[Hans-Georg Behr]

    PHANTASTICA

    die betäubenden und erregende genussmitel

    von Prof. Dr. Louis Lewin

    vollständige Neuauflage der ausgabe von 1927

    für ärzte und nichtärzte

    Vorwort zur Volksverlag-Ausgabe

    Reise in ein unerforschtes Land

    "Der gute, alte Lewin", sagen Fachleute manchmal, und andere kennen ihn nicht mehr. Was noch in Bibliotheken zu finden ist und die Arisierung deutschsprachiger Literatur in einem übersehenen Regal überlebt hat, wird nur noch sehr selten ausgehoben und in die Hand genommen. Bibliothekare meinen, das sei gut für das Buch, da es unbenutzt erhalten bleibe und, wenn einmal zerfleddert, kein Nachschub zu erhoffen sei. Bibliothekare sind die Hüter öffentlich zugänglicher Schätze, die allerdings bald aus dem Leim gingen, würde man sie wirklich heben.

    Lewin ist vergessen, aber anscheinend doch gesucht. Vor Jahren habe ich ihn auf die Suchliste einiger Antiquare setzen lassen, denn ich hätte ihn besitzsüchtig gern in meinem Bücherschrank. Bisher klappte das nicht - "Was glauben Sie, wer da alles danach fragt", höre ich immer wieder. Es muß also etwas an dem Buch sein, das ein halbes Jahrhundert nach seinem Erscheinen sprachlich und wissenschaftlich völlig veraltet ist und von Fachwissenschaftlern als Kuriosität gesucht wird, als eine Art Fossil einer kaum mehr vorstellbaren Urzeit.

    Lewins Buch hat den Reiz früherer Reisebeschreibungen. Es liest sich wie ein Bericht einer Terra incognita, eines unendlich fernen Landes, manchmal nicht weniger abenteuerlich und unglaublich wie Marco Polos Bericht vom fernen China für seine venetianischen Zeitgenossen. Für uns macht das die Sache noch abenteuerlicher. Wir können in der Eisenbahn sitzen oder im Flugzeug - kein Abenteuer im Vergleich zu der uralten Reise mit den dafür doch untauglichsten technischen Mitteln der Beine und Tierrücken. Das macht: diese schwerfällige Art, sich fortzubewegen, ist dem menschlichen Begriffsvermögen angemessen, läßt die zurückgelegte Strecke genau erleben, macht sie menschlich.

    Lewins Reise in das weite Land der Drogen erfolgte mit technisch ebenso schwerfälligen Mitteln, mit den Beinen einer humanistischen Bildlung (ebenso solide wie das Schuhwerk des neunzehnten Jahrhunderts) und auf dem Rücken medizinischer Vorstellungsmöglichkeiten der Gründerzeit. Da können wir heute nur lachen, da uns die Jets fortgeschrittener Chemie, in die Bestandteile von Atomkernen vorgeschossener Physik, die Raketen ins Undenkbare bis zur Gen-Manipulation abgeflogener Wissenschaften zur Verfügung stehen. Können wir? Heute kann kein Fachmann eines Gebietes mehr die Sprache des Spezialisten eines anderen verstehen. Lewins alte, veraltete Gangart ist jedem nachvollziehbar, und nur seinen Zeitgenossen erschien sie so unglaublich wie die Maro Polos den seinen.

    Aber nicht das ist es, was Lewin so besonders macht. Das Erstaunliche ist das Gebiet seiner Reise. Wer nachdenkt, dürfte das nicht fassen können: da unternahm erst in unserem Jahrhundert ein Mann den ersten Versuch, sich wissenschaftlich mit einer Sache auseinanderzusetzen, mit der die Menschen seit der Urzeit leben, mit Drogen.

    Bis Lewin war nur ein Aspekt an Drogen wissenschaftlichen Interesses wert: der medizinische, die Drogen als Arzneimittel. Hanf und Haschisch galten als hervorragendes Mittel bei Brusterkrankungen, Opium war ein Beruhigungsmittel und Narkoticum, Cocain wurde als Fitmacher verordnet und diente lokaler Betäubung ... Bis dorthin befaßten sich Gelehrte mit Drogen und nicht weiter. Wer alte Medizinbücher liest, wird Kranksein auch für einen ganz schön berauschten Zustand halten müssen, denn es wurde so ziemlich alles verordnet, was "törnt". Dachten die Ärzte nicht an diese andere Wirkung der Drogen? Waren sie, nur auf Heilung bedacht, betriebsblind?

