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Natur 

Das Geheimnis des Spiegels 

Im Frühjahr geht's wieder raus aus der Stadt und rein in die Natur. Doch warum finden wir Bäume und Wiesen, Blumen und Tiere eigentlich so schön?

VON ANDREAS WEBER

Es ist schon merkwürdig: Noch niemals zuvor hat der Mensch die Natur so nachhaltig zerstört wie heute. Und noch niemals zuvor hat er sie so verehrt und wohl auch verklärt: die Fahrt ins Grüne, der Urlaub an unberührten Stränden - davon träumen die Bewohner der Städte millionenfach. Und fahren für ein paar Tage mit dem Auto aufs Land. Ein Widerspruch? Mag sein. Aber auch ein ganz elementares Bedürfnis

Was unser Verhältnis zur Natur betrifft, so leben wir in einem recht merkwürdigen Zeitalter: Dieses firmiert als "Epoche der ökologischen Krise": Niemals zuvor wurde die natürliche Umwelt nachhaltiger mißachtet als heute. Kaum je aber wurde sie auch stärker geliebt.

Denn Natur und ihre zahllosen Derivate sind längst eine tragende Säule der bürgerlichen Alltagskultur geworden. Tier- und Landschaftsfilme füllen Fernsehprogramme zur besten Sendezeit. Der grüne Rand ums Reihenhaus, Zimmerpflanzen, noch das Blumenmuster auf Tellern und Tapeten holen Vegetatives ins nächste Lebensumfeld.

Im kleinsten Apartment ist Platz für Hund, Fisch oder "Ziervogel", und das glänzende neue Auto vor der Tür wird im Schnitt auf fast jeder zweiten Fahrt nur zum Vergnügen bewegt: zur Fahrt ins Grüne. In den Ferien gilt: bloß weg, in "unberührte" Länder. Noch die Dino-Manie läßt sich als Einbruch kreatürlicher Ungezähmtheit in das organisierte Leben moderner Kinder deuten. Und steckt im "Tamagotchi" nicht auch das zum Konsumgag abgesunkene Bedürfnis, ein warmes Leben zu hegen und zu pflegen?

Natur, so scheint es, ist dem Menschen ein elementares Bedürfnis - und das offensichtlich in dem Maß mehr, wie das Reservoir erlebbarer unberührter Landschaft schrumpft. Wir hängen an Tieren und Pflanzen wie an einer Nabelschnur. Was aber ist so schön an ihnen? Wir ahnen es: In seinem Leib ist der Mensch selbst Natur. Unser innerer Kern ist körperlich, organisch und unserem rationalen Denken letztlich entzogen.

Um diese Seite unseres Wesens erfahren und in die Persönlichkeit integrieren zu können, sind wir auf die Gegenwart von Natur wie auf einen symbolischen Spiegel angewiesen. Das meint auch der Biologe Edward O. Wilson von der Harvard University. Für ihn haben sich Gehirn und Psyche in einer ständigen Koevolution mit Pflanzen und Tieren so entwickelt, daß sie ohne deren Anregungen nicht funktionieren können.

Tatsächlich scheinen bestimmte Erscheinungsformen von Natur auf alle Menschen eine ähnlich hohe Anziehung auszuüben. Der englische Gartenarchitekt Humphrey Repton etwa, der im 18. Jahr- hundert die Parks seiner reichen Kunden verschönerte, mußte stets bestehenden Wald auflockern und Durchbrüche zum Horizont hin schaffen, einzelne Bäume auf offenen Wiesen freistellen und künstliche Gewässer anlegen. Dieses Bild bestimmt bis heute Parks und alte Kulturlandschaften, sogar ein Großteil der klassischen Landschaftsgemälde ist nach ähnlichen Gesetzen komponiert. Sollen Menschen die Attraktivität von Landschaften bewerten, dominiert stets die aufgelockerte Wiesen- und Parkszenerie.
 

Mit der Natur geht auch das Wohlbefinden kaputt

Verhaltensforscher schließen daraus, daß ästhetische Vorlieben angeboren sind und deshalb unentrinnbar unsere Bedürfnisse bestimmen. Ist aber die Sehnsucht nach schöner Natur in unserem Wesen verankert, könnte ihr Verschwinden unabsehbare Folgen haben: Womöglich sind wir im Begriff, etwas zu zerstören, ohne das wir gar nicht auskommen können.

Dem Menschen droht ein emotionaler Verlust, der die Grundstruktur seines Wesens angreift, befürchten inzwischen auch Psychologen der Harvard University. Sie nehmen an, daß bereits im Jahre 2020 Depressionen nach Herz- und Kreislaufproblemen auf der Erde die zweithäufigste Gesundheitsstörung sein werden - eine Ursache, so vermuten sie, wird die zunehmende Entfremdung von der Natur sein.

