Stadtindianer in den USA - ein neuer Pfad der Tränen

von Thomas Baumgartner


Gegenwärtig leben über die Hälfte (ca. 1,3 Millionen) aller Indianer in den USA nicht auf Reservaten, sondern in Städten. Sie bezeichnen sich selbst als »Urban Indians«, als Stadtindianer. Von den staatlichen und lokalen Behörden meist ignoriert und ohne Unterstützung fristen viele von ihnen ein trostloses Dasein.

Landraub und Umsiedlung

IndianerfiedhofSeit 1492 haben die europäischen »Eroberer« und ihre Nachfahren die Ureinwohner in allen Teilen Amerikas unterworfen und ihr Land nach und nach in Besitz genommen. Die brutale Kolonisation forderte nicht nur Millionen Todesopfer, sondern trachtete danach, die indianische Identität unter dem Motto »töte den Indianer, aber erhalte den Menschen« zu zerstören. Die USA ihrerseits verfolgen seit weit über einem Jahrhundert konsequent eine vernichtende Land- und Umsiedlungspolitik, um der vermeintlichen Indianerproblematik Herr zu werden. Die Vorstellung war - und gilt auch heute noch - dass die Indianer ihr »Indianertum« ablegen sollten, um »braune« oder »rote Weisse« zu werden. Man wollte sie von den Zwängen des Stammes- oder Gemeinschaftslebens befreien, die man bei ihrer Entwicklung zu freien (steuerzahlenden) Staatsbürgern als Hemmnisse sah. Diese Philosophie wurde von einer Gesetzesflut begleitet, um die Indigenen zu definieren und ihnen schliesslich, sobald sie als ausreichend »zivilisiert« erachtet wurden, die vollen Bürgerrechte anzubieten. In der Folgezeit versuchten die Weissen, die Ureinwohner im Schmelztiegel USA zu assimilieren und sie in den Mainstream einzugliedern. Noch vor 50 Jahren lebten praktisch keine Indianer in den grossen Metropolen wie New York, Denver, Los Angeles oder San Francisco. In den 50er Jahren jedoch machte sich die Regierung eine Assimilationspolitk zu eigen, welche Indianer ermutigte, von ihren Reservaten in städtische Gebiete umzuziehen. Obwohl es schon früh klare Anzeichen für die schrecklichen Folgen dieser Umsiedlungspolitik gab - die meisten tauschten ihr trostloses Dasein auf den Reservaten gegen ein erbärmliches Leben in Ghettos ein, die bald in den grossen Städten entstanden - beschleunigte die Regierung das Programm während der 60er Jahre. 1980, als das Programm langsam auszulaufen begann, lebten bereits 49 % in den Städten und auch ohne formale Umzugsbemühungen des Bundes hält dieser Trend ohne Änderung an. Heute leben schätzungsweise nur noch 1/3 der indianischen Bevölkerung in Reservaten.

Daneben betreiben die souveräner gewordenen US-Bundesstaaten eine moderne Kolonisationspolitik und setzen die Invasion in indianische Territorien fort. In ihren letzten Rückzugsgebieten, die den Indianern in der Annahme zugestanden wurden, da dort sowieso nichts Wertvolles zu finden war, werden nun reiche Rohstoffvorkommen entdeckt. Für die Ausbeutung dieses ungeahnten Reichtums werden skrupellos elementare Menschenrechte verletzt. Indianische Gemeinschaften werden vertrieben, korrumpiert und entrechtet.

Fakten und Zahlen

Unwiderruflich und unfreiwillig aus den Zentren ihrer soziokulturellen Existenz ausgeschieden, leben heute noch viele ohne kulturelle oder spirituelle Bindung und ergeben sich einem Leben in Isolation und Sucht. Im indianerfeindlichen Umfeld der Städte finden sich die meisten nicht zurecht. In den Schulen wird ihnen gelehrt, dass ihre Vorfahren Wilde waren, welche offenbar grundlos zahlreiche Siedler niedergemetzelt haben. Im Sport werden ihre Ahnen als Karikaturen und Werbemaskottchen missbraucht, während in den Museen die Indianer als ein Relikt des vorigen Jahrhunderts ausgestellt werden. Geschätzt wird, dass nur etwa 10 % den Lehren ihrer Traditionen und Stammesmodelle folgen. Der Rest kämpft zwischen zwei Welten, ohne je ein Teil der einen oder anderen zu sein.