    Das war es wohl nicht, und der Grund für die seltsam gespaltene Betrachtungsweise liegt im gemeinsamen Ursprung des Wissens um Drogen und Heilbarkeit, beim Medizinmann der Urzeit.

    Auch in der gegenwärtigen Welt liegen alle Schichten der Gessellschaftsentwicklung noch sichtbar offen, und den Medizinmann der Amazonas-Indios haben unsere Vorfahren vor etlichen Jahrtausenden auch gehabt. Er war für alles Unbegreifliche zuständig. Das begann mit der Heilung von Gebrechen durch Drogen als das noch Faßbarste und führte zur Faßbarmachung des Unbegreiflichen, indem es zu einem Gott erklärt wurde. An beidem hatten Drogen ihren hohen Anteil, an Medizin und Religion. In Gottesdienstritualen spielten sie eine bedeutende Rolle, Alkohol in den Dionysos-Mysterien, Opium im Isis- und im Ceres-Kult, Hanf bei Shiva, den Phrygiern und bei der Verehrung des Gottes der Dichter und Seher Apollo. Und viele Tempel waren Kliniken, jede Klinik war auch ein Tempel.

    Als in Europa der eine Gott des Christentums das Monopol erobert hatte, blieb mit ihm nur noch eine Droge heilig und göttlich, das "Blut Christi", der Alkohol. Die meisten anderen Drogen erlebten eine "Bewußtseinsspaltung": ihr Heilwert in der Medizin blieb erhalten, ihr Rauschwert aber wurde eine Angelegenheit des Teufels und seines Bodenpersonals, der Zauberer und Hexen. Und die wurden, da der Gott der Christen eifersüchtig ist, verbrannt, wo immer man sie aufspürte.

    Die Grenze zwischen Medizin und Religion aber wurde noch lange nicht gezogen. Die Kirche war Träger der Spitäler und in den Klostergärten wurden die Drogen für Arzneien gewonnen. Die "Bürgerspitäler" entstanden erst in der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts, in der Zeit der "Aufklärung" als die Herrschenden der Welt das erste Mal bewußt den Versuch unternahmen, sich der Vormundschaft der Religion zu entziehen. Die Macht der Religion über die Medizin erhielt aber auch in den Bürgerkrankenhäusern ein Denkmal in Form einer Spitalkapelle.

    Es lag in der Natur der Sache, daß die Aufklärung kein Interesse an der Rauschwirkung der Drogen hatte - der Rausch ist etwas sich dem "nüchternen Verstand" entziehendes, ist Metaphysik in Erscheinung und Wesen, gehört also in das geistige Umfeld Gottes, der Götter und der Religionen, von denen man sich gerade emanzipieren wollte. Vernunft hieß das Universallösungsmittel der Zeit für alle Widersprüche, und da man noch nicht ohne Gott leben konnte, errichtete die französische Revolution auch einen Tempel für die Göttin der Vernunft. Bei ihren Ritualen gab es erstmals in der Geschichte der Religionen keine Drogen.

    Der Geist der Aufklärung ist immer noch der herrschende, in allen Gesellschaftsformen, die ihren geistigen Ursprung in Europa haben. Die Parole der französischen Revolution, "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" haben alle Ideologien auf ihre Fahnenstangen geschrieben, die sie einander gegenseitig um die Ohren schlagen und erst recht allen, die zu bezweifeln wagen, daß dem zweihundertjährigen Ziel wirklich nähermarschiert worden sei. Und als Krönung und zusammenhaltender Schlußstein all dieser Gedankengebäude dient die These, daß der Mensch vom Tier sich nur durch die Vernunft unterscheide und daß nur die Vernunft allen Gute in der Welt bewirkt habe und bewirken werde. Amen.

    Beim Rauscheffekt der Drogen behalf sich diese Denkart lange mit dem Mittel der Verdrängung - der Rausch war weder erwähnens- noch untersuchenswert.

    Es galt als eine Angelegenheit der "unteren Klassen", und dort blieb auch ein Rest seiner Heiligkeit: immer noch verzeiht man dem Betrunkenen Dinge, die man dem Nüchternen nie durchgehen ließe. Die "besseren Stände" berauschten sich nicht, sie genossen höchntens "mit Maßen", und nur snobistische Künstlerzirkel wie der Pariser "Club des Haschischins" feierten die Droge des Rauscheffekts wegen. Die Gelehrten aber erhofften ernsthaft, mit dem doch wohl bald stattfinden müssenden Endsieg der Vernunft werde es in der Menschheit kein Rauschbedürfnis mehr geben, und bis dahin sei das ein notwendiges Übel, dem sich der "denkende Mensch" vernünftigerweise zu entziehen habe. In diesem Punkt waren sich Idealisten und Materialisten einig, auch Marx und Engels, und nur die bösen Anarchisten tanzten ein klein wenig aus der Reihe.

