schwarz und mit kräftigem Makeup, schrie atemlos die Parolen des Tages, Empireschem Liedgut entlehnt: »Destroy 2000 years of culture!«, zerstört 2000 Jahre Kultur! Und: »Deutschland has gotta die!«, Deutschland muss sterben! Dazu grollten blecherne Rhythmen, quietschten grelle Melodien, ertönte ein schmerzhaft verzerrtes Gurgeln zwischen Rock, Punk und Techno. Und über allem thronte Alec Empire, ein Hohepriester des Krachs, der jede seiner Gesten von einer Videokamera aufzeichnen ließ, damit seine Botschaft später verbreitet werden könne: Uns und unsere Musik werdet ihr Erwachsenen niemals verstehen.

Daran ist Empire selber schuld. Denn sich selbst erklären mag er gar nicht gern. Bestenfalls erzählt er Journalisten, dass er im beschaulichen Westberliner Stadtteil Frohnau aufgewachsen ist und als 12-jähriger Breakdancer Polizeibeamte hassen lernte. Der ausländischen Presse berichtet er lieber von seinen Großvätern. Der eine sei als Sozialist im Konzentrationslager gestorben. Der andere habe die erste elektronische Strickmaschine erfunden und sei damit in den fünfziger Jahren Millionär geworden. Allerdings habe er - als sei's ein Roman von Kempowski - in den Sechzigern alles wieder verloren. Deutsche Schicksale.

Das eigene Schaffen weiß Alec Empire ebenfalls überlebensgroß zu stilisieren. Wie langweilig wäre ein Musiker, der der Welt lediglich Zeichen ästhetischer Dissidenz entgegenschleudert - wie Punkbands vor 20 Jahren. Nein, Alec Empire meint seine Liedtexte wirklich ernst. »Wir sind Anarchisten, wir lehnen einen Nationalstaat ab«, sagt er. Und er träumt tatsächlich von einem Land, in dem Antifaschisten Nazirudel über nachtdunkle Kreuzungen hetzen. RAF-Mitglieder verklärt er zu romantischen Außenseitern. Gudrun Ensslin zitiert er mit dem Satz: »Auch Sex ist politisch.«

Politik als Thema entdeckt Alec Empire 1991, da ist er 18 Jahre alt, und in Deutschland brennen Asylantenheime. Eines seiner ersten Stücke nennt er Hetzjagd auf Nazis. Eine Textzeile aus einem Kinderhörspiel wird zum Refrain: »Der neunte Schuss ging sauber durch die Stirn.« Auf den Straßen träumt eine neue Generation von Neonazis davon, die Technoszene zu erobern, während die »ravende Gesellschaft« auf der Berliner Love Parade mit geschlossenen Augen weitertanzt. Alec Empire schickt wütende Manifeste gegen Faschismus und Ausländerfeindlichkeit in die Redaktionen deutscher Magazine. Das bringt ihm in der Partyszene das Image des intellektuellen Spaßverderbers ein.

Trotzdem spielen Alec Empire und die anderen Künstler eines kleinen Plattenlabels, bei dem er unter Vertrag ist, weiterhin auf großen Techno-Veranstaltungen. Beim Frankfurter Cosmic Trigger-Rave steht er mit anderen Musikern auf der Bühne. Gemeinsam intoniert man Hetzjagd auf Nazis, und zum Refrain reißt man die Fäuste hoch. Alec schwingt über seinem Kopf einen Baseballschläger - eine Geste, die er nicht mit der Pose halbstarker Pop-Hasardeure verwechselt wissen will. Ihm ist es auch mit dem Griff zur Schlagwaffe ernst. Dass das nicht jeder versteht, zeigt sich noch am selben Abend, als Empire versucht, durch den Saal in den Backstage-Bereich zu gelangen. Ein Türsteher will ihm partout keinen Einlass gewähren. Er will einfach nicht einsehen, dass ein Baseballschläger nur ein Symbol ist für den antifaschistischen Widerstand.

In den folgenden Monaten tuschelt man auf den Fluren großer deutscher Plattenfirmen über diese sensationelle neue Band. Blutjung seien die Musiker, und in ihrer Musik finde sich alles, was derzeit hip sei und aufregend: Hardcore-Techno und Punk und auch ein wenig Jungle und Breakbeat. Und dann dieser fantastische Name: Atari Teenage Riot. Doch es ist die englische Plattenfirma Phonogram, die nach langen Verhandlungen den Zuschlag bekommt.