Die Arbeitslosenrate ist gegenwärtig doppelt, die Armutsrate dreimal und die Selbstmordrate sogar viermal so hoch wie die der übrigen Bevölkerung. Die gesundheitlichen Verhältnisse sind ebenfalls erbärmlich, kommen doch nur knapp die Hälfte in den Genuss einer Krankenversicherung. So liegt die Sterblichkeitsziffer als Folge von Alkoholismus und verwandten Ursachen über dem doppelten, und die Zahl der Diabetes- und Herzerkrankungen über dem dreifachen des US-Durchschnitts.

Aufgrund der speziellen Beziehungen zwischen der US-Bundesregierung und den indianischen Völkern werden Stadtindianer statistisch nicht erfasst und erhalten deshalb nur wenig bis fast keine staatliche Unterstützung. Und im Gegensatz zu ihren auf den Reservaten lebenden Verwandten sind sie von allen indianisch bestimmten Programmen ausgeschlossen und besitzen darüber hinaus keine kommunale oder lokale Vertretung. Für Hilfsmittel und Unterstützung müssen sie mit ihren Stämmen konkurrieren, was finanziell wie politisch wiederum fatale Folgen hat und innerhalb der indianischen Gemeinschaft zu grossen Spannungen führt.

Schlimmer noch als die Vorurteile der meist weissen Bevölkerung wiegt das Misstrauen der Reservatsindianer gegenüber den Stadtindianern, welche diese oftmals nicht mehr als »echte Indianer« anerkennen. Die US-Behörden erkannten schnell den Nutzen dieser inneren Spannungen und versuchten, diese noch zu vertiefen, um so die beiden Seiten gegeneinander auszuspielen. So wurden für städtische Indianer zunehmend willkürliche und abstrakte Methoden angewandt, um ihr Indianer-Sein bestätigen zu lassen; vom Bund sanktionierte Papiere wie das Certificate of Tribal Enrollment wurden als Wahrzeichen ausgegeben, um die Teilnahme am politischen Leben ihrer Nationen als Stammesmitglieder zu ersetzen, während vom Bund herausgegebene Certificates of Indian Blood als ultimative Bestätigung einer eigenen Identität die notwendige Verpflichtung gegenüber den indianischen Interessen zu mindern versuchten.

Stadtindianer - Opfer des Stereotyps?

Das Interesse an den indianischen Völkern und Kulturen ist in den letzten Jahrzehnten stetig gewachsen. Bücher wie beispielsweise Dee Brown's »Bury my Heart at Wounded Knee«, die sich ausschliesslich mit den Indianerkriegen des letzten Jahrhunderts auseinandersetzen, wurden in den USA und Europa zu Bestsellern. Mittlerweile gibt es eine schier endlose Anzahl Bücher, Bildbände, Filme etc., oft von Weissen oder »wiedergeborenen Indianern« geschrieben, welche vorallem auch in New Age- und Esoterikkreisen eine grosse Anhängerschaft finden. Angesichts der weltweiten Umweltzerstörung und der Unübersichtlichkeit des technischen Zeitalters scheinen die Attribute der Indianer aus »weisser« Sicht wie eine Lösung der Sinnkrise. Gegen hohe Bezahlung kann man heute in Deutschland oder in der Schweiz an sogenannten Schwitzhüttenkursen und Indianer-Weekends teilnehmen. In 2 oder 3 Tagen wird man in die Geheimnisse indianischer Spiritualität eingeführt und kann auch gleich selbst an ein paar Zeremonien teilnehmen. Meist werden solche »Seminare« von selbsternannten (vor allem auch weissen) Heilern und Medizinmännern (Plastic Medicine Men) durchgeführt, über deren Heilkräfte auf ihren Heimatreservaten meist nichts bekannt ist.