    Ein anderer Grund, warum die Rauschwirkung der Drogen keines wissenschaftlichen Interesses würdig war und der Rausch erst recht nicht, ist, daß jede Droge auf jeden Menschen anders wirkt, daß sie also den Kern der Persönlichkeit des Menschen trifft. Und die Persönlichkeit, die Individualität, ist eine verhältnismäßig junge Entdeckung in der Geschichte der Menschheit.

    Die Antike kannte sie nicht. Der Cäsar hatte als Statue auswechselbare Köpfe über dem stets gleichen Körper, und selbst die Köpfe waren Standard - Augustus wurde noch mit achtzig als Jugendlicher dargestellt. Der Cäsar war eine Institution, und die andere, der man zugestand, auffallen zu dürfen, der Künstler, war "ein Gefäß der Götter, durch dessen Wahn die Götter sprechen". Der Mensch war in ein Ordnungssystem eingegliedert, ein Faktor mit Familienleben, doch nie als Persönlichkeit gedacht. Auch das Mittelalter kam ohne Familienleben aus. Gott und Kaiser waren die irdischen Stellvertreter Gottes, und dann gab es die Stände. Kleine Rädchen in einem großen Getriebe, die nur das Profil des Zahnrades haben durften, aus funktionstechnischen Gründen.

    Die Entdeckung der Persönlichkeit besorgte zum Auftakt des Humanismus Niccolo Macchiavelli, der gleichzeitig das brillanteste Buch über den Zynismus des Herrschens schrieb. Beides tat er für Fürsten, und dementsprechend hatte nur der Fürst eine Persönlichkeit zu haben, nie jedoch der "gemeine Mensch". Ganz richtig erkannte der Vater der Staatswissenschaften: "Die Persönlichkeit unter dem Volk ist dem Herrscher nichts Erwünschenswertes. Sehr leicht könnte doch ein Untertan den Gedanken fassen, das Handwerk des Herrschens ebensogut, wenn nicht gar besser zu beherrschen als der geborene Fürst. Es wäre daher schädlich, die Untertanen als Einzelmenschen zu sehen und zu behandeln, da dieses sie auf nicht nützliche Gedanken bringen könnte."

    Das fürstliche Persönlichkeitsbeispiel bewirkte natürlich, daß sich fortan auch alle als Persönlichkeiten zu fühlen begannen, die von der Propagierung herrscherlicher Persönlichkeit lebten, also Hofbeamte, Künstler und Philosophen. Zunächst langsam aber stetig, dann wie bei der Inflation immer schneller, wuchs der Kreis derer, die für sich das Recht auf Persönlichkeit beanspruchten, bis mit der Aufklärung auch der "dritte" Stand, das Bürgertum, so gesehen werden wollte. Da dies nicht gnädig bewilligt wurde, kam es zur französischen Revolution mit ihren bekannten Parolen.

    Für den vierten Stand, die Arbeiter, galten sie nach wie vor nicht, und der Begriff Persönlichkeit erwies sich bald auch für das hochgeschwommene Bürgertum als problematisch. Wo wären denn die mühsam erkämpften Privilegien geblieben, wenn man sie mit allen Mitmenschen hätte teilen sollen? So gab es hinfort Persönlichkeiten und ein abstraktes Recht auf Individualität, also auf freie Entfaltung, das aber so wörtlich nicht genommen werden durfte. Denn dieses, so Hegel, "chaotische Bedürfnis des Menschen" schafft Probleme für die Gemeinschaft, sprich: den Staat.

    Marx kannte diesen Widerspruch zwischen humaner Forderung nach Individualität und den Strukturerfordernissen organisierter Gemeinschaft sehr wohl und sprach daher am liebsten von "der Masse" auch im Plural. Wenn er den Begriff Einzelmensch gebraucht, dann im Sinn eines einzelnen Sandkorns am Strand.

    Daher werden gläubige Marxisten in alle Ewigkeit alle, die das Wort Individualität allzuoft im Mund führen, als Anarchisten, Chaoten oder Spontis bezeichnen.

    Für die bürgerlichen Ideologien einschließlich der Sozialdemokratie war Individualität immer nur ein Wort, mit dem man als Bonbon Untertanen ködern kann und das in der politischen Praxis keinerlei Bedeutung hat. Zum Zwecke besserer Verwaltbarkeit wird der Mensch nach Typen geordnet und nach Rastern festgelegt. Da Elektronengehirne zwar leistungsfähiger aber noch primitiver sind als die von Beamten werden die Herrschafts-Schemas für den nicht so geordnet gebauten Menschen immmer unerträglicher, aber das System ist nicht zu ändern.