Das Trio scheint zunächst alles zu bieten, was man mit modernen Popstars assoziiert: Alec, den charismatischen Rebellen, der so niedlich gucken kann. Hanin Elias, die junge Syrerin mit der smarten feministischen Straßen-Attitüde. Und Carl Crack, den dunkelhäutigen, meist schweigsamen »Jungen aus dem Ghetto«. Ein Cyberpunk-Trio wie aus einem Roman von William Gibson. Doch der Plattenkonzern ist überfordert mit der Radikalität seiner Entdeckung. Er veröffentlicht nur eine Single, auf der die Band Rassisten droht: »We gonna find you and we gonna kill you!«, »Wir werden euch finden und töten.« Ein Jahr später wird sie mit einer üppigen Abfindung verabschiedet.

Steine fliegen, und die Band feuert an.

Die Musiker freuen sich wie Kinder über ihren Streich und veranstalten erst mal ein paar Mini-Raves in einer Berliner Schrebergartensiedlung. Wahrscheinlich fühlt sich Alec Empire auch hier wie der Stachel im Fleisch des Kapitalismus. Doch dann tut der zornige junge Mann selber etwas sehr Kapitalistisches - er gründet eine Plattenfirma, Digital Hardcore Recordings. Firmensitz ist London, denn wer seinen Lebensmittelpunkt im Ausland hat, muss nicht zur Bundeswehr. Außerdem fühlt sich die Band in der Popmetropole besser verstanden als in Berlin, wo das Gerücht die Runde macht, Alec Empire sei gar kein Politkämpfer, sondern ein »Nesthocker«, der noch immer bei seinen Eltern wohnt.

Das lässt der nicht auf sich sitzen; auf die Hülle seines ersten Albums setzt er eine Uzi-Maschinenpistole. Nebenbei, fast unbemerkt von seinen Fans, veröffentlicht Empire elektronische Musik, die ihn in Verdacht bringt, schöngeistigen Freuden anzuhängen. Nach ein paar Jahren ist der Exkurs zu Ende. Heute widmet sich Empire ganz dem Sprengen der Grenzen zwischen Pop und Politik.

Am 1. Mai in Berlin wird das besonders deutlich, als selbst die Polizei mitspielt in Empires faszinierendem Orgien- und Mysterientheater. Wie die Soldaten des Star-Wars-Imperiums sehen die Polizisten aus in ihren Kampfanzügen. Jeder, der wie Alec Empire mit den Mythen von Star Wars aufgewachsen ist, spürt, dass die »Macht« da draußen ist. Und während die Truppen Darth Vaders auf die Demonstranten einprügeln, kreischt der junge Luke Skywalker auf seinem Wagen wie von Sinnen: »Fuck the police! Fuck the police!!« Steine fliegen. Menschen flüchten. Die Einsatzkräfte ziehen sich zurück. Nun erst recht, denken Atari Teenage Riot und spielen den Song Revolution Action. Die Videokamera, die vorgesehen war, Alec Empires Figur und Werk zu mystifizieren, dokumentiert den Straßenkampf. Die Aufnahmen werden wochenlang im Internet ausgestellt wie Trophäen.

Nach einer Stunde ist die Schlacht geschlagen, drei der vier Musiker sind in Haft. Damit ist für Empire die These bewiesen, die er als Songzeile in die Welt schrie: »Riot sounds produce riots«, die Klänge des Aufstands stacheln zum Aufstand an. Nach drei Stunden werden die Musiker freigelassen. Die ebenfalls verhaftete junge Kurdin Morè Keskin sitzt noch heute. Ihr Vergehen: Sie hat vor fünf Jahren, auf einer Demonstration, einen Song der Punk-Band Slime gespielt. »Deutschland muss sterben«, heißt es darin. Auf Englisch heißt die Zeile: »Deutschland has gotta die.« Alec Empire singt das ungestraft. Wahrscheinlich, weil die Erwachsenenwelt ihn ohnhin nicht verstehen kann.

© beim Autor/DIE ZEIT 1999 Nr. 25
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