Inhalt
1 Einleitung
2 Theorie
2.1 Die APO
2.2 Die RAF
2.3 Die Ideologie
2.4 Die Auswirkungen
2.5 Eine Terroristenbiographie: Das Beispiel Gudrun Ensslin
2.6 Soziologische Analyse terroristischer Karrieren
2.6.1 Soziale Herkunft
2.6.2 Bildungsniveau und Beruf
2.6.3 Interessen und Fähigkeiten
2.6.4 Soziale Umgebung
2.7 Die Sozialisation von Terroristen
2.7.1 Die Frühphase terroristischer Karrieren
2.7.2 Weitere Verläufe der unpolitischen Vorphase
2.7.3 Die Sozialisation in der Gruppe
2.7.4 Isolation der Gruppe mit gleichzeitig steigendem Gruppendruck
2.7.5 Die Gruppenmoral
3
3 Der Film "Die Zweite Heimat"
3.1 Der Freundeskreis
3.1.1 Wo ist die "Zweite Heimat"?
3.1.2 Suche nach der zweiten Heimat
3.2 Helga Aufschrey - Eine Biographie
3.3 Die Gruppe - der Fuchsbaukreis
3.4 Die Entwicklung der Gruppe
3.5 Helgas Entwicklung zwischen 1960 - 1967
3.5.1 Helga und der Fuchsbaukreis
3.5.2 Helgas politische Grundhaltung
3.5.3 Entfremdung
3.5.4 Die Krawalle in München
3.5.5 Helga und ihre Eltern
3.5.6 Kampf und Ohnmacht
3.5.7 Die Gruppe verändert sich
3.5.8 Konfrontation mit der Realität
3.5.9 Helgas Selbstmordversuch
3.5.10 Helgas Veränderung
3.5.11 Sadismus - Masochismus
3.5.12 Politische Aktivitäten
3.5.13 Helgas Kind
3.5.14 Abrechnung mit den Freunden
3.6 Helgas Entwicklung von 1967 bis 1970
3.7 Vergleiche
3.7.1 Helga - Gudrun Ensslin
3.7.2 Soziologische Analyse - Helga
3.7.3 Helga - Sozialisation von Terroristen
3.7.4 Zusammenfassung
3.8 Der Autor...
3.8.1 ...und die Clique
3.8.2 ...und die 68er -Bewegung
4 Schlußwort
5 LITERATURVERZEICHNIS 7
Der dreizehnteilige Fernsehfilm "Die Zweite Heimat" von Edgar Reitz spielt in den Jahren von 1959 bis 1970. Er erzählt die Geschichte einer Clique von Studenten. Mitten in diesen Zeitraum fallen die Ereignisse der Studentenbewegung in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre. Im Folgenden wird untersucht werden, wie Edgar Reitz die gesellschaftlichen Veränderungen und die individuellen Entwicklungen von Personen dieser Generation in seinem Film dargestellt hat. Der Werdegang einer Zentralfigur, die stellvertretend für die erste Generation der Linksterroristen steht, wird auf ihre Authentizität hin analysiert.
Da die historischen Fakten und Hintergründe dieser Zeit wenig bekannt sind, ihre Auswirkungen die heutige Gesellschaft aber stark verändert haben, ist der Arbeit eine umfassende Abhandlung der Ereignisse von den frühen Studentenrevolten bis zur Baader -Meinhof -Gruppe vorangestellt.
Des weiteren dienen soziologische Studien als Untersuchungsmaterial, um den Vergleich zwischen der filmischen Handlung und ihrer Glaubwürdigkeit und Wahrhaftigkeit ziehen zu können.
Im Jahr 1966 bilden die SPD und die CDU eine große Koalition, mit der sie hoffen, für wichtig gehaltene Änderungen des Grundgesetzes durchsetzen zu können und so eine noch weitergehende Stabilisierung der deutschen Wirtschaft und damit der Gesellschaft zu erreichen.
Der sich an deutschen Universitäten schon regende Protest gegen verkrustete und undemokratische Strukturen sieht in der oppositionsfreien Regierung eine zusätzliche Bestätigung für die Demokratiefeindlichkeit der herrschenden Klasse.
Der von den Amerikanern grausam geführte Vietnamkrieg und die sich mehrenden rechten Diktaturen in der Dritten Welt führen dazu, daß die protestierende Jugend sich zunehmend marxistisch -maoistischem Gedankengut zuwendet.
In dieser Phase zunehmender Unzufriedenheit und Unruhe an den Universitäten formiert sich der studentische Protest in Organisationen wie dem SDSSozialistischer Deutscher Studentenbund), der "Subversiven Aktion"(Berlin), der "Arbeits-gemeinschaft Sozialistische Opposition"Marburg). Auch die in München und Berlin gegründeten Kommunen stellen eine von der bürgerlichen Welt als besonders provokant empfundene Form des Protestes dar.
Allen voran in der Radikalität der Flugblätter gingen die Berliner Kommunarden Rainer Langhans und Fritz Teufel, die zu den Gründungsmitgliedern der Kommune1 gehörten.
Nach einem am 22. Mai in einem Brüsseler Kaufhausausgebrochenen Großfeuer, bei dem 253 Menschen ums Leben kamen, schrieben sie in Flugblättern:Ein brennendes Kaufhaus mit brennenden Menschen vermittelt zum ersten mal in einer europäischen Großstadt jenes knisternde Vietnamgefühldabeigewesen zu sein und mitzubrennen), das wir in Berlin noch vermissen mußten.[...][2. Flugblatt]
Wann brennen endlich deutsche Kaufhäuser? [...] Ab heute geht er (der saturierte Bürger) in die Konfektionsabteilung von KaDeWe, Erriet, Woolworth, Bilka oder Neckermann und zündet sich diskret eine Zigarette in der Umkleidekabine an [...][3. Flugblatt]
Langhans und Teufel werden am 22. März 68 vom Vorwurf der Anstiftung freigesprochen, das Flugblatt als Satire, als literarisches Zeugnis zum Zwecke der Schockierung gewertet.
Es gab jedoch auch welche, die das Flugblatt ernst nahmen. Schon im Februar 68 hatten Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Thorwald Proll und Horst Söhnlein als Reaktion auf einen Aufruf Dutschkes auf dem Vietnam - KongressFebruar 68 den "2. Juni" gegründet. Dutschke hatte aufgefordert,
... kühn und entschlossen [...] die Widersprüche zu vertiefen und zu politisieren, Aktionen zu wagen, kühn und allseitig die Initiative der Massen zu entfalten, [um den] Viet -Cong glaubhaft zu unterstützen.
Den Zweiten Juni hatte dieser Urkern der späteren RAF als Namen für ihren "Deutschen Cong" gewählt, weil dies der Tag gewesen war, an dem erstmalig die bis dahin weitestgehend auf Berlin beschränkten Protestkundgebungen auf das gesamte Bundesgebiet übergriffen. Während einer Demonstration anläßlich des Besuches des persischen Schahs wurde der Student Benno Ohnesorg hinterrücks von einem Berliner Polizeibeamten erschossen.
Am 2. April begeben sich Baader, Ensslin, Proll und Söhnlein nach Frankfurt. Dort deponieren sie kurz vor Ladenschluß insgesamt vier selbstgebastelte Sprengsätze in den Kaufhäusern "Schneider" und "Kaufhof". Die Brandsätze detonieren wie vorgesehen, richten jedoch nur geringen Sachschaden an, weil die Brände schnell entdeckt werden. Die Täter werden schon am nächsten Tag verhaftet, wahrscheinlich weil der Lebensgefährte einer Freundin, bei der sie untergekommenen waren, sie verraten hatte. In dem später (31.10.68) in Frankfurt stattfindenden Prozeß sagen sie aus, sie hätten die Kaufhäuser angezündet, "um gegen die Gleichgültigkeit der Gesellschaft gegenüber den Morden in Vietnam zu protestieren."
Zu diesem Zeitpunkt distanzieren sich der vom Charisma Dutschkes getragene Berliner SDS sowie auch die mit dem kämpferischen Teil der außerparlamentarischen Opposition sympathisierende Journalistin Ulrike Meinhof von Gewalttaten dieser Art:
Es besteht die Gefahr der revolutionären Verdinglichung und der des Umschlagens von militantem Humanismus in verselbständigten Terror.
Gegengewalt läuft Gefahr Gewalt zu werden, wo die Brutalität der Polizei das Gesetz des Handelns bestimmt [...]
Rudi Dutschke, der bis zuletzt auf einer Unterscheidung zwischen Gewalt gegen Sachen und Personen bestanden hatte, wird am 24. Dezember 1967 erstmals selber das Opfer von Gewalt gegen Personen. Dutschke, gläubiger Christ und Besucher der Mitternachtsmesse in der Kaiser -Wilhelm -Gedächtniskirche, versucht einen Tumult zu verhindern, der entsteht, als einige Studenten mit Vietnam -Transparenten den Gottesdienst besuchen. Dutschke stürzt auf die Kanzel, um zu vermitteln, zu versöhnen, wird aber selbst unsanft aus der Kirche gedrängt. Draußen bringt ihm ein Mitchrist und Kriegsveteran mit Hilfe seiner Krücke eine Platzwunde am Schädel bei.
Dutschke, der Berliner Bevölkerung als "Rädelsführer" und Unruhestifter bereits verhaßt, soll schon bald erfahren, was es heißt, der "Volksfeind Nr.1" zu sein. Im Februar 68 zeigt Holger Meins, späteres Mitglied der RAF, einen Film über die Herstellung von Molotow -Cocktails. Dessen letzte Einstellung: das Springer -Hochhaus. In der folgenden Nacht werden die Scheiben einiger Springer -Filialen eingeworfen. Springer reagiert mit einem Rachefeldzug in seinen Zeitungen, in denen der SDS mit der SA des dritten Reiches verglichen wird. Zusammen mit dem Gesicht Rudi Dutschkes titelt die Bildzeitung am 7. Februar:
Stoppt den Jungterror Jetzt!
Man darf über das, was zur Zeit geschieht, nicht einfach zur Tagesordnung übergehen. Und man darf auch nicht die ganze Dreckarbeit der Polizei und ihren Wasserwerfern überlassen.
Dieser Meinung wird auch der rechtsradikale Münchener Josef Bachmann: er kauft sich einen Revolver und reist am 11. April nach Berlin.
In der Zwischenzeit hat der von Dutschke mitorganisierte "Vietnam -Kongress" an der TU Berlin stattgefunden, hat Springer seine Hetzkampagne fortgesetzt und in den USA wird der Bürgerrechtler Martin Luther -King erschossen16.4.)
Die progromartige Stimmung in Berlin läuft auf ihren Höhepunkt zu, als am 21. Februar auf einer pro -amerikanischen Demonstration vor dem Schöneberger Rathaus in der Menge Schilder mit der Aufschrift "Volksfeind Nr. 1: Dutschke" und Dutschke und seine Bande RAUS!" zu lesen sind. Sprüche wie "Politische Feinde ins KZ" werden skandiert, als plötzlich zu hören ist: "Hier ist Dutschke!" Mit den Schreien "Hängt ihn auf!" , "Schlagt ihn tot!", "Kastriert das Judenschwein!" wird ein Dutschke unglücklicherweise Ähnlichsehender fast gelyncht. Nur mit knapper Not gelingt dem Opfer die Flucht in die Obhut der Polizei.