Es scheint, als habe sich das Stereotyp des nordamerikanischen Indianers tief in unser Unterbewusstsein eingebohrt, und dem Bild des »edlen Wilden« entsprechen heutzutage doch eher noch die auf den Reservaten lebenden Indianer, allen voran die Plains-Indianer im Mittleren Westen der USA. Demgegenüber haben es städtische Indianer und Organisationen doppelt schwer, sich ein Gehör für ihre modernen Anliegen zu verschaffen. Doch das Überleben der vielen indigenen Völker und Nationen Nordamerikas hängt zu einem grossen Teil eben von diesen ab. In der Vergangenheit waren es meist sogenannte Stadtindianer, die zu Vorreitern und Wegbereitern für den indianischen Widerstand in den USA wurden. Beispielsweise der Schriftsteller und Professor Vine Deloria jr., ein Oglala, der seit über 30 Jahren mit seinen scharfsinnigen und provokativen Werken (u.a. »Gott ist rot«, »Custer starb für eure Sünden«, »Nur Stämme werden überleben«) immer wieder für Furore sorgte und zu einem grossen Teil mitverantwortlich für die Stärkung der indianischen Bewegung seit den frühen 70er Jahren ist. Ihm folgten unzählige jüngere indianische Kritiker, die in ihren Werken auf den andauernden Genozid und die Unterdrückung der Indianer aufmerksam machen.

Friedhof von Wounded Knee (Foto: Beatrice Weyrich)
Der aktive Widerstand indianischer Gruppierungen und Organisationen seit Ende der 60er Jahre bildete sich ebenfalls meist in den Städten und weitete sich erst in der Folge auf die Reservate aus. Als sicherlich bis heute bekanntestes Beispiel, sei hier das American Indian Movement (AIM), 1968 von Stadtindianern in Minneapolis gegündet, genannt.

Nebst vielen anderen Aktionen rückten sie mit dem »Trail of Broken Treaties« (1972) und der Besetzung von Wounded Knee (1974) das Leiden und die Ungerechtigkeiten gegenüber den indianischen Gemeinschaften endgültig ins Bewusstsein der (weissen) US-Amerikaner. Aber auch schon 1968, bei der Besetzung der Insel Alcatraz vor der Küste San Franciscos, waren es anfangs städtische Indianer, die mit dieser spektakulären Aktion auf ihre Situation aufmerksam machten. Diese Beispiele bilden nur die Spitze des Eisbergs, und bis heute folgten hunderte ähnlicher Aktionen in allen Gebieten der USA.

Hilfe zur Selbsthilfe

FriedenspfeifeMit neuem Selbstbewusstsein kämpfen viele Ureinwohner heute darum, ihr Schicksal endlich wieder selbst in die Hände nehmen zu können. Die Rückbesinnung auf die eigene Identität umfasst alle Bereiche des Lebens. Heute gibt es in den US-Grossstädten zahlreiche indianische Selbsthilfe- und Gemeinschaftszentren. Diese leisten Hilfe in Krisensituationen, beschaffen Hilfsmittel, Nahrung und Kleidung, bieten Gesundheitsfürsorge und Suchtbehandlung und helfen bei der Wohnungs-, Ausbildungs- und Stellensuche etc. Eine ihrer wichtigsten Aufgaben besteht jedoch darin, durch kulturelle Ereignisse einen Zusammenhang zu ihren eigenen Traditionen und Werten herzustellen. Der indianischen Jugend gebührt besondere Aufmerksamkeit; Schüler erhalten an indianischen Schulen traditionellen Unterricht, und in Kalifornien existiert gar eine indianische Universität (DQ-University). Im Bereich der Medien entstanden regionale und überregionale Indianerzeitungen und Fernsehsender. Daneben gibt es eine schier endlose Anzahl von politisch motivierten Organisationen und Intellektuellen, welche sich vehement und erfolgreich für die Rechte der amerikanischen Ureinwohner einsetzen. National- und international vernetzt sind sie in der Lage, auf aktuelle Geschehnisse sofort zu reagieren.

Aus dem kulturellen und politischen Leben in den Städten sind diese Zentren und Organisationen nicht mehr wegzudenken und von unermesslichem Nutzen für die indianischen Gemeinschaften. Doch aufgrund der drastischen Kürzungen im US-Bundes-Finanzhaushalt kämpfen viele heute um ihr Überleben und sind auf internationale Unterstützung angewiesen. Europa muss einen Teil dieser ausländischen Hilfe leisten, weil die Glaubensgemeinschaften, Experten, Wissenschaftler und Politiker in den USA sich kategorisch weigern, mehr als ein Kopfnicken für die historischen, gesetzlichen und geistigen Verbrechen an den amerikanischen Ureinwohnern übrig zu haben.

Die Kraft und Bereitschaft für den Kampf um Gerechtigkeit liegt in den Städten, und wir müssen uns ihren Anliegen öffnen, denn dies ist der Kampf um das Überleben der gesamten indianischen Gemeinschaft.

© 1996, 1998 Big Mountain Aktionsgruppe e.V.

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