Angesichts solcher Aussichten ist es erstaunlich, daß der Begriff des Naturschönen aus intellektuellen Debatten beinahe verschwunden ist. Natur hat keinen Wert und kein Geheimnis, ja beinahe keine Realität mehr. Zwar beherrscht die Wissenschaft inzwischen elementare Bildungsgesetze. Doch spricht niemand mehr von der Natur als Ganzem: Zu stark ist der Druck modernen Denkens, daß diese Vorstellung vergangenen Epochen angehöre. Wirklichkeit sei vielmehr unentrinnbar fragmentarisch und artifiziell - alles Verbindliche hingegen Illusion. Diese Haltung ist aufklärerisch gemeint und will vor dem Mißbrauch bestimmter Werte schützen. Der Aufruf zur Dekonstruktion mutet aber angesichts der realen Destruktion wie bittere Ironie an: Ein generelles Mißtrauen gegenüber festen Werten führt dazu, daß eine zunehmend technokratische Naturwissenschaft ermächtigt wird, über das Leben total zu verfügen.

Dabei könnte sich die Idee, Natur sei nichts Reales, sondern ein historisches gesellschaftliches Konstrukt, schnell als haltlos erweisen. Jüngste Studien zeigen, wie sehr die natürliche Mitwelt unsere kulturellen Formen geprägt hat. In seinem Buch "Der Traum von der Wildnis" untersuchte der britische Historiker Simon Schama abendländische kulturelle Praktiken - vom religiösen Ritus bis zum Massentourismus - und entdeckte überall die Natur als heimlichen Gravitationspunkt. Er schließt daraus, daß der "Kern einer unserer tiefsten Sehnsüchte" in dem Verlangen liege, "in der Natur Trost für unsere Sterblichkeit zu finden". "Dieses Mysterium" hat für ihn "etwas über die tiefsten Beziehungen zwischen natürlichen Formen und menschlicher Gestaltung zu sagen".

Der Kern dieses Mysteriums ist das Schöne. Im naturästhetischen Erlebnis findet sich der Mensch symbolisch mit dem Kosmos vereint. Denn die Natur verkörpert, was auch wir sind: Sie ist der lebendige Spiegel unserer Emotionen und unserer geistigen Konzepte.
 

Der Wald wirkt wie eine riesige Kathedrale

Das zeigt sich vor allem in der Kultur: Der abendländische Brauch etwa, Bäume als heilig zu verehren, hat eine Tradition, die von der Frühgeschichte bis in die Moderne reicht, die von nordischen Baumkulten und dem heiligen Hain mediterraner Kulturen bis zur christlichen Kunst führt - und schließlich zur Romantik, in der der "Waldesdom" für die Menschen zur Kathedrale wurde. Noch das Waldsterben kann somit als die symbolische Sünde der Industriegesellschaft an einem Heiligtum gedeutet werden - und mußte gerade darum zum Inbegriff der Umweltkrise werden.

Diese Baummetaphorik verdeutlicht, wie Natur auf den Geist wirkt: Bäume gelten als Symbole des Lebens, weil sie erfahrbar Leben sind. Nach dem symbolischen "Tod" im Winter schlagen sie wieder aus, wachsen und tragen Früchte, ganz ohne unser Zutun. Im Leben des Baums erlebt der Mensch Kräfte, die er aus sich selbst kennt. Ähnlich kommt ein Großteil sprachlicher Bilder zustande. Gefühle artikulieren wir immer noch in elementaren Metaphern: Die Liebe ist heiß, die Wut kocht, der Zorn grollt wie der Donner, die Seele dürstet. Und ebenso emotional erleben wir die Elemente: die milde Frühlingsluft, das zornige Gewitter, die duftende, stechende Rose. Natur zeige sich, so finden die Denker Gernot und Hartmut Böhme in ihrem jüngsten gemeinsamen Buch, "als unverlierbare Spur auch noch in den geistigsten Begriffen". Wendungen wie "steinerne Ruhe", ein "eisiger" oder ein "warmer" Blick sind damit direkt aus unserem Körper heraus zu verstehen.

Das körperliche Wesen Mensch braucht elementare Eindrücke, um sich ganz zu ermessen.  Nur durch sie erleben wir Seiten unserer Natur, die auf keine andere Weise zum Ausdruck kommen. Denn kaum eine seelische Situation ist so einfach, daß sie sich rein in Begriffen erschöpfend fassen und verstehen ließe. Die Komplexität menschlicher Psychophysik, ihre elementare Sinnlichkeit, verlangt die sinnliche Gegenwart des Elementaren. Der modernen Rationalität ist dabei immer wieder entgegenzuhalten: Es gibt in uns etwas Unsagbares - etwas Unbegreifliches, das aber gleichwohl wirklich ist.

Nur die ästhetische Erfahrung lotet dieses Volumen aus - ohne Worte, aber doch auf ihre eigene Art höchst rational: Die Rationalität des Naturschönen entspringt den gemeinsamen organischen Gesetzen, denen das menschliche Leben ebenso unterliegt wie das der Tiere und Pflanzen.

Die elementarsten menschlichen Möglichkeiten, das Wunder des Aufblühens und die Verzweiflung des Zerfalls, ragen mit ihren Wurzeln ins Dunkel unserer Psyche hinein - und gerade darum ist sie uns verborgen.
 

Ein stummer Spiegel für die Psyche

Überhaupt funktioniert ja die ganze Psyche symbolisch: Unbewußtes manifestiert sich, wie etwa in Träumen, in verwandelter Gestalt und nicht selten als Symbol aus dem Lebensreich. In diesem Sinne ist die vegetative Welt um uns mit der Psyche in uns identisch. Die Natur hält uns einen verwandtschaftlichen stummen Spiegel vor und drückt darin vor mir aus, was in mir ist.

Die Natur offenbart ihr Geheimnis nicht dem argumentativen Diskurs und nicht der biochemischen Analyse. Sie zeigt es - als Geste und als Gestalt, als sinnlich erfahrbaren Eindruck von Licht und Wärme, von Dunkel und Verfall, von Härte und Dauer, von Wachstum und Wiederkehr. Im Naturschönen führt das, was wir niemals wirklich verstehen werden, ein sinnliches Eigenleben vor uns, es spricht uns an, ruft uns als Wesen gleichen Stoffes auf, mit ihm zu teilen: Wir können den letzten Sinn, der uns nebelhaft bleibt, dennoch irgendwie erfassen, weil wir dazugehören.

Das Überwältigende mancher Erfahrungen sieht sich so zurückgebettet in einen größeren Zusammenhang, in dem der Schock seine lähmende Singularität verliert: In der Natur wendet sich auch die Katastrophe wieder zum Guten, wenn man ihr Zeit läßt. Diese Beziehung ist nicht linear, sondern metaphorisch: Bestimmte Seinsweisen lassen sich nur in sinnlich wirksamen Symbolen ausdrücken. Sie sind prinzipiell im blinden Fleck des Selbstbewußtseins verborgen und daher nur durch eine Kette von Übertragungen mitteilbar, in denen dieselbe Komplexität emotional erfahren werden kann. In der knorrigen Eiche, im wehenden Gräsermeer stecken ebenso viele diffuse Schichten des Erlebens wie in mir selbst, wenn ich etwa meine Ausdauer vernehme, meine Wehmut: Immer ist da noch eine vitale Tiefendimension mehr vorhanden, als sie in der Benennung faßbar wäre.
 

Religiöse Erlebnisse und unberührte Landschaft

Daß Natur unverfügbar bleibe, daß sie vor uns, über uns, ohne uns tätig sei, gehört zu den Bedingungen solcher Wirkung. "Unberührte" Natur trägt noch nicht den Stempel des Gemachten, Künstlichen. Das Ursprüngliche, dieser Gegenstand hartnäckiger Obsessionen so vieler Menschen, ist vielmehr eine eigenständige, letztlich nicht faßliche, mächtige Gegenwart. Sie bietet damit Erlebnisdimensionen, die sich aus dem herübergerettet haben, was einst religiöse Erfahrung hieß.

Mit dieser teilt die Präsenz des Naturschönen viele Eigenschaften - etwa die wissende Sprachlosigkeit, die paradoxe Struktur des im Erleben offenbaren Geheimnisses. Vielleicht ist eine solche Ähnlichkeit instruktiv und weist auf eine renitente Eigenschaft des Menschen hin: die notwendige Verflechtung mit einem größeren Zusammenhang. Womöglich kommt man also ohne die Kategorie des Heiligen gar nicht aus, will man der Natur, aber auch bestimmten Seiten menschlicher Lebensqualität wieder einen Wert geben. Die Beobachtungen des Religionsphilosophen Mircea Eliade zeigen, daß traditionelle und archaische Gesellschaften, die eng an die Natur gebunden sind und mit dieser haushalten, diese immer als elementar heilig auffassen, als Gabe und Verkörperung der Götter.

Eine moderne Aufwertung der Natur kann nur auf dem Boden eines differenzierten anthropologischen Verständnisses gelingen. Darin müßte zentral die Erkenntnis liegen, daß auch wir für uns selbst unverfügbar sind: daß nämlich unser Leib als Maßstab absoluter Werte die Gegenwart der "creatura", der Schöpfung zum Existieren braucht.

Was auf dem Spiel steht, ist also nichts weiter als jene Vereinigung sensibelster Kultur und tiefsten Empfindens, wie sie etwa aus einem Brief der Schriftstellerin und Psychoanalytikerin Lou Andreas-Salomé an den Dichter Rainer Maria Rilke sehr anrührend aufscheint: "Man kann doch die Blättchen und Blütenköpfchen nicht sehen, ohne zu wissen: man ist ihnen verwandt", schrieb sie. "Der Frühling sagt es so laut, daß auch wir Frühlinge sind. Denn dies ist der Grund unseres Entzückens an ihm."


DS - DEUTSCHES ALLGEMEINES SONNTAGSBLATT, 1. Mai 1998 Nr. 18/1998
 
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