Am 11. April gelingt es dem Chefredakteur von stern tv, Wolfgang Venohr endlich, Dutschke vor seine Kamera zu bekommen. Das ist zu diesem Zeitpunkt nicht einfach, weil Dutschke wegen der permanenten Bedrohung häufig die Schlafstätte wechselt. Auf die Frage, ob er nicht manchmal Angst habe, "daß ihm einer übern Kopf schlägt", antwortet Dutschke:
Nicht Angst. Das kann passieren, aber Freunde passen mit auf. Normalerweise fahre ich nicht allein rum. Es kann natürlich irgendn Neurotiker mal ne Kurzschlußhandlung durchführen.
Wenige Stunden später findet Bachmann Dutschke in der Nähe des SDS -Zentrum am Kurfürstendamm. Mit den Worten "Du dreckiges Kommunistenschwein" feuert er dreimal seinen Revolver auf ihn ab.
Rudi Dutschke wird im Westend -Krankenhaus operiert. Die Ärzte kämpfen um sein Leben. Schnell hatte sich die Nachricht vom Attentat in Berlin verbreitet. Im SDS -Zentrum, vor dem inmitten eines Kreidekreises noch immer die Schuhe Rudi Dutschkes liegen, sammeln sich die Studenten. Es ist totenstill. Keine lauten Diskussionen, keine aufrührerischen Reden. Schweigen aus Wut und Verzweiflung. Eng gedrängt sitzt man zusammen. Einer berichtet, der SFB habe die Nachricht verbreitet, Rudi sei tot. Um 18.30 Uhr strahlt der Rundfunk die Nachricht aus, Dutschke sei am Leben. Seine Chancen stünden fünfzig zu fünfzig. Jetzt erst regen sich im SDS -Zentrum leise Diskussionen. Was tun? Demonstrieren? Den Verkehr in West -Berlin blockieren? Das Rathaus besetzen? Zum aktiven Widerstand aufrufen? Plötzlich ist allen klar, was man tun muß: gegen den Springer -Verlag demonstrieren, die Auslieferung der Zeitungen verhindern. Unter den Versammelten im SDS -Zentrum ist auch die Kolumnistin von "konkret", Ulrike Meinhof. Sie sagt kein Wort. Als alle aufbrechen, um zum Audimax der Technischen Universität zu gehen, ,wo eine ohnehin geplante Veranstaltung jetzt zu einem Forum des Protestes werden solle, schließt sie sich an. Der Saal ist überfüllt mit zweitausend ratlosen, bedrückten, verzweifelten Menschen. Einige weinen. Mit Rudi Dutschke ist eine Symbolfigur niedergeschossen worden, einer, den alle, über die verschiedenen Fraktionen hinweg, verehrt, geliebt haben. Es ist ein Anschlag auf sie selbst, auf alle, auf die gesamte außerparlamentarische Bewegung.
Jemand gibt bekannt, daß Springers Pressehaus an der Mauer in diesen Minuten mit Stacheldraht abgesichert werde. Gelächter brandete auf und einer vom SDS geht ans Mikrophon:
"Das Springer -Haus ist jetzt schon mit Stacheldraht umgeben. Springer erwartet also unsren Angriff. Was wird uns dort erwarten? Wir werden auf Polizeiketten stoßen. Die Polizei wird sich aber heute zurückhalten , weil sie ein schlechtes Gewissen hat . .."
Dieser Moment wird als die Geburtsstunde des Kampfes der Radikalen Linken gegen die Staatsmacht der BRD und die sie stützenden Institutionen wie die Geheimdienste und die konservative Presse, insbesondere des Springerverlages angesehen.
Dieses Attentat war eine Art Initialzündung für die studentischen Organisationen wie den SDS oder die "Subversiven Aktion"deren Mitbegründer Dutschke ist). Nach ihren bisher gemäßigten Aktionen gelingt nun der Sprung von der Theorie zur Praxis der Revolution.
In der darauffolgenden Nacht kommt es zu den schwersten Unruhen der Bundesrepublik seit dem Krieg. Unter anderem werden im Springer -Parkhaus Lieferwagen in Brand gesetzt und Redaktionsräume verwüstet, bei Krawallen in München sterben zwei Menschen.
Dutschke, der nach zwei Gehirnoperationen nie wieder ganz gesund wird, tritt von der politischen Bühne ab. Am 24. Dezember 1979 ertrinkt Dutschke wegen eines epileptischen Anfalls (einer der Spätfolgen des Attentats) in der Badewanne.
In der Zeitschrift "konkret" erscheint ein mit "Vom Protest zum Widerstand" überschriebener Aufsatz der Journalistin Ulrike Meinhof. Darin ist zu lesen:
Protest ist, wenn ich sage, das und das paßt mir nicht. Widerstand ist, wenn ich dafür sorge, daß das, was mir nicht paßt, nicht länger geschieht.
Nach den Osterfeiertagen findet im Bundestag eine Sondersitzung statt. Der SDS wird zwar nicht als "verfassungsfeindlich" verboten, jedoch in der Folge der Beobachtung des Verfassungsschutzes unterstellt. Die Debatte um die jetzt geplanten "Notstandsgesetze" beginnt. Diese werden am 30. Juni verabschiedet. Sie ermöglichen von nun an die Exekutivorgane wie Polizei, Bundesgrenzschutz und die Geheimdienste, im "Spannungs - oder Kriegsfall" unter Umgehung des Parlamentes aktiv zu werden.
Es kommt noch einmal zu heftigen Protesten. Demonstrationen arten zu Straßenschlachten aus, wie die als "Schlacht am Tegeler Weg" bekannte Auseinandersetzung zwischen der Polizei und Demonstranten. Anlaß ist ein Ehrengerichtsverfahren gegen Horst Mahler, dem Anwalt Baaders, wegen seiner Rolle bei den Anti -Springer -Demonstationen. Erstmalig werden hier auf einer Kundgebung mehr Polizisten als Demonstranten verletzt. Doch die Massenkundgebungen ebben allmählich ab, und der Kampf verlagert sich von der Straße auf den "Marsch durch die Institutionen". In dessen Zuge stellt die Studentenbewegung fast alle überkommenden Traditionen der Gesellschaft in Frage und sucht sie zu verändern.
Nur wenige kleine Gruppen radikalisieren sich weiter. In einem "Kampf gegen Sachen" heißt das Motto: "Mach kaputt, was Dich kaputt macht!".
Am 31. Oktober werden Gudrun Ensslin, Andreas Baader, Thorwald Proll und Horst Söhnlein wegen menschengefährdender Brandstiftung zu je drei Jahren Haft verurteilt. Schon im Juni des darauffolgenden Jahres erhalten sie Haftverschonung, bis über eine Revision entschieden worden ist. Im September wird die Revision, ein anschließend eingereichtes Gnadengesuch im Februar 69 abgelehnt. Baader und Ensslin kommen der Aufforderung, die Reststrafe von 22 Monaten anzutreten, nicht nach, Söhnlein stellt sich im Februar und Proll im November desselben Jahres. Andreas Baader gerät am 4. April in eine Verkehrskontrolle und wird verhaftet.
Für den 14. Mai erwirkt Rechtsanwalt Mahler eine "Ausführung" Andreas Baaders, um sich im Zentralinstitut für soziale Fragen mit der Journalistin zu treffen. Sie wollen ein gemeinsames Buch über "randständige Jugendliche" schreiben. In einer sorgfältig geplanten Aktion wird Baader freigeschossen und flieht. Am nächsten Tag kleben die ersten Fahndungsplakate mit dem Konterfei Ulrike Meinhofs und der Aufschrift
Mordversuch 10.000 Mark Belohnung
auf Berliner Litfaßsäulen. Am 22. Mai erscheint in der Untergrundzeitschrift "agit 883" die erste Öffentliche Erklärung der RAF unter dem Titel: "Die Rote Armee aufbauen".
Die Gründungsgruppe RAF, Baader, Ensslin, Mahler, Meinhof und acht weitere Mitglieder fliehen am 8. Juni nach Jordanien. Dort lassen sie sich von Mitgliedern der PLO sechs Wochen lang in "Guerillataktik" unterweisen.
Wenig bemüht, den kulturellen Unterschieden zwischen sich und den Arabern Rechnung zu tragen, kommt es bald zum Streit und die Ausbildung wird abgebrochen.
Zurück in Deutschland, beginnt die RAF ihre "Arbeit" zunächst mit der Geldbeschaffung. Zeitgleich werden drei Berliner Banken überfallen und ca. 220.000 DM erbeutet.
Am 8. Oktober werden Mahler, Brigitte Asdonk, Monika Berberich, Ingrid Schubert und Irene Goergens wegen des Verdachts auf Mitgliedschaft einer terroristischen Vereinigung verhaftet. Der Versuch der Festnahme von Proll und Grashof im Februar 71 scheitert. Am 18. Februar übernimmt die Bundesanwaltschaft die Ermittlungen gegen die RAF. Die zweite öffentliche Verlautbarung der Baader -Meinhof -Gruppe, als die sie nun auch bekannt ist, erscheint im April. In dieser wird erklärt, daß der bewaffnete Widerstand notwendig und richtig ist, um den "antiimperialistischen Kampf in den Metropolen" weiterführen zu können.
Astrid Proll, Schubert und Goergens werden im Mai vor dem Berliner Schwurgericht wegen der Teilnahme an der Baader -Befreiung zu sechs bzw. vier Jahren Haft verurteilt. Mahler wird vorerst freigesprochen, bleibt jedoch in Untersuchungshaft.
Die Polizei geht nun dazu über, bei Großfahndungen in ganzen Gebiete Deutschlands sämtliche Verkehrswege abzuriegeln. Bei einer solchen Aktion im Juli mit 3.000 Polizisten im Einsatz 71 wird Petra Schelm erschossen und Werner Hoppe verhaftet. In Hamburg wird bei einer ähnlichen Aktion, bei der eine Verdächtige verfolgt wird, ein Polizeibeamter erschossen. Es stellt sich heraus, das die Verdächtige unschuldig ist. Dennoch wird sie am nächsten Tag der Presse "polizeilich zwangsvorgeführt".
Mit der Verlegung von Astrid Proll in den "Toten Trakt" des Gefängnisses Köln -Ossendorf beginnt der Staat, Gefangene der RAF unter Isolationsfolter zu stellen. Die Gefangenen werden einem totalen Reizentzug (kein wechselndes Licht, keine Geräusche) ausgesetzt. Dies führt sehr schnell zu einer starken Irritation des Hormonhaushalts und damit zu starken psychischen Störungen bis zu wahnsinnsähnlichen Zuständen. Diese Haftbedingungen werden auch auf eine Mahnung der Gefangenenhilfsorganisation Amnesty International hin nicht geändert.
In der Folge begeht die RAF etliche Banküberfälle (ca. 500.000 Mark Beute) und Anschläge auf Justizgebäude, US -Einrichtungen, Polizeireviere, Rathäuser und Banken.