    Wir leben mit dieser Widersprüchlichkeit, erzogen zum Glauben an unsere Persönlichkeit und ganz anders behandelt. Helmut Schmidt blieb es vorbehalten, für die Angst des Staatsmanns vor der individuellen Masse das rechte Wort zu finden. Als 1969 die SPD mit der Parole "Mehr Demokratie wagen!" die Wahl gewonnen hatte und einige optimistische Reformer zu fordern wagten, der Staat solle seine Untertanen mehr als Menschen behandeln und mehr auf ihre persönlichen Belange eingehen, kläffte der damalige Finanzminister den schrecklichen Drohsatz: "Dann würde dieses Land ja unregierbar."

    Der Wort war neu, die Angst schon älter. Sie entstand unter den Gelehrten des Staates im letzten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts, als die Frage auftauchte, ob man mit dem "Kult der Persönlichkeit" nicht schon zu weit gegangen sei. Die alten Mächte hatten abgedankt. Gott war von Nietzsche persönlich totgesagt worden, der Kaiser ein blechernes Requisit mit Operettenuniform, und die wahren Herren schon damals (aber gerade erst an die Macht gekommen) die Herren der Banken und der Industrie. Die waren nicht gut herzeigbar, die hergezeigten Mächte aber offensichtlich nicht die wahren, und entdeckt wurde das abstrakte Staatsprinzip.

    In diesem Klima begann die wissenschaftliche Entdeckung der Persönlichkeit, über die bislang nur mehr oder minder schwärmerisch geredet wurde. Die Forschung begann an den Grenzen der Persönlichkeit und, soweit es sich um "Fälle" handelte, an den Grenzfällen. Gefragt war also nicht: wieviel Gesellschaft hält ein Mensch aus?, sondern: Wieviel Einzelmensch (= anders = eigen sein} hält die Gesellschaft aus? Das Ziel der Forschung war dabei durchaus, "Auswüchse" möglichst schmerzlos zu beseitigen.

    Sigmund Freud entdeckte, von ihren Störungen ausgehend, die menschliche Seele. Es mag lächerlich klingen: aber davor hielt man sie ja nach Schule für eine Art Blinddarm Gottes in uns oder für ein schlichtes Stoffwechselprodukt. Erst Freud entdeckte die bestimmende Kraft der Gefühle. Seiner Ausgangsposition entsprechend entdeckte er sie als Störfaktor, der allein seligmachenden Vernunft im Wege stehend und oft entgegengesetzt. Das mindert den Wert seiner Entdeckung nicht.

    Lewin entdeckte, und das klingt nicht weniger lächerlich, daß Gefühle durch Drogen beeinflußt werden können und manchmal auch erst hervorgerufen werden.

    Beides waren Neuentdeckungen, und daß sie als Tatsachen auch veröffentlicht wurden und nicht nur einem kleinen Kreis als Herrschaftswissen vorbehalten blieben, macht dem Staat heute noch zu schaffen. Denn erst dadurch wurde den Untertanen bewußt, daß sie nicht nur mit Vernunft leben, sondern auch mit Gefühlen und mit Drogen. Auch das klingt wieder lächerlich, doch überspitzt ausgedrückt ist es doch so, daß bis vor kurzem ja auch noch in der Schule gelehrt wurde: der Mensch lebt mit Vernunft, von Vernunft und durch Vernunft, und von Gefühlen (außer staatserhaltenden), Sex (außer zum Kinderkriegen) und Drogen (am besten auch von den erlaubten) solle er die Finger lassen. Habe er dennoch eines dieser unvernünftigen Dinge im Kopf, solle er sich gefälligst schämen und dies als Privatsache betrachten, da sie das Staatswohl nur störe.

    Wer lacht da? Fast ein Jahrhundert, nachdem Freud die Macht der Gefühle entdeckte und Lewin die der Drogen, vergatterte Helmut Schmidt sein gehorsames Partei- und Staatsvolk mit dem Tagesbefehl der Aufklärung vor zweihundert Jahren: "Gefühle sind nicht erlaubt. Hier gilt nur nüchterne, abwägende Vernunft!"

    Als große Entdeckungen des neunzehnten Jahrhunderts kann man, vom Menschen ausgehend, sehen: die politischer Gesetzmäßigkeiten durch Marx, die seelischer Funktionen durch Freud und die seelischer Beeinflussung durch Drogen von Lewin. Alle drei Männer waren Juden deutscher Sprache, und das ist wohl kein Zufall. Auch Lewins Leben ist ein bezeichnendes Kapitel deutscher Geschichte.

    Geboren wurde er als Levi Levinstein 1848 in Leipzig, als dort gerade im Rahmen des mißlungenen Revolutionsversuches deutscher Bürger Richard Wagner auf die Barrikaden ging. Sein Vater war ein alteingesessener Kaufmann der Messestadt und gehörte zu jener ersten Generation von Juden, denen der Besuch der Lateinschule erlaubt worden war. Der Zugang zu den Bildungsstätten wurde für Juden der Gradmesser ihrer Emanzipation, und es war selbstverständlich, daß es auch da die Söhne besser haben sollten als die Väter. Der Leistungsdruck auf den Jungen muß ungeheuer gewesen sein: mit nicht einmal sechzehn machte er als Jüngster seines Jahrgangs das Abitur (mit Auszeichnung) und inskribierte sofort an der seit 1848 auch Juden zugänglichen Universität Medizin.

    Für den deutsch-französischen Krieg 1870/71 meldete er sich wie alle emanzipierten Juden "selbstverständlich freiwillig". Er wurde der Sanität zugeteilt und lernte dabei vor allem den Umgang mit der wichtigsten medizinischen Errungenschaft der Zeit, oder Morphiumspritze. Wenn die Zeit an etwas noch mehr glaubte als daran, daß Gottes auserwähltes Volk nur die Deutschen seien, dann an den technischen Fortschritt. Sechzig Jahre zuvor war Morphin in die Medizin eingeführt worden, und immer noch waren alle Mediziner der Ansicht, daß dieser chemisch verfeinerte Stoff die "nachteilige Eigenschaft des Opium" nicht aufweise, süchtig zu machen. "Die fortschrittliche Verarbeitung schließt alle Fehler des natürlichen Opium aus", hieß es in einem Lehrbuch, und erst die massenhafte Anwendung dieses als Allheilmittel angesehenen Stoffes zeigte, daß dieser Fortschrittsglauben ein Irrtum war.

    Noch 1871 beobachtete der Stabsarzt Lohr "einen merkwürdigen Fall von Morphinhunger" bei einem Patienten, doch er ging der Sache nicht nach. Aufmerksam auf diese Wirkung von Morphin aber wurde der junge Sanitätsgefreite Levinstein, und als er 1874 summa cum laude zum Doktor der Medizin promoviert hatte, veröffentlichte er im "Journal für allgemeine Medizin" den Fall eines süchtig gewordenen Krankenwärters. Dabei fiel zum ersten Mal der Begriff "Morphimismus", eine neue Krankheitsbezeichnung.

    "Die Annahme eines im Morphium beruhenden Morphinismus ist einfach lächerlich und unwissenschaftlich", schrieb ein hochdekorierter Geheimnrat in einem Leserbrief. "Der Morphinismus ist, sollte diese Bezeichnung sich je einbürgern, eine auf der Charakterschwäche des Einzelnen beruhende Abnormalität, ähnlich wie der schwere Säufer ..." Man nahm den "Judenjungen" nicht ernst, obwohl nun (und wohl erst durch seinen Anstoß) immer mehr Suchtfälle bekannt wurden. Die Droge blieb frei erhältlich.

    Der auch in Fachblättern immer wieder auftauchende Begriff "Judenjunge" muß den Juden Levinstein entscheidend verstört haben. Er empfand sein Jude-Sein als Hemmnis seiner Karriere, und 1876 trat er aus dem Judentum aus und ließ sich taufen. Nur die Wahl seines neuen Namens blieb eine winzig kleine Protestgeste. Er nahm keinen bieder-deutschen, sondern einen anrüchig-französischen. Von 1876 an nannte er sich Louis Lewin.

    Die nächsten Jahre arbeitete er besessen daran zu beweisen, daß Morphin süchtig macht, und 1879 veröffentlichte er ein Memorandum mit der Beschreibung von 110 Fällen. Das hatte eine Anfrage im Reichstag zur Folge aber sonst nichts. Immerhin wurde in Sachsen den Ärzten Vorsicht bei allzu reichlichen Morphiumgaben empfohlen. Daß Drogen aber nicht nur das körperliche Empfinden, sondern das Seelenleben beeinflussen, wollte die Fachwelt dem Lewin noch lange nicht glauben, zumal der Begriff "Gemüt" ja noch ein sehr vager war.

    Von 1891 an arbeitete Lewin an der medizinischen Fakultät in Leipzig als Dozent der Pharmazeutik. Allmählich wurde er bekannt, zuerst im Ausland, dann auch im deutschen Reich. Die Krönung seiner wissenschaftlichen Arbeit war für ihn selbst, daß ihm 1906 der erste Lehrstuhl für Toxikologie in der Wissenschaftsgeschichte eingerichtet wurde. Lewin wurde der Begründer der "Giftwissenschaft".

    Lewins wissenschaftliche Methoden können von heutigen Forschern getrost belächelt werden. Die Toxikologie steckte ja in den Kinderschuhen, und diesem Alter entsprechend wurde alles erst einmal in den Mund gesteckt. Lewin konnte von Glück sprechen, daß er einige Male nur mit schweren Vergiftungserscheinungen davonkam, und seine zahlreichen Irrtümer sind offensichtlich.

    Er war auch nicht frei von einer oft rührend menschlichen Eitelkeit. Man lese nur die Fußnote auf Seite 136. wie er sich da aufplustert, daß Andere wagen, einen anderen Begriff für eine Sache zu finden, die er schon getauft hat. Die Empörung half nicht - der Peyotl heißt heute wissenschaftlich Lophophora williamnsii, und keine Droge trägt Lewins Namen.

    Lewins Ehrgeiz war, alles über alle Drogen der Welt zu erfahren. Alle Forschungsreisenden Europas bombadierte er mit Briefen, doch bitte auf ihren Touren daran zu denken, ihm was mitzubringen und alle Drogengewohnheiten genau zu beobachten. In seiner Wohnung in der Leipziger Augustastraße hortete er schließlich über 20.000 Drogenpräparate, die er alle versucht hatte. Seine Kenntnis der Länder aber, aus denen sie stammten, war rein akademisch. Er reiste (körperlich) nur ungern. Außer Ausflügen zu Kongressen in London, Paris, Prag und Wien sind keine Auslandsreisen bekannt.

    Er war scbon ein alter Herr, der mehr als 500 wissenschaftliche Beiträge veröffentlicht hatte, als er auf den Gedanken kam, daß sein Wissen nicht nur die Fachwelt interessieren könne So begann er, zwei gewichtige Bücher "für Ärzte und Nichtärzte" zu schreiben. 1920, als er "emeritierte", also in Pension ging, erschienen "Die Gifte in der Weltgeschichte", 1924 die "Phantastica". Beide wurden im Rahmen ihrer Zeit Bestseller, und Lewin kann nicht nur als Begründer der Toxikologie gelten, sondern auch als ein Pionier des Sachbuchs.

    Wer die "Phantastica" heute als ein Buch liest, aus dem er Tips empfangen möchte, möge dies mit Vorsicht tun. Nicht jeder hat die robuste Konstitution des alten Herrn, außerdem unterliefen ihm zahlreiche Irrtümer und Fehler. Seine Fachausdrücke sind sehr oft fünfzig Jahre nach Erscheinen des Buches so veraltet wie die Sprache Marco Polos. Als Reiseempfehlung ist das Buch kaum tauglich.

    Man darf auch nicht vergessen, wes Geistes Kind er war. Für ihn waren die Drogen ein Hemmnis auf dem klaren Weg zur reinen Vernunft. Als Ahnherrn der Drogenfreaks kann ihn niemand reklamieren. Er mochte sie allesamt nicht, und so bleibt zu bewundern, wie vorurteilslos er sich mit ihnen auseinandersetzte, trotz seiner Grundansicht.

    Das meiste, was später über Drogen geschrieben wurde, wurde von Lewin abgeschrieben, und seine Irrtümer zeugten Kinder und Kindeskinder. Daß sein Name nur selten in Bibliographien und Quellenverzeichnissen auftaucht, mag an der Eitelkeit seiner Abbschreiber liegen, lieber den Eindruck erwecken zu wollen eine Sache "selbst herausgefunden" zu haben. Aber auch Lewin war nicht frei von ihr, und dieser eminent belesene, eminent gebildete Herr hatte einen seltsamen Zug von Zurückhaltung bei Quellenangaben.

    Was leider allen späteren Büchern über Drogen fehlt, ist der behutsame Weitblick bei der politischen Beurteilung von Drogen. Immer wieder schreibt er, daß für die aus Drogen entstehenden Probleme "ganz andere Kräfte als nur die Polizei" zuständig sein sollten. Er protestiert erbittert dagegen, daß "Juristen noch immer nicht gewillt sind, dem Mediziner Fassung, sachliche Begründung und Lösung medizinischer Probleme zu Überlassen, die eine Beziehung des Individuums zur öffentlichen Ordnung haben". Er setzte sich mit diesen Ansichten ebensowenig durch wie mit seiner Namensgebung für den Peyotl.

    Lewin zu einer Art Vorkämpfer einer "Legalize"-Bewegung stilisieren zu wollen, hieße ihn verkennen. Was der alte Herr wollte und aus der gesamten Schatzkiste seines Fachverstandes begründen konnte, war eine Entkriminalisierung von Drogenopfern. Über derlei nachzudenken, ließ sich der deutsche Gesetzgeber nicht zumuten, und wohl erst recht nicht, da der Vorschlag von einem Juden kam. Im Ausland begann man im letzten Jahrzehnt die ein halbes Jahrhundert alten Anregumngemn Lewins allmählich zu bedenken. In Deutschland halten sich immer noch juristische Ministerialreferenten für die Alleinzuständigen bei Fragen der "Volksgesundheit". Dementsprechend sieht es hierzulande aus. Alle bisherigen Rauschmittelgesetze haben sich zur Lösung von Drogenproblemen noch weniger geeignet als ein Igel zum Arschauswischen. Das aber war für Bonn nur ein Grund, zum 50-jährigen Jubiläum des Opium-Gesetzes von 1929 ein nach Unterabschnitten multipliziert dümmmeres ausarbeiten zu lassen.

    1927, als die zweite Auflage seiner "Phantastica" erschien, ließ er in seiner Wohnung zusätzliche Fensterscheiben einbauen, "um den Krach auf der Straße nicht mehr hören zu müssen". Draußen rüsteten sich die Nazis bereits zur Machtübernahme und grölten "Deutschland erwache" und "Juda verrecke". Für ihn selbst mag diese Verdrängungslösung hilfreichh gewesen sein. Er war schon neunundsiebzig, und er starb als friedlicher, geehrter Herr mir einundachtzig, rechtzeitig vor der "Machtübernahme".

    l935 flogen seine Bücher mit auf den Scheiterhaufen, den die fröhlichen deutschen Studenten dem deutschen Geist errichtet hatten. "Gegen die Verführung zum Rauschgift und für die Reinheit der deutschen Seele", hieß der Begleittext zum Feuertod seiner Bücher. Nach der Reichskristallnacht wurde sein Grab auf dem Leipziger Zentralfriedhof zerstört. Es wird dem Toten nicht weh getan haben.

    Allerdings muß die Frage (wieder) gestellt werden, ob wir von dieser Nacht des geschriebenen Scheiterhaufens wirklich so weit entfernt sind, wie uns die Politiker erzählen, und ob wir nicht seine Wärme schon wieder spüren.

    Buchhandlungen und Bibliotheken sind schon wieder ein interessantes Aufgabengebiet für die Gedankenpolizei, die man nur allzuoft für eine Erfindung aus Orwells "1984" hält. Es gibt sie wieder, seit der obskure Begriff "Verherrlichung" in unsere freiheitlich-demokratischen Gesetze eindrang und der Paragraph des Grundgesetzes über freie Meinungsäußerung mit "übergesetzlichem Notstand" zum Spitzendeckchen gelöchert wurde.

    Wir haben schon wieder die Zensur (tunlichst gleich von den Autoren als freiwillige Selbstkontrolle zu betreiben), und die Einrichtung einer Reichsschrifttumskammer dürfte aus verwaltungstechnischen Gründen demnächst nötig werden.

    Natürlich werden Bücher nicht mehr verbrannt (oder höchstens von Rechtsradikalen). Das wäre zu offensichtlich, und wir haben ja auch nicht mehr die Todesstrafe. Sie werden "sichergestellt", als Gefahr für die öffentliche Ordnung. Vor nichts haben die Hrrscher des Volkes der Dichter und Denker mehr Angst als vor dem Wort. Gegen körperliche Bedrohung gibt es den Personenschutz schwerbewaffneter Leibwächter, gibt es Stacheldrahtverhaue, Sandsäcke und die Festung Bonn-Regierungsviertel. Das aber hilft nicht gegen das Wort und seine gefährlichste Folge, das Denken bei jenen, die es lesen. Da muß die Keule des Gesetzes her, möglichst das größte Kaliber.

    Zuerst war "Verherrlichung von Gewalt" dran, und seit den wilden Razzien blicken Buchhändler sorgenvoll auf ihre Regale. Demnächst wird die Verherrlichung in das BTM-Gesetz Einzug halten. Wo wird es weiter langgehen? Lebenslänglich für Bücher?

    Ich übertreibe nicht, denn die Generalprobe hat schon stattgefunden. In einigen Head-Shops und Verlagen erschien bereits die Polizei mit Beschlagnahmelisten. Traurig ist nur die Phantasielosigkeit, die den freiheitlich-demokratischen Büchersturm von dem der Nazizeit unterscheidet, denn der war ja wenigstens neu, vor allem in seinen Begründungen, die wirklich originelle Wortverdrehungen waren. Die BRD hat dem nichts entgegenzusetzen. Damals wie heute wird ein Buch über als "Verführung zu" denunziert, damals wie heute findet der Skandal unter Berufung auf ein "demnächst ohnedies geltendes Gesetz" statt, und damals wie heute geben die Beschlagnehmer die nach SS-Stiefeln riechende Begründung an: "Wir wollen mal herausfinden, wie weit wir gehen können."

    Meine persönliche Freude, die ich mir nicht verkneifen kann, ist, daß ich diesmal dabei bin. Mehr als ein Jahrzehnt nach seinem Erscheinen wurde in Hamburg das "Haschischkochbuch" beschlagnahmewürdig. Davor lag es auch in den Schaufenstern. Ich nehme das als nachmessbares Zeichen der Klimaveränderung.

    Auf diesen kalten Wind mit stärkeren Fensterscheiben zu reagieren, möchte ich höchstens jenen empfehlen, die hoffen dürfen, demnächst an Altersschwäche zu versterben. Wer sich aber die seit "Holocaust" immer wieder zu hörende Frage stellt, wie es nur hätte geschehen können, daß das Unfaßbare unbemerkt und unwidersprochen habe geschehen können, möge sich in seiner Umgebung umsehen. Weder der gute, deutsche Untertanengeist hat sich geändert noch die Hoffnung, es werden schlußendlich "schon nicht ganz so schlimm kommen".

    Nicht nur im Vergleich zu Marx und Freud ist Lewin ein großer Unbekannter. So gründlich wird einer nicht nur vergessen, weil seine Bücher verbrannt wurden. Der Grund ist, daß Lewin sich mit einem Gebiet befaßt hat, das weitgehend ein Tabu war und ist. Wer an die Möglichkeiten der Vernunft glaubt, ausschließlich oder nur mit psychologischen Einschränkungen, wird Drogen immer nur als Randthema betrachten und das Wissen um ihre Bedeutung zu verdrängen versuchen.

    Einen mühelos zu führenden Beweis liefert dafür auch die neue Linke der Bundesrepublik. Bei der DKP heißt es rigoros "Kommunisten kiffen nicht", als wäre mit dieser Absichtserklärung das Problem vom Tisch. Quer durch das gesamte Spektrum der dem Marxismus verpflichteten politischen Gruppen geht eine schöne Einmütigkeit der Verdrängung: diskutiert wird über Angelegenhleiten der Vernunft, der eigene, oft beträchtliche Drogenkonsum (von Alkohol angefangen) ist "Privatsache" des einzehnen Mitglieds und keine politische Arbeitsgruppe wert. Auf der anderen Seite gibt es freischweifende Gruppen von "Legalize"- und "Inhale"-Vertretern" die es ebenso konsequent ablehnen, sich auch nur mit dem politischen Stellenwert von Drogen auseinanderzusetzen.

    Der ehrwürdige Geist der Aufklärung herrscht immer noch und überall ungebrochen. Und als Gesetzgeber aller Ideologien erlaubt er nur zwei Möglichkeiten: entweder Vernunft und politische Veränderung (über die Ewigglücklichen des Bestehenden ist hier nicht zu reden) oder das Privatissimum der Drogen.

    Gibt es wirklich nur das? Wer sich selbst und andere Menschen geduldig beobachtet, wird in sich drei Mächte erkennen: die rationale der Vernunft, die irrationale des Gefühls und die magische irgendeiner Droge. Sie haben alle drei immer miteinander zu tun, vom Biertischpolitiker und neurotischen "Macher" angefangen. Gefühl und Vernunft haben wir, nicht immer leichten Herzens, als Tatsachen akzeptieren gelernt, die nicht zu berücksichtigen verhängnisvoll sind. Zu Drogen fehlt noch immer jede ehrliche Schweise. Sie werden in den Himmel gelobt oder in die Hölle verdammt, nicht vorurteilslos gesehen.

    Vom Begründer der Drogenwissenschaft und seiner trotz aller Vorurteile offenen und menschlichen Sehweise ist auch in dieser Hinsicht einiges zu lernen.

    Hans-Georg Behr

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