Am 28. Januar 1972 verabschiedet der Bundestag den sogenannten "Radikalenerlaß", in dessen Folge über 300.000 "Gesinnungsüberprüfungen" im Öffentlichen Dienst durchgeführt und zahlreiche Beamte entlassen werden. Zur Begründung äußert der nordrhein -westfälische Ministerpräsident KühnSPD):
Ulrike Meinhof als Lehrerin oder Andreas Baader bei der Polizei beschäftigt, das geht nicht.
Am 31. Mai 72 startet die bis dahin größte Fahndungsaktion der Polizei mit etwa 130.000 Beamten. Am ersten Juni werden Baader, Meins und Rapse in Frankfurt festgenommen. Ein Erpressungsversuch zur Freilassung der Gefangenen mit Hilfe einer Bombendrohung gegen die Frankfurter Bevölkerung zeitigt keinen Erfolg: in Frankfurt schließen an diesem Abend fast alle öffentlichen Einrichtungen.
Am 7. Juni wird Gudrun Ensslin in Hamburg, am 9. Brigitte Mohnhaupt und Bernhard Braun in Berlin, am 15. Ulrike Meinhof und Gerhard Müller in Hannover verhaftet. Mit Hilfe eines bei Meinhof gefundenen Adressenbuches werden zahlreiche Hausdurchsuchungen durchgeführt. Hierbei wird in Stuttgart ein britischer Handelsvertreter durch eine geschlossene Tür erschossen. Ein Verfahren gegen den Schützen wird später mit der Begründung, der Beamte habe sich "in Putativ -Notwehr"soviel wie: der Glaube an eine Notwehrsituation, (Anm. d. Verf.) befunden, abgelehnt.
Am 9. Juli werden Klaus Jünschke und Irmgard Möller in Offenbach verhaftet. Damit ist der gesamte Kern der "alten" RAF festgenommen. Bis zu diesem Zeitpunkt sind elf Menschen auf beiden Seiten der Auseinandersetzung Staat gegen Terroristen um ihr Leben gekommen.
Dennoch wird eine zum Bundesgrenzschutz gehörende Elitetruppe, die 176 Mann starke GSG 9, gegründet.
Die RAF -Gefangenen treten in den darauffolgenden Jahren immer wieder in Hungerstreik, um gegen die besonderen Haftbedingungen zu protestieren. Der BGH ordnet für die angeschlagene Ulrike Meinhof eine Gehirn -Szintigraphie an, um ihre Zurechnungsfähigkeit festzustellen. Nach zahlreichen öffentlichen Protesten wird der Antrag zurückgezogen. Im Januar 74 wird Monika Berberich verhandlungsunfähig erklärt, weil sie nach über drei Jahren immer wieder in stundenlang anhaltende Dämmerzustände verfiel. Der Prozeß gegen Katharina Hammerschmidt wird ebenfalls abgebrochen, da sie an Krebs erkrankt ist. 131 Ärzte stellen Strafantrag gegen die verantwortlichen Ärzte der Strafanstalt wegen versuchten Mordes. Unbedingt notwendige ärztliche Untersuchungen seien während der monatelangen Isolationshaft nicht durchgeführt worden. Auch Astrid Proll wird wegen akuter Kollapsgefahr aus der Haft entlassen.
In einem Spiegelinterview distanziert sich "Bommi" Baumann von der Bewegung 2.Juni von dem bewaffneten Widerstand, indem er fordert:
Schmeißt die Knarre weg, Genossen!
Im September erklärt auch Horst Mahler seinen Austritt aus der RAF mit den Worten, die RAF vertrete eine Position "utopischer Weltverbesserei". Die RAF läßt durch Monika Berberich feststellen, daß Mahler ein "dreckiger, bürgerlicher Chauvinist" sei, der nie eine wirkliche Rolle in ihrer "konkreten Politik" gespielt habe. Der Exkommunarde Dieter Kunzelmann hingegen lobt (ebenfalls aus dem Gefängnis heraus) die "beispielhafte Selbstkritik" Mahlers und dessen "solidarische Kritik an der sektiererischen Linie der RAF".
Am 9. November stirbt Holger Meins an den Folgen des Hungerstreiks.
Ein Kommando "Holger Meins" überfällt 24. April 75 die Botschaft der Bundesrepublik in Schweden, um die 26 wichtigsten Gefangenen freizupressen. Gegen Mitternacht explodiert offensichtlich ungeplant eine Bombe. Drei Botschaftsangehörige und ein Terrorist werden getötet. Ein Schwerverletzter wird trotz der Warnung schwedischer Ärzte nach der Festnahme mit vier weiteren Tätern in die Bundesrepublik geflogen, wo er zwei Wochen später verstirbt.
Am 9. Mai erhängt sich Ulrike Meinhof in ihrer Zelle. Es kommt zu zahlreichen Brandanschlägen im In - und Ausland.
Im April des Jahres 77 werden Schüsse auf den Dienstwagen des Generalbundesanwaltes Bubak abgegeben. Bubak, seine Frau und eine weitere Person sterben. Der Vorstandsvorsitzende Dresdener Bank wird im Juni bei einem Entführungsversuch erschossen. In Karlsruhe entdeckt man im August eine Raketenschußanlage mit Richtung auf das Gebäude der Bundesanwaltschaft. Ob die Anlage funktionieren sollte oder nicht, bleibt ungeklärt. Bei der Entführung des Arbeitgeberpräsidenten Schleyer im September werden sein Fahrer und drei Polizisten getötet. Der Staat unter Helmut Schmidt, der nun Bundeskanzler ist, geht nicht auf die Forderungen der Entführer ein, elf politische Gefangene freizulassen und sie mit jeweils 100.000 DM pro Person in ein Land ihrer Wahl ausreisen zu lassen.
Am 13. Oktober wird die Lufthansamaschine "Landshut" mit 89 Passagieren von Palma di Mallorca ins somalische Mogadischu entführt um der Forderung Nachdruck zu verleihen. Mit dem Einverständnis des somalischen Präsidenten wird die Maschine von der GSG 9 befreit. Drei der Entführer kommen ums Leben.
Um sieben Uhr früh des 19. Oktober werden Baader und Ensslin tot, Raspe sterbend und Irmgard Möller schwer verletzt in ihren Zellen gefunden. Um 14 Uhr erklärt Regierungssprecher Bölling im Namen der Bundesregierung und aller Parteien, die Ereignisse von Stammheim
"machen deutlich, daß Mitglieder einer terroristischen Vereinigung zur weiteren Verschärfung ihres fanatischen und mörderischen Kampfes gegen unseren Staat und seine Ordnung auch das Mittel der Selbstzerstörung eingesetzt haben."
Die Diskussion um die Todesumstände von Baader, Ensslin und Raspe dauern bis heute an. Am 19.10. teilt das RAF -Kommando "Siegfried Hausner" der dpa mit:
Wir haben nach 43 Tagen Hans Martin Schleyers korrupte Existenz beendet. Herr Schmidt, der in seinem Machtkalkül von Anfang an mit Schleyers Tod spekulierte, kann ihn [...] in Mülhausen abholen.
Die Polizei findet Schleyer an der angegebenen Stelle tot im Kofferraum eines PKWs.
Bundeskanzler Schmidt erklärt später vor dem Bundestag, die Forderung, die Inhaftierten freizulassen, sei abgelehnt worden, um die Fähigkeit des Staates zu sichern, seine Bürger zu schützen und ihr Vertrauen in die Schutzfunktion des Staates zu wahren.
Die Stimmung der deutschen Bevölkerung war in den fünfziger Jahren von zwei wesentlichen Faktoren bestimmt: Zum Ersten erfüllte viele Menschen eine unbestimmte Scham wegen der in der Nazi -Zeit begangenen Verbrechen. Diese wurden vor allem in den westlichen Sektoren durch eine gezielte, von den Amerikanern betriebene Aufklärungskampagne über die Vorkommnisse während des Dritten Reiches erreicht. Zum Zweiten gab es durch das sich schon zu Beginn der fünfziger Jahre ankündigende "Wirtschaftswunder" einen dieser "deutschen Scham" entgegengesetzten Gefühl. Man war stolz auf die Schaffenskraft des deutschen Volkes, das sich wieder einmal wie ein Phönix aus der Asche erhob.
Diese Faktoren zusammengenommen hatten eine insgesamt konservative, apolitische Stimmung entstehen lassen, die das Augenmerk weiter Teile der deutschen Bevölkerung einzig auf die zunehmend prosperierende Wirtschaft lenkte. Nach den harten Entbehrungen in den letzten Kriegsjahren und der ersten Zeit danach erschien den Menschen ohnehin kaum etwas erstrebenswerter, als ein großes Maß materieller Sicherheit. Politik überließ man gerne den Amerikanern, die in dieser Zeit das Image des großen Bruders der Deutschen bekamen. Und die Amerikaner, wie die anderen Alliierten wenig interessiert an einem Wierdererwachen deutschen politischen Selbstvertrauens, übernahmen diese einflußreiche Rolle gerne.
Doch zu Beginn der sechziger Jahre mehrten sich in der Presse die Stimmen, die ein mangelndes parlamentarisches Demokratieverständnis des Deutschen Bundestages beklagten. Dieser hatte sich in seinen Macht - und Verwaltungsmechanismen während der ersten zwei Legislaturperioden soweit eingespielt, daß die Bonner Politelite immer mehr dazu überging, auch wichtige Entscheidungen in kleinen, oft unterbesetzten Ausschüssen unter Ausschluß der Öffentlichkeit zu treffen. So wurde z.B. in einem geheimen "Sondergremium", das mit jeweils ein bis drei Mitgliedern der drei Parteien bestand, die "ins Vertrauen gezogen wurden", über umfangreiche Waffenlieferungen nach Israel entschieden. Die Zahl der Parlamentsitzungen in der gesamten dritten Legislaturperiode von 57 -61 lag unter der des Britischen Parlaments eines Jahres. Durch ein 1985 verhängtes Verbot von direkten Rundfunk - und Fernsehübertragungen aus dem Plenarsaal wurde die Möglichkeit der öffentlichen Kontrolle des Parlaments zusätzlich eingeschränkt.
Mit der Bildung der Großen Koalition 1966 fanden dann diese ersten leisen Proteste der Presse ein breiteres Echo. Daß im Bundestag der Haushaltsplan des Jahres 1969 mit einer Mehrheit von 17:4 Stimmen durchgebracht wurde, obwohl das Parlament aus 519 Abgeordneten bestand, zeigte der interessierten liberalen Öffentlichkeit deutlich, daß das System, das sie regierte, kaum mehr als ein Parlamentarisches zu bezeichnen war.
Der Staat hatte sich allmählich in einen technokratischen Machtapparat verwandelt, dessen innere Mechanismen seinen Bürgern verschlossen blieben. Der zunehmende Wohlstand führte dazu, daß auch die Grenzen zwischen den Klassen immer mehr verwischten.
Wer oder was der Staat war, wer oder was der Gegner im Kampf für eine Gesellschaft war, die nach innerer Veränderung strebt, wurde nicht mehr deutlich. Diese Entwicklung vollzog sich nicht nur in Deutschland, sondern auch in den anderen westlichen Demokratien wie den Vereinigten Staaten oder Frankreich.
Doch durch das aufgelöste Klassenverständnis und den materiellem Wohlstand war es nun nicht mehr die Arbeiterklasse, die sich gegen die verflochtenen Machtstrukturen auflehnte, sondern die Studentenschaft. Es bedurfte eines gewissen intellektuellen Schauens, um die unter der glatten, satten Oberfläche liegenden Mißstände zu erkennen. Hier machte sich (getragen vor allem von Vertretern der französischen Existenzphilosophie) die Erkenntnis breit, daß die modernen Industriestaaten "atomisierte Gesellschaften seien, die in geistiger Öde erstickten". Die Freiheit der Demokratie sei eine Freiheit, die sich vor allem in der Auswahl von Waschmitteln und der gelegentlichen Abgabe eines Stimmzettels erschöpfe: eine sinnentleerte Welt, gegen die zu protestieren Gefühl und Verstand gebieterisch verlangten. Der eigentliche Machtapparat, die Machtelite, verhülle sich in einem demokratischen Rauchvorhang, der aus einer Manipulation der Massenmedien bestehe.
So war der Gegner der radikalen intellektuellen Linken definiert als ein System, das sich selbst Zweck war und alle Machtmittel, die ihm zur Verfügung standen, dazu benutzte, diesen stabilen Zustand einer autoritären Oligarchie zu erhalten.
Entscheidende Reibungspunkte waren für die Studentenschaft die sexuelle Verklemmtheit, die Unbeweglichkeit bürgerlichen Kunstverständnisses, die mittelalterlichen Universitätsstrukturen, die Forcierung innenpolitischer Kontrollmechanismen durch die Notstandsgesetze, die Wiederaufrüstung Deutschlands und vor allem die Ausbeutung der Dritten Welt. All dies waren die eindeutigen Indizien für die Repressivität und Unfreiheit einer Gesellschaft, in der ein Leben kaum lebenswert sein konnte.
Daß es Schriften von Marx, Rosa Luxemburg und später von Horkheimer, Marcuse und Bloch waren, die das theoretische Rüstzeug für das Revolutionsverständnis der linken Studentenbewegung lieferten, war kein Zufall. Hier fand sich jenes anarchistische Gedankengut, welches, zumindest theoretisch, den Weg aufzeigte, wie eine vom Autoritären befreite Gesellschaft der Freiheit aussehen könnte. Vor allem Marx zeigte auf, daß bei der Ablösung einer Gesellschaftsform durch eine andere kein Weg an der Revolution vorbeiführt. Daß auch Gewalt ein probates Mittel sei, da die bestehende Gesellschaftsform die geforderten Veränderungen nicht freiwillig zuließe, gefiel besonders. Auch der deutsche Staat war durchaus bereit, antiautoritäres Verhalten mit Gewalt zu beantworten. Dies hatte sich schon bei ersten Auseinandersetzungen wie den Münchener Krawallen 1962 oder der nicht genehmigten Demonstration anläßlich des Besuches des kongolesischen Ministerpräsidenten Tschombe in Berlin 1964 gezeigt.
Doch die Revolution scheiterte, da sie nicht auf größere Teile der Bevölkerung übergriff. Nur die wenigen, linksideologisierten Studenten empfanden ihre Notwendigkeit. Die breite Masse, aus oben schon geschilderten Gründen zufrieden mit dem nach der "Stunde Null" Erreichten, empfand die Proteste der Studentenbewegung und die später aus ihr hervorgegangenen terroristischen Vereinigungen nur als unliebsame Störung ihrer Ruhe und Sicherheit.
Das proletarische Klassenbewußtsein [...] erwies sich nach verbesserten Lebensbedingungen als wenig haltbar. Die Arbeiter verbürgerlichen in Staaten mit hohen sozialen Errungenschaften.[...] Der Mensch zerstört seine tradierten Normen nur unter der Voraussetzung des Verbessern -Könnens seiner Lage. Ist die Lage gut, auch nur scheinbar gut, will und wird er nichts riskieren.
Negative Folge der Studentenbewegung und der sich aus ihr abgeleiteten terroristischen Splittergruppen ist wohl bis heute die Potenzierung der innenpolitischen Kontrollmöglichkeiten, die der Staat für nötig hielt, um wieder Herr der Lage zu werden. Dies betrifft sowohl eine Aufrüstung des Polizeiapparates wie auch eine Erweiterung des von keiner demokratischen Instanz kontrollierten Betätigungsfeldes der Geheimdienstedaß dieser Prozeß durchaus noch nicht abgeschlossen ist, zeigt die aktuelle Diskussion um das Abhören von Telefonen).
Was der Protestgeneration jedoch mit Sicherheit gelungen ist, ist das Wiederbeleben einer politischen Diskussionskultur, die es seit der Weimarer Republik in Deutschland nicht mehr gegeben hatte. War die APO in den von ihr gesetzten Zielen gescheitert, so steht dem die geglückte Sensibilisierung einer breiten Masse für ihre Themen entgegen. In einer als gesellschaftlichen Lernprozeß zu bezeichnenden Entwicklung war der Konflikt der Klassengesellschaft, die Diskussion über antiautoritäre Erziehung, das Gefühl für die Amoralität und Skrupellosigkeit außen - wie innenpolitischer Ausbeutungs - und Unterdrückungspolitik und vor allem der Glaube an die Durchsetzbarkeit eigener Interessen gegen die des Systems erwacht.
Zunächst im Bereich der Rüstungs - und Friedenspolitik, später auch in anderen Fragen wie der der Atomkraft, formierten sich eine Vielzahl von Bürgerbewegungen, die bereit waren, aus eigenem Antrieb für Ihre Ziele zu kämpfen. Ein autonomes politisches Engagement dieser Art wäre in der Zeit vor der APO nicht denkbar gewesen. Vor allem nicht in einer sämtliche Schichten der Bevölkerung umfassenden Konstellation.
Mit dem Regierungsantritt der SPD/FDP -Koaliton im Jahre 69 festigte sich dieses Bedürfnis nach einer basisorientierten Demokratie. Die neue Regierung unter Willi Brandt stütze viele ihrer Reformansätze auf die Energien, Hoffnungen und Perspektiven, die durch die Außerparlamentarische Opposition geschaffen und freigesetzt wurden. So läßt sich abschließend feststellen, daß die deutsche Demokratie, wie wir sie heute kennen, nicht zuletzt von der "Protestgeneration" mitgeformt wurde.
Eine Terroristenbiographie: Das Beispiel Gudrun Ensslin
Gudrun Ensslin wurde am 15.8. 1940 in einem kleinen schwäbischen Dorf namens Bartolomae, in der Nähe von Stuttgart geboren. Sie war das vierte von insgesamt sieben Geschwistern. Ihre Eltern waren der evangelische Pfarrer Helmut Ensslin und Ilse Ensslin. Ihr Vater verbrachte seine Freizeit am liebsten malend - zumeist malte er sentimentale Portraits von seiner Familie, später aber auch abstraktes. Er war ein kleiner und hagerer Mann, zugleich streng und schüchtern, mürrisch und unsicher. Die Mutter hatte eine starke Persönlichkeit mit einem Hang zur Mystik.
Gudrun Ensslin wurde sehr stark von dem sozialen und politischen Gedankengut ihrer Eltern beeinflußt. Zuhause las man in den fünfziger Jahren die linke Kirchenzeitung "Stimme der Gemeinde", deren Herausgeber Martin Niemöller war. In diesem Blatt wurde Adenauers Westpolitik angegriffen, gegen die Wiederbewaffnung polemisiert und zum Ausgleich mit Moskau aufgerufen. So war auch Gudrun Ensslin schon sehr früh mit solchen Themen konfrontiert. Sie engagierte sich generell für soziale Probleme, besonders für die der Entwicklungsländer.
Nach der Grundschule besuchte sie das Gymnasium in Tuttlingen. Sie galt als eine begabte und aufgeschlossene Schülerin. In ihrer Freizeit ging sie mit dem Evangelischen Mädchenwerk auf Fahrt, wurde Gruppenführerin und leitete Bibelarbeit. Bis zu ihrem 22. Lebensjahr las sie die Zeitschrift "Rüste für den Tag" des Evangelischen Mädchenwerks. Zuhause wurde viel gesungen, Frau Ensslin spielte Klavier, einer der Brüder das Cello und Gudrun spielte die Geige. Sie war sehr ordentlich, fleißig in der Schule und half ihrer Mutter im Haushalt.
1958 ging Gudrun Ensslin für ein Jahr als Austauschsschülerin in die U.S.A. nach Pennsylvania, wo sie in einer Methodisten - Gemeinde lebte. Die Amerikaner waren begeistert von ihr: sie galt als klug, sozial engagiert, weltoffen, sprachgewandt und hübsch. Sie selbst erlebte die Amerikaner als sehr oberflächlich und apolitisch. Besonders hart empfand sie die sozialen und materiellen Ungerechtigkeiten in Amerika. Das praktizierte Christentum erschien ihr dort als sehr fragwürdig - in ihrem Tagebuch beschrieb sie den Kirchgang gleich einer Modenschau. Aufgrund ihrer Erziehung bedeutete für sie Christentum nicht nur in die Kirche zu gehen, sondern schloß auch politisches und soziales Handeln ein.
Als sie zurückkam war ihre Familie mittlerweile nach Stuttgart umgezogen. Sie beendete hier das Gymnasium 1960 mit dem Abitur. Während ihres letzten Schuljahres wurde sie mit einem Preis für ihr soziales Engagement in der Schüler - Mitverwaltung ausgezeichnet.
1960 nahm sie ihr Studium der Germanistik, Anglistik und Philosophie in Tübingen auf. Zwei Jahre später lernte sie den Studenten Bernhard Vesper kennen. Bernhard war der Sohn des Dichters Will Vesper, ehemaliges Mitglied der Reichsschriftskammer. Der Sohn lehnte den Vater politisch ab, war ein "Linker" und in der Anti - Atombomben - Bewegung tätig. 1962, im selben Jahr in dem sein Vater gestorben war, traf Bernhard Vesper Gudrun Ensslin. Die beiden machten eine gemeinsame Reise nach Spanien. Gudrun Ensslins Eltern waren von dieser Art von Beziehung ohne Trauschein nicht begeistert - ihr Vater setzte Vesper sogar mehrmals vor die Tür - wegen des "Kuppeleiparagraphens". Unter dem moralischen Druck seitens der Familie entschieden sich die beiden zur Verlobung. Bernhards Mutter erinnerte Gudrun in dieser Zeit als eine außergewöhnlich stille junge Frau, die an Bernhards Lippen hing, so "daß man glauben konnte, sie hätte keine eigene Meinung." Bernhard Vesper war sowohl intellektuell als auch mit seinen idealistischen Ansichten der Inbegriff für Gudrun Ensslin. Er konfrontierte sie mit Marx, Marcuse und Mao, den er sehr verehrte.
Die beiden gründeten einen kleinen Verlag, das "Studio Neue Literatur". 1964 gaben sie das Taschenbuch "Gegen den Tod. Stimmen deutscher Schriftsteller gegen die Atombombe", für das viele namhafte Schriftsteller wie z.B. Heinrich Böll Beiträge geschrieben hatten.
1965, nachdem Gudrun das Grundschullehrer - Examen abgelegt hatte, zog das Paar nach Berlin, wo sich Gudrun Ensslin in der Freien Universität einschrieb. Sie bewarb sich um ein Stipendium bei der "Studienstiftung des Deutschen Volkes". In ihrem Lebenslauf schrieb sie unter anderem
"....Schwerer wiegt sicherlich dagegen die Tatsache, daß junge Menschen eine leitende, zwingende Hand hinter sich spüren wollen und müssen, um nicht nur das zu tun, was sie gern tun, sondern um auch etwas zu tun, dessen Sinn erst viele Jahre später offenbar wird."
Sie erhielt das Stipendium jedoch erst im zweiten Anlauf.
In Berlin engagierten sich Vesper und Ensslin für den Wahlkampf der SPD. Ein Jahr später nach der Wahl folgte die Enttäuschung - die SPD ging die große Koalition ein. "Wir mußten erleben" ,sagte Gudrun später,
"daß die Führer der SPD selbst Gefangene des Systems waren, die politische Rücksichten nehmen mußten auf die wirtschaftlichen und außerparlamentarischen Mächte im Hintergrund."
So trat das junge Paar aus der SPD aus und in den SDS (Sozialistischer Deutscher Studentenbund) ein.
1966 unterschrieben die beiden eine Vertrag mit einem Verleger und zeugten ein Kind - das Wunschkind Felix, das im Mai 1967 zur Welt kam. Inmitten der allgemeinen Studentenbewegung entwickelten sich auch Vesper und Ensslin zu neuen Werten hin - in politischer wie auch gesellschaftlicher Hinsicht. Besonders Gudrun Ensslin war engagiert an Demonstrationen beteiligt. Kurz nach der Geburt ihres Sohnes wurde der Student Benno Ohnesorg während einer Demonstration gegen den Besuch des Schah von Persien erschossen. Auf der darauf folgenden Versammlung in der SDS - Zentrale weinte Gudrun Ensslin hemmungslos, schrie halb hysterisch:
"Dieser faschistische Staat ist darauf aus , uns alle zu töten. Wir müssen Widerstand organisieren, Gewalt kann nur mit Gewalt beantwortet werden. Dies ist die Generation von Auschwitz - mit denen kann man nicht argumentieren!"
Die Beziehung mit Bernhard Vesper zerbrach, und bald wurde ihr die Mutterschaft zur Last. Sie verläßt ihr Kind, das bis 1971 mit dem Vater zusammenlebt, dann - nach dessen Selbstmord - bei den Großeltern aufwächst.
1967 lernte Gudrun Ensslin Andreas Baader kennen, von dem sie tief beeindruckt war. Die beiden wurden ein Paar. Hier begann ihre terroristische Karriere, die anfing mit dem Kaufhausbrand in Frankfurt 1968 und endete mit ihrem Selbstmord 1977.
Gudrun Ensslin war mit Andreas Baader und Ulrike Meinhof Kopf der Baader - Meinhof - Gruppe, die verantwortlich war für eine Liste von verschiedenen Straftaten.
Wie sich Ensslin verändert hat in den Jahren im Untergrund, läßt sich schwer rekonstruieren. Man weiß, daß sie, früher bekannt für ihre Ordentlichkeit, sehr schlampig angezogen war und sich sehr vulgär und aggressiv ausdrückte. So wurde zum Beispiel jede Frau von ihr als "Fotze" bezeichnet. Sie hatte wie auch Andreas Baader ihr Kind verlassen. Dies rechtfertigte sie Ulrike Meinhof gegenüber damit, daß sie mit ihrer Vergangenheit vollständig brechen mußte. Sie vertrat eine neue Moral,
"die Moral der Revolutionäre, die einen Strich durch die eigene Herkunft machen und hinter sich alle Brücken verbrennen mußten. Deshalb sei Besitzlosigkeit und Illegalität für sie die einzige noch mögliche Lebensform."
Sie, die aus einem christlichen Elternhaus kam, brach mit den 10 Geboten und dem Glaubensbekenntnis und erklärte demonstrativ aus "Du sollst nicht töten" müsse in dieser Welt der Gewalt "Du mußt töten" werden. Der Psychiater Rethardt kam anläßlich eines Gesprächs mit Gudrun Ensslin, das er für ein gerichtliches Gutachten mit ihr führte, zu dem Ergebnis:
Sie hatte eine heroische Ungeduld. Sie leidet unter dem Ungenügen unserer Existenz. Sie wollte nicht mehr warten. Sie wollte in die Tat umsetzen, was sie letztlich im Pfarrhaus gehört hatte. Sie wollte den Nächsten en gros erfassen - gegen seinen Willen.
Gudrun Ensslin war ohne Frage sehr stark von der Persönlichkeit Andreas Baaders beeinflußt gewesen. Doch wieso sie sich im Endeffekt so entwickelte - warum aus dem Mädchen, das alle als so positiv empfanden, das sozial engagiert war für ihre Umwelt und das aus einem "guten", keineswegs oberflächlichen Elternhaus kam - warum sie zur Terroristen wurde, bleibt ein Geheimnis.
In dem folgenden Teil wird versucht sich dem Bild des Terroristen, anhand von einer soziologischen Analyse und einem Erklärungsansatz der Sozialisation, anzunähern.
Gedankliche Grundlage für diesen Ansatz ist die Annahme, daß terroristisches Handeln nur möglich ist,
wenn wir in ihm alles vorfinden, was zu einer funktionierenden sozialen Organisation gehört: Ziele, ein geistiges Konzept, das sowohl die Selbst - als auch die Umweltdefinition enthält, Interaktionspartner, Mittel, Erfolgserwartungen und für den einzelnen eine akzeptable Rolle.
Soziologische Analyse terroristischer Karrieren
In diesem ersten Teil wird versucht sich dem Thema Terrorismus durch die vorhandenen Ähnlichkeiten in terroristischen Biographien anzunähern.
Terroristen stammen vorwiegend aus begüterteren Familien, daß heißt aus einem überdurchschnittlichem gesellschaftlichen Herkunftsniveau. Diese Tatsache ist nicht nur an sich interessant, sondern läßt auch auf folgendes schließen:
1. Es werden relativ hohe Ansprüche an sich selbst und an die Umwelt gestellt.
2. Die Elterngeneration ist die der Nachkriegszeit, daß heißt die Generation die es nach einigen entbehrungsreichen Jahren zu Wohlstand gebracht hat und ihre Kinder entsprechend verwöhnt hat.
Diese Eltern konnten durchschnittlich die gesellschaftskritische Haltung ihrer Kinder nicht verstehen, da sie selber aus existenziellen Gründen nie politisch gedacht hatten. Für sie selber waren Wohlstand und Sicherheit die Prioritäten.
Linksterroristen haben analog ihrer Herkunft ein überdurchschnittliches Bildungsniveau. Annähernd jeder zweite hat das Abitur und zumeist auch die Hochschule besucht. Bevorzugte Studienfächer sind Soziologie, Psychologie, Philosophie und Sprachen. Auffällig oft wurde die Ausbildung , bzw. das Studium abgebrochen.
Wie oben schon erwähnt, beschäftigen sich Linksterroristen vorwiegend mit gesellschaftlichen Themen, Psychologie aber auch Politik, Musik, Reisen und Trampen, Philosophie und - eher passiv - mit Sport. Durchschnittlich werden Linksterroristen als interessante Gesprächspartner eingestuft., die über eine gewinnende Art verfügen. Die Intelligenz wird als normal bis überdurchschnittlich eingestuft. Dieses hauptsächlich von Beamten entworfene positive Bild der Terroristen zeugt von der Begabung zur motivierenden, persönlichen Kommunikationsfähigkeit, einer praktisch verfügbaren Intelligenz im Umgang mit Menschen,
also eine soziale Kompetenzstruktur, die für Rekrutierung und Organisation wesentlich ist.
Terroristen lebten ausschließlich in Großstädten mit großen Universitäten. Dies hatte mehrere Gründe: erstens waren alternative Lebens - und Denkformen möglich und zweitens gab es genügend junge Leute die sich in neue Gruppen hinein sozialisieren ließen. Man lebte vorwiegend in Kommunen. Dies bedeutete nicht nur eine bestimmte Form des Wohnens, sondern war gleichzeitig ein Stück gelebte Theorie. Die Kommune war der Ausdruck der Suche nach einem anderen Lebensstil, jenseits der überkommenen gesellschaftlichen Formen.
Die Sozialisation von Terroristen
Die Frühphase terroristischer Karrieren
Es existieren zwei verschiedene Verlaufsformen der Kindheit und Jugend
1. Äußerlich günstige Sozialisationsbedingungen, gekennzeichnet durch familiäre Spannungen
Wie schon beschrieben, stammen die meisten Terroristen aus recht wohlhabenden Elternhäusern. Auffällig häufig wird in mit Terroristen geführten Gesprächen der Erziehungsstil als autoritär und an Leistung, Lohn und Strafe geschildert. Oft wird der Vater als Machtfigur beschrieben, die beherrschend auf die ganze Familie wirkte. Kritisiert wird ,daß der Vater sich nicht auf politische Diskussionen einließ, das Thema abblockte. Emotionale Zuwendung und Spontaneität gab es nicht, konventionelle Verhaltensweisen beherrschten das familiäre Zusammenleben. Auffällig ist,
daß im Verhältnis der Generationen eine materiell eher verwöhnende Haltung mit Verständnislosigkeit und Entfremdung in den Fragen, die für die junge Generation ins Zentrum rückten, einherging, und daß Kontaktmangel, fehlende Gemeinsamkeit, Konventionalität und Strenge des Elternhauses vorherrschten.
2. Schlechte Sozialisationsbedingungen, zumeist in Unterschichtsfamilien
Diese zweite Gruppe ist eindeutig in der Minderheit - dennoch hatten auch einige Terroristen eine solche Vergangenheit. Kennzeichnend ist eine unvollständige Familiensituation, wechselnde Bezugspersonen, Abschiebung ins Heim, Mißhandlung und Ablehnung. Gerade diese späteren RAF - Angehörigen kompensierten ihre Vergangenheit in der Gruppe, vollzogen eine Art der "Nachsozialisation" und sahen das System als Ursache ihres Schicksals.
Weitere Verläufe der unpolitischen Vorphase
In einigen Fällen folgte nach einer unauffälligen Jugend in behüteten Verhältnissen mit Beginn des Studiums plötzlich der Bruch mit der Vergangenheit. Durch Kontakte zu Wohngemeinschaften und linksextremen Gruppen setzte ganz unvermittelt eine Phase der Politisierung und schnell auch der Radikalisierung ein. Diese Ablösung ist besonders abrupt, weil alles bis zu diesem Moment harmonisch und geregelt verlaufen war: die Beziehung zu den Eltern war gut, die Schulzeit verlief unproblematisch und der zukünftige Werdegang schien auch geregelt.
In anderen Fällen wurde die Parteinahme in elterlichen Konflikten erst zur Idenditätsfindung und schließlich als Ablösungmöglichkeit genutzt. Man distanzierte sich vom bürgerlichen Elternhaus.
Manche späteren Terroristen durchliefen vor ihrer Politisierung erst eine Phase der Antiposition, d.h. Antiposition nicht nur gegenüber der Familie , sondern auch gegenüber der Gesellschaft. Dies drückte sich vorrangig in ihrem Lebensstil aus: man lebte in Kommunen, die Langhaarmode war "in", man gab jegliche Tätigkeit auf, griff zum Joint oder Trip und lebte chaotisch vor sich hin.
Obwohl kein konkreter Zusammenhang zwischen der Frühphase und späterem terroristischen Handeln angenommen werden kann, ist davon auszugehen daß die Probleme und Erfahrungen der Frühentwicklung für den weiteren Verlauf nicht bedeutungslos sind. So wird die vordem als frustrierend und problematisch empfundene Situation sicher dazu beigetragen haben, nach Auswegen gesucht zu haben: aus der autoritären Familie in die antiautoritäre Bewegung, oder aus der Isolation in Gruppenzusammenhänge, etc.
Oftmals war die Abkehr von der Gesellschaft von den Personen Nahestehenden schon sehr viel früher erkennbar, zumeist vor jeglicher politischen Orientierung.
"Die Politisierung folgte hier dem inneren Bruch mit der Familie und der Ablösung von der durch sie repräsentierten bürgerlichen Welt erst später nach."
Die Sozialisation in der Gruppe
1. Die Kommune
Viele der späteren Terroristen lebten nach ihrer Ablösung vom Elternhaus und den in vielen Fällen zuvor vollzogenen Umzug in die Großstadt in Kommunen. Einer der Gründe hierfür war die empfundene Einsamkeit in der anonymen Masse und der Wunsch, mit anderen zusammenzuleben. Gleichzeitig war das Leben in Kommunen in den siebziger Jahren auch ein Stück Theorie, das heißt es fanden sich hier politisch und gesellschaftlich Gleichgesinnte.
Motive für das Leben in einer Kommune, bzw. das Leben in Gruppenbindungen:
¨
ein normaler Reifungsprozeß mit Gleichaltrigen wird vollzogen.¨
ein zuvor unzureichend gebliebener Sozialisationsprozeß wird nachgeholt. Die Gruppe wird als Familie erlebt, die frühere Mangelerlebnisse emotional abdeckt.¨
Kontaktschwierigkeiten werden durch die Gruppe und deren Akzeptanz erleichtert.¨
Unsicherheiten, Minderwertigkeitsgefühle und Depressionen werden durch nach außen gelenkte gemeinsame Ziele (z.B. Demonstrationen) überdeckt und lenken von der eigenen Problematik ab.¨
übersteigerte Bedürfnisse nach Beachtung können gedeckt werden.¨
traditionelle Lebensformen, wie zum Beispiel die Ehe können - nach Scheidung -in Frage gestellt worden sein.
2. Psychische Disposition für extreme Gruppierungen
Wie schon oben beschrieben litten viele der jungen Leute die in die Großstädte gezogen waren, an der Anonymität und Einsamkeit, an der Kälte in den Beziehungen zwischen den Menschen. Zudem wurde das Fehlen eines Lebenssinns empfunden, der über die rein materielle Bedürfnisbefriedigung hinausgeht.
Die Ablösung von Zuhause, eine Desorientierung bezüglich der Zukunft und eine gleichzeitig auftretende Idenditätssuche führten viele Studenten in Gruppenbindungen. Die Gruppe bildete Schutz, Geborgenheit, emotionale Versorgung und Zuwendung, die anderswo nicht zu erlangen war. Die Gruppe wurde als "Familie" empfunden, die
Befriedigung der unbewußten Bedürfnisse nach Regression, nach Aufgehen in einem größeren Organismus, dem Aufgeben eigener Verantwortung, Identität und Grenzen
verspricht. Gleichzeitig vermittelt die Gruppe das Gefühl der Allmacht, fängt angestaute Aggressionen auf, die aus dem eigenen Ohnmachtsgefühl entstanden sind.
Individuelle Probleme und Konflikte können unter bestimmten lebensgeschichtlichen Bedingungen offenbar nur durch die Gruppe gelöst werden: zum Beispiel die Angst vor Verlorenheit und Auflösung, die Angst vor der Übernahme von Verantwortung und die Angst vor der eigenen Ohnmacht und dem Triebdurchbruch.
Die Gruppe bietet sich als das psychische Auffangbecken für besonders labile Personen an. Aber nicht nur die seelische Komponente spielt eine Rolle, sondern gleichzeitig wird auch eine ideelle Gemeinsamkeit vermittelt, der Schutz vor Sanktionen beispielsweise seitens der Polizei, und ganze Lebensrezepte. All diese aufgeführten "Leistungen" einer Gruppe können aber gerade einen psychisch labilen und desorientierten Menschen in eine Abhängigkeit bringen, die Nährboden für spätere Entwicklungen innerhalb einer politisch motivierten und kleiner werdenden Gruppe sein kann.
Die Gruppe stellte für die meisten, die in den siebziger Jahren in Kommunen gelebt hatten, in erster Linie eine ausnehmend positive Erfahrung dar. Viele kamen aus einem autoritären und leistungsorientierten Elternhaus, in dem konventionelle Verhaltensformen herrschten. Sie erlebten innerhalb der Kommunen etwas ganz Neuartiges: Freiheit und Selbstverantwortung, die Veränderung menschlicher Beziehungen, die Auflösungen von Barrieren zwischen Menschen, Offenheit und Wärme. Sie erfuhren Solidarität, Liebe und Achtung ohne Konkurrenz und Ängste. Horst Mahler, RAF - Terrorist, hatte in einem Fernsehinterview beschrieben wie er zutiefst davon beeindruckt war,
zu sehen, erstens wie sich Menschen innerhalb kurzer Zeit grundlegend verändern können, ihre Beziehungen grundlegend anders gestalten, viel offener, viel freier, lockerer, daß man auch selbst an sich merkt, wie man sich verändert, und dann auch sieht, wie diese veränderten Menschen die Verhältnisse die Verhältnisse verändern.
Gerade dieser Gruppenwirkungen bediente sich auch die RAF, wie wir unten sehen werden.
Folgende These wird aufgestellt:
Mißerfolgserlebnisse als Vorläufer der späteren Abwendung von der Gesellschaft
Die soziologische Analyse ergab, wie wir oben gesehen haben, daß viele der späteren Terroristen Studienabbrecher waren. Viele hatten zudem nie Berufserfahrungen gesammelt. Zumeist war die Politisierung erst nach dem Studienabbruch eingetreten. Aus Furcht vor Mißerfolgen wurde ein Widerstand gegen leistungsbezogene zukunftsorientierte Tätigkeiten entwickelt. Daraufhin entstanden fehlende Zukunftsperspektiven und das Bedürfnis nach geistigen Inhalten. Die unausgefüllte Zeit konnte leicht mit politischen Zirkeln gefüllt werden. Hier bestand kein Leistungsdruck wie an der Universität, man mußte keine Mißerfolge befürchten. Der Anziehungsgrad der RAF bestand für Personen mit Anspruchsniveaukonflikt in den unrealistischen und überhöhten Zielsetzungen. Die Selbstgewißheit der Terroristen kompensierte ihre eigene Unsicherheit und wirkte damit gleichzeitig anziehend auf andere, gleichfalls unsichere Personen. Später veröffentlichte Selbstdarstellungen von Terroristen zeigten, daß der politischen Aktivität oftmals frustrierende Ereignisse vorausgingen. Statt der Veränderung der eigenen Person wurde die Veränderung der Verhältnisse in Angriff genommen.
Gerade Personen, die unausgefüllt waren und zu viel Zeit zur Verfügung hatten, offensichtlich ihr Leben nicht strukturieren konnten, fanden in terroristischen Gruppen die Organisation vor, die ihr Leben klar strukturierte, ihnen eine Rolle gab. Sie übernahmen geordnete Tätigkeiten, entwickelten Einsatzbereitschaft und erlernten durch die Beeinflussung von "Gesinnungsgenossen" ein vereinfachtes Weltbild, das ihnen half, sich zu orientieren. Die Integration in politischen Gruppen bot die Möglichkeit
aus der Situation des Versagens herauszukommen und völlig unabhängig von der Position der Gesellschaft Anerkennung zu finden.
Zusätzlich wurde durch die Bekanntschaft mit führenden und zum Teil bekannten Personen das eigene Selbstwertgefühl erhöht. Der Anschluß an radikale Gruppen gab der eigenen Person mehr an Bedeutung, denn man gestaltete durch die begangenen Taten die Weltgeschichte mit.
Isolation der Gruppe mit gleichzeitig steigendem Gruppendruck
Diese Organisationsstrukturen bedeuteten aber auch automatisch die Abgrenzung in eine kleinere Gruppe mit größerem Zusammenhalt, die sich klar von der Wohngemeinschaftschaotik absetzte. Normalerweise wird das Sozialverhalten durch differenzierte Beziehungen zu Einzelpersonen gekennzeichnet. So findet ein Austausch mit anders Denkenden statt, der eigene Meinungen verändern oder relativieren kann. Durch das extreme Zusammenleben mit Gleichgesinnten wird jegliche Möglichkeit zur Meinungsrelativierung zur Korrektur verhindert. Die Personen stehen im Vakuum der eigenen Gruppe, zu der sie sowieso schon eine Abhängigkeitsbeziehung aufgebaut haben. Gerade terroristische Gruppen benutzten diese psychische Abhängigkeit: wenn andere Meinungen in die Diskussion eingebracht wurden, wurde derjenige "bestraft". Eine aufrecht gehaltene abweichende Meinung bedeutete Trennung von der Gruppe und setzte den Betroffenen aufgrund seiner psychischen Abhängigkeit unter erheblichen seelischen Druck. Eine Indoktrination fand statt. Je kleiner der Kreis der Gruppenmitglieder, desto extremer war der Gruppendruck und die gleichzeitig stärker werdende Isolation nach außen. Ein scheinbar unlösbarer Kreislauf hatte für den einzelnen eingesetzt.
Alles, was die Gruppe ideologisch untermauern konnte wurde tabuisiert. Subjektive Inhalte im Gespräch wurden unter dem Aspekt der politischen Zielsetzung umgebogen, d.h. es gab keine Subjektive - keine Selbsterfahrung mehr. Sämtliche Beziehungen, auch sexuelle, wurden unter das politische Primat gestellt. Man mußte sich der Gruppe preisgeben - wurde dann aber auch wiederum von ihr aufgefangen.
Unterschiede zwischen den einzelnen Gruppenmitgliedern wurde durch eine Polarisation auf einen gemeinsamen Gegenstand, z.B. der gemeinsame Kampf gegen einen Gegner, nivelliert. Die Polarisation diente auch als Trennkriterium gegenüber andern sozialen Systemen. Die Abgrenzung gegenüber jeglicher ideologischer Einflüsse und Kritik von außen führte dazu, daß eine Auseinandersetzung und Meinungsbildung nicht mehr stattfinden konnte.
Die totale Abhängigkeit von der Gruppe, ihre Anpassungsrituale sowie die interne Rollenzuweisung und Arbeitsteilung führen zum Verlust eigener Identität. Äußere und innere Isolation bedingen einander.
Dieser Idenditätsverlust machte sich für frühere Freunde sehr stark deutlich, zum Teil konnten sie keinerlei Ähnlichkeit mehr mit der ihnen früher vertrauten Person feststellen.
Durch die allmähliche "Abschottung " nach außen konnte gleichzeitig ein Feindbild aufgebaut werden. Straftaten verbanden die einzelnen Gruppenmitglieder noch stärker - eine intensive emotionale Bindung unter den Mitgliedern wurde aufgebaut, die mit einer zunehmenden Feindseligkeit gegen Nicht -Zugehörige korrespondierte. Die klare Zuordnung von Feind/ Freund war ein wichtiges Sozialisationsergebnis.
Grundlage für die Schaffung einer Gruppenmoral war eine Vereinheitlichung der Wertorientierung und der Realitätsbeurteilung. Ein neues Normen - und Sinnsystem entwickelte sich, das eigentliche Wertvorstellungen von z.B. gut und böse verdrehen konnte und andere Wertorientierungen anbot. Auch dieses System schaffte Grenzen, Hemmungen und Rücksichten, aber nach eigener Moral. Gleichzeitig entstanden rigide Kontrollmechanismen zur Absicherung des eigenen Normensystems. Das Verbrechen wurde moralisiert und mit Hilfe von Rechtfertigungstheorien und Neutralisationstechniken legitimiert. Gleichzeitig konnte die eigene Verantwortung auf die Gruppe projiziert werden. Man war nicht mehr eine eigenständige Person, sondern hatte eine kollektive Identität. Ulrike Meinhof schrieb in einem Fragment kurz vor ihrem Tode:
Kollektivität ist ein Moment in der Struktur der Guerilla und - Subjektivität als Bedingung in jedem einzelnen als sein Entschluß, zu kämpfen vorausgesetzt - ihr wichtigstes .Das Kollektiv ist die Gruppe, die als Gruppe denkt, fühlt und handelt.
Positive Affekte wurden an Personen festgemacht - eine negative Identifikation richtete sich hauptsächlich gegen Institutionen. Dies hat eine ausschlaggebende Bedeutung für die Organisation terroristischen Handelns. Die richtige Welt ist die der personalen Wirklichkeit. Ihr gegenüber steht die entpersönlichte Welt, abstraktes - die Struktur des Bösen, die das gesteckte Ziel der Humanität vereitelt. Die Struktur ist der Gegner - die Repräsentanten des entpersönlichten Bösen dürfen daher getötet werden, sie sind keine wirklichen Personen. Sie haben sowieso nur ein wertloses Dasein. Alle menschlichen Werte, bzw. das humanitäre Bild des Menschlichen wird ausschließlich innerhalb der eigenen Gruppe gesehen.
Der entstandene Rigorismus erzeugte eine hohe Angst vor dem eigenen moralischen Versagen. Man fühlte sich, wie Horst Mahler später sagte, moralisch verpflichtet zu töten, denn "Menschlichkeit gegen Feinde der Menschheit ist Unmenschlichkeit". Einsteiger in die Szene hatten oft Schuldgefühle wegen ihrer mangelnden Aktivität und waren dann regelrecht erleichtert, eine Chance zur Hilfeleistung, z.B. das Fahren von Fluchtfahrzeugen, zu erhalten.
Das erzeugte Realitäts - und Weltbild wurde zur Hauptaufgabe. Alles was dieses Bild stützte wurde betont, alles was es schwächte wurde tabuisiert. Man bestätigte sich gegenseitig. Die Welt war einfach und klar verständlich, es gab kein Problem der Theoriebildung oder den Anspruch der differenzierten Analyse von gesellschaftlichen Zustände. Zur sozialen Isolation kam die Denkisolation. Beides verfestigte das Gruppenbewußtsein.
Oft wurden alle gravierenden Straftaten des einzelnen erst nach seinem Abtauchen in den Untergrund verübt. Anlaß zum Abtauchen war in den meisten Fällen eine Straftat von geringerem Ausmaß, wie das Fahren eines Fluchtfahrzeuges, der sich eine polizeiliche Verfolgung anschloß.
Nur wenige Terroristen der ersten Generation schafften es, sich von der Terror - Szene zu lösen. Die meisten von den "Umkehrern" waren Personen, die weniger schwerwiegende Straftaten verübt hatten. Manche von ihnen hatten nach der Lebensbedrohung von wehrlosen unbeteiligten Zivilisten (1977, die Entführung der Lufthansa - Maschine nach Mogadischu) Selbstzweifel und Legitimationsschwierigkeiten. Die Trennung von der Vergangenheit vollzog sich aber bei allen als ein sehr mühsamer, langsamer Ablösungsprozeß, der einherging mit Schuldgefühlen, Verlustängsten und depressiven Empfinden der perspektivischen Orientierungslosigkeit.
"Heimat", die von Edgar Reitz vor der "Zweiten Heimat" gedrehte Chronik, beschreibt den Werdegang von Menschen in ihrer ursprünglichen Heimat. Diese Heimat ist real, ebenso räumlich wie psychisch. Die Figuren der ersten Heimat leben in ihrem Dorf und in familiären Strukturen, wie sie seit Jahrhunderten bestehen und gleich geblieben sind. Die "Zweite Heimat" ist eine selbstgewählte Heimat, eine Heimat der Individualität, eine Heimat der Wahlverwandtschaften, die die Familien ersetzen sollen. Wenn in der ersten, der wahren Heimat, die familiären Strukturen, die Regeln des Dorfes, die gegenseitige Bekanntheit seiner Bewohner das Auffangbecken für Gefühle sowohl wie für "gesellschaftliche Entgleisungen" war, die gegebenenfalls sanktioniert wurdensiehe Verhältnis Hermann/Klärchen), so übernimmt diese Funktion in der "Zweiten Heimat" der Freundeskreis. Die althergebrachten Regeln dörflichen Zusammenlebens werden ersetzt durch einen gemeinsamen Glauben, eine gemeinsame Ideologie der Freunde.
Die sozialen Strukturen der Cliquen in den Wahlheimaten, meistens den
großen Städten, sind in vielen Fällen noch vergleichbar mit denen in der Heimat. Doch
die Regeln, nach denen das Zusammenleben funktioniert, sollen neue sein. Nach ihnen zu
suchen, sie zu finden, ist der Inhalt dieser anderen Form des Zusammenlebens. Es ist
seiner einfachen, traditionell -familiären Grundlage beraubt, deren einziger
Sinn das Überleben war.
Doch die Suche nach dem Ersatz für die etablierten Regeln ist schwierig. Zum einen, weil die Suchenden übersehen haben, wie sehr sie selbst durch die Regeln ihrer Kindheit geprägt wurden und wie schwer es ist, sich von ihnen zu befreien.
Zum Zweiten, weil in kaum einem der Suchenden die Vorstellung ausgereift ist, welche Regeln, welcher Glaube, welche Ideologie an die Stelle der alten treten soll. Und wenn der einzelne eine wage Vorstellung von dem hat, was er als etwas Festes, Orientierunggebendes für sich erwünscht, so ist längst nicht sicher, ob dieser "Lebenssinn" auch von seinen "Wahlverwandten" geteilt wird. Und doch gibt es ein Ziel , das die Musiker, die Filmer und Schauspieler, die Philosophen und Mediziner in der "Zweiten Heimat" eint: der Wunsch, den bürgerlichen Mief der Kleinstädte der Nachkriegszeit hinter sich zu lassen und in eine neue Zeit aufzubrechen, nach einer neue Welt der Freiheit und Selbstbestimmung zu suchen.
Die "Zweite Heimat" erzählt die Geschichte einer Gruppe junger Leute in der Zeit zwischen 1959 und 1970. In der Mitte dieses Zeitraumes liegen die Ereignisse der 68er -Bewegung. Der Gedanke, der die Menschen in dieser Bewegung einte, war nicht zufällig derjenige, der auch die Protagonisten der "Zweiten Heimat" aus der Provinz in die Großstädte trieb: die Hoffnung auf eine freiere Welt, in der die Vernunft des Individuums regiert und jedem Einzelnen die gerechte Möglichkeit bietet, sich nach seiner Art zu verwirklichen.
In Teil 1 bricht der 19 -jährigen Hermann Simon, die Hauptfigur der "Zweiten Heimat", aus Schabbach im Hundsrück auf, um seiner Familie den Rücken zu kehren und in München sein Glück als Musiker zu machen. Von seiner Familie scheidet er in Verbitterung, weil er ihr vorwirft, seine große Liebe (als 16-jähriger) zerstört zu haben. Die Geliebte ist das um 12 Jahre ältere Klärchen, eine Angestellte im Elternhaus Hermanns. In Schabbach jedoch galt diese Beziehung als anstößig und Klärchen wird nach einer Hetzkampagne erfolgreich aus dem Ort vertrieben. Dies ist Hermann Simons entscheidendes Erlebnis mit den Sitten der Heimat. Er schwört sich, Schabbach mit dem Abitur zu verlassen und die Musik zu seiner einzigen künftigen Heimat zu machen. In der Schule galt Hermann als Klassenrevoluzzer, doch in dem entscheidenden Moment seiner Abiturprüfung kann er der Versuchung nicht widerstehen, trotz seiner Verweigerung des Religionsunterrichtes sein Wissen zur Schau zu stellen und die schlechte Note, die ihm dieses Prädikat verschafft hat, zu revidieren. Daß ein revolutionäres Empfinden durchaus etwas mit dem Alter zu tun haben muß, davon ist er überzeugt: in einem Gespräch im Zug auf dem Weg nach München äußert er: "Wenn Jesus fünfzig geworden wäre, dann wäre seine Lehre nur eine Jugendsünde gewesen"(Teil 1). Hier fährt er in seinem Glauben, das ältere Menschen zwangsläufig verknöcherte Verräter sein müssen, ganz auf der Schiene der Zeit; ungefähr acht Jahre später wird in den Berliner und Münchener Kommunen der Spruch kursieren: "Traue keinem über dreißig!"
In München angekommen, erlebt er die älteren Semester der Musikhochschule mit Bewunderung als in "Opposition zur ganzen Welt" stehend und als "Propheten der Neuen Musik". Hermann ist begeistert, denn eine Welt, in der die Musik Ausdruck des Protestes ist, kann seine zweite Heimat werden.
In München bildet sich ein Freundeskreis um Hermann, dem vor allem dieses gemeinsam ist: die Flucht aus dem Elternhaus und die unbestimmte Suche nach der zweiten Heimat. So bemerkt Ansgar Hermann gegenüber: "Dann kennst du auch diesen Saustall Familie!"(Teil 2) und Clarissa sagt über ihre Heimatstadt: "Wasserburg hat 1000 Augen, die dich ansehen"(Teil 2). Wieder das Motiv der erdrückenden Kontrolle in der Heimat. Juan hat die Heimat verlassen, weil er als Universagenie "in Chile genau wie in Deutschland alle Raster sprengte"(Teil 5). Eveline verläßt ihr Elternhaus mit dem Tod des Vaters, als sich herausstellt, daß ihre Mutter nicht ihre wahre Mutter gewesen ist. Nach der Beerdigung stellt sie fest: "Während die schwarzgekleideten Menschen in das Haus meiner Kindheit gingen, hörte Neuburg auf, meine Heimat zu sein"(Teil 2). Sie bricht nach München auf, um dort die Suche nach ihrer leiblichen Mutter zu beginnen.
Als zentralen Satz für das, was im Freundeskreis Ersatz für die biologische Herkunft steht, steht die Bemerkung Alex, des älteren Philosophen in der Gruppe, die er gegenüber Frau Cerphal macht: "So was wie Familie, Herkunft u.s.w. ist doch reiner Zufall. Mich interessiert, was einer denkt !"(Teil 2).
Doch die Bindungen an die Heimat bleiben präsent. Clarissa fährt immer wieder in die Heimat, Hermann fällt, wenn er aufgeregt ist, immer wieder ins verhaßte Hundsrücker Platt zurück. Juan wartet verzweifelt auf Briefe seiner Mutter aus Chile, Reinhard Dörr, der Kameramann im Freundeskreis, liebäugelt ebenso wie sein Vater, ehemaliger Jagdflieger, mit Gewehren.
Daß die Auseinandersetzung mit dem Alten, dem es das Neue abzuringen gilt, nicht nur gegen die Gesellschaft außen, sondern auch gegen den eigenen "inneren Schweinehund" zu führen ist, hat Frau Moretti, Besitzerin einer Reinigung und Kunstfreundin, Hermann schon gleich zu Beginn versucht klarzumachen: "Bist Künstler. Darfts nie Ideale verlieren. Mußt immer kämpfen"(Teil 1).
Doch am Beispiel der verzweifelten Liebe zwischen Hermann und Clarissa wird klar, daß die Flucht, die im Elternhaus begonnen hat, mit seinem Verlassen nicht zu Ende ist. "Hermann, du bist immer auf der Flucht,"(Teil 6), sagt Clarissa. Beide fliehen voreinander in der Angst vor dem Festen, Dauerhaften und sehen sich dennoch danach. Nachdem im Freundeskreis nach einer starken gemeinschaftlichen Zeit im Fuchsbau (dem Haus der Frau Cerphal) klar wurde, daß keiner der Beteiligten in der Lage ist, eine feste Beziehung einzugehen, setzt eine Phase der Individualisierung und Radikalisierung ein. Nur die Freundschaft zwischen Eveline und Ansgar funktioniert, und Hermann stellt fest, das sie zu etwas Festem in der Clique geworden ist. Doch mit dem Tod Ansgars ist auch dieser Fixpunkt wieder zerbrochen. Hermann erkennt zynisch den Ausgleich für diesen Verlust: "Jetzt haben wir unseren ersten Toten in München. Das ist wie Zuhause aufm Dorf: du gehst auf den Friedhof und da liegt einer, den hast du gekannt"(Teil 3).
Zwei einschneidende Erlebnisse für fast alle Mitglieder des Freundeskreises sind die Münchener Krawalle von 62 in Teil 5 und der Tod Kennedys (Teil 6). Überwog bis hierher noch die Hoffnung, daß die Suche der Freunde gemeinsam zu einem Ziel führen könne, so macht sich von jetzt an eine zunehmende Desillusionierung breit. Das abendliche Zusammenkommen an Kennedys Todestag ist nicht nur ein Treffen der Freunde in gemeinsamer Trauer um die Ermordung, sondern zugleich auch wie die Beerdigung des Freundeskreises selber. "Wir waren Kennedys Kinder: intelligent, frei und jung,"(Teil 6), sagt Alex. Mit Kennedy ist auch ein Teil der Hoffnung der Freunde gestorben.
In der historisch anschließenden Phase zunehmender Politisierung der Jugend ist Helga die einzige, die, auf den Krawallen auf der Leopoldstraße besonders hart getroffen, sich der politischen Auseinandersetzung stellt. Maßlos empört über die Vorkommnisse.flieht sie in den Fuchsbau, wo sie Hermann trifft. "Die Masse ist krank und verroht, wie dieser Staat. Es lebe das Individuum"(Teil 5), kommentiert dieser. Doch im Gegensatz zu Helga führt diese Erkenntnis bei ihm nicht zum Widerstand. Schon während der Auseinandersetzung mit dem Beamten im Polizeidienststelle, der seine Gitarre zerschlagen hatte, ergreift er wieder die Flucht. Für das Selbstverständnis eben dieser Deutschen steht der Mercedesfahrer, mit dem Hermann per Anhalter aus München flieht. "So was macht uns niemand in der Welt nach"(Teil 5), prahlt er mit seinem Fahrzeug. Wir sind wieder wer, heißt das im Wirtschaftswunder -Deutsch. Auch seine Kopfwunde "aus dem Krieg" darf wohl nicht nur als solche verstanden werden. "Ihr habe ich zu verdanken, das ich mich an nichts mehr aus der Zeit davordes Krieges, der Nazi -Zeit, Anm.d.Verf.) erinnern kann"(Teil 5). Sie steht metaphorisch für den "Kopfschaden" aller Deutschen, die im Dritten Reich dabei waren und für ihr Vergessen und Verdrängen danach. Dieser Mercedesfahrer vereint alle Eigenschaften des deutschen Wohlstandsbürgers in sich, die ihm von der späteren APO wegen seines Umgangs mit seiner Vergangenheit vorgeworfen werden,.
Im Freundeskreis wird allmählich immer deutlicher, daß es sich in erster Linie um eine Selbsthilfegruppe von Orientierungslosen handelt, die sich, aneinanderklammernd, mehr schaden als nützen. "Hier auf der Insel war das Gefühl, auf der Suche zu sein, so stark wie noch nie. [...] Aber tief im Innern von mir hatte ich ein Ziel." (Teil 6), denkt Hermann auf Sylt. Doch im nächsten Teil muß er sich tröstend von Schnüßchen, seiner angehenden Ehefrau sagen lassen: "Brauchst du unbedingt die Meinung der Anderen?"(Teil 7) - die Freunde hatten Hermann allesamt nach seinem ersten großen öffentlichen Konzert versetzt und waren nicht zu einer aufwendig vorbereiteten Party erschienen. Auch Stefan und Helga, ihre eigenen, im wahrsten Sinne des Wortes leeren Gesichter im Spiegel einer Bar betrachtend, spüren, das sie immer noch "ungeboren" sind. Bezieht man dies auf den von Hermann immer wiederholten Ausspruch: "Wir müssen uns selbst ein zweites Mal zur Welt bringen", zeigt diese fast surreale Szene überdeutlich, daß das Miteinander im Freundeskreis und in den vielfach versuchten und immer gescheiterten Beziehungen der Freunde niemanden seinem Ziel, sich selbst und damit die zweite Heimat zu finden, nähergebracht hat. "Wir sind immer gegen alles und tun es dann doch,"(Teil 7), sagt Clarissa zu Hermann am gemeinsam verbrachten Heiligabend.
Diese Feststellung kann auch auf die Hochzeit zwischen Hermann und Schnüßchen übertragen werden. Fühlt das unkomplizierte Hunsrücker Schnüßchen, daß für sie nun der entscheidende Schritt zum Erwachsenwerden getan ist, so daß sie von nun an mit ihrem richtigen Namen Waltraud angesprochen werden möchte, so sehen die "Freunde" der Hochzeit mit ausgesprochen gemischten Gefühlen zu. Eine feindselige, boshafte Stimmung, die sich durch die ganze Zeremonie wie ein blutroter Faden zieht, entlädt sich am Ende in nackter Gewalt. Juan, Hermanns engster Freund und in Sachen Frauen immer auf dessen Spuren wanderndClarissa, Renate), fühlt nun, daß seine letzte Verbindung zum Leben abreißen wird. Wenn Hermann aus dem Fuchsbau ausgezogen ist und mit Waltraud zusammenlebt, wird Juan so allein sein wie nie zuvor. "Eigentlich bin ich gar nicht da. Wenn ich verschwinden würde, würde es keiner von euch merken"(Teil 3), bemerkt er einmal. Dies muß er besonders empfunden haben, als ihm der Filmer Rob seine neue finnische Freundin ausspannt, gerade so, als sei er nicht da. "Ich bin nicht wie ihr"(Teil 8), sagt er. Diese Andersartigkeit scheint ihm so unveränderlich zu sein, daß er entschließt, sich daß Leben zu nehmen. Reinhard kann den Suizid im letzten Moment verhindern, doch der Schuß löst eine ganze Kaskade von Aggressionsentladungen aus: Zunächst zielt der eifersüchtige Stefan Aufhäuser auf den neuen Flirt der geliebten Helga, prügelt sich dann mit Reinhard, mit dem er schon länger im Streit wegen Kompetenzabgrenzungen in ihrer filmischen Arbeit, liegt. Alex, mit seiner eigenen Existenz hadernd"Alles ist sinnlos, aber nichts ist Zufall" - (Teil 8), projiziert Juans Selbstmordversuch auf sich selbst und erlebt einen hysterischen Anfall. "Das ist ein Angriff auf meine Person"(Teil 8), brüllt er Juan anschließend an, anstatt mit Einfühlungsvermögen zu reagieren. Und Clarissa, die wie eine Fremde Hermanns Hochzeitsgesellschaft schwebt, verliert ihre Beherrschung im Augenblick, als Volker ihr in unpassendstem Moment ein "Ich liebe Dich" ins Ohr raunt. "Alles, aber sag diese Worte nie wieder"(Teil 8), tötet sie eiskalt seine letzten Illusionen ihre Zuneigung betreffend. Frau Cerphal, ihrem bürgerlichen Anstandsdenken verhaftet, reißt die Geduld und zieht den endgültigen Schlußstrich für die Freunde: sie verweist alle endgültig des Hauses. Nur Juan darf bleiben, den sie von nun an pflegt, wie ihr Kind. Der Freundeskreis, seines Treffpunktes beraubt, beginnt, sich aufzulösen.
Dies ist für die meisten der Freunde das "Ende der Zukunft"(Teil 10) und es beginnt eine "Zeit des Schweigens"(Teil 11): "Jeder Schwieg über seine Projekte, zweifelte an sich und ließ sich nicht in die Karten gucken"(Teil 9). Der Freundeskreis war immer auch Schutz - und Trutzburg der Freunde gewesen, in der sie, den Glauben an sich und ihre eigenen Genialität hochhaltend, die übrige Welt außen hielten. Nun mußten sie spüren, wie sehr ihre Illusionen, in einer von der Außenwelt hermetisch abgeschirmten Brutstätte der Ideologien gezüchtet, in der "Welt draußen" zum Ballast wurden. "Der, der von euch als erster ideologiefrei wird, der wird Erfolg haben"(Teil 1). Hermann hatte mit der Arroganz des Pennälers über diese Worte gelächelt, als er sie auf seinem ersten Weg aus dem Hunsrück nach München vom Mitreisenden Herrn Edel zu hören bekam. Nun war daraus bitterer Ernst geworden. Es war eine Familie zu versorgen, also mußte Geld verdient werden. Auf die Frage Reinhards, wie Hermann es aushielte mit Frau, Kind und Wecker auf dem Nachttisch, antwortet er lakonisch, es sei eben alles etwas anders(Teil 10). Doch hat er, Musik für Werbefilme produzierend, prompt Erfolg und bekommt in der Folge ein eigenes Musikstudio angeboten. Dies wird zunächst mit der in Aussicht gestellten völligen Selbständigkeit bei seinen Produktionen schmackhaft gemacht, entpuppt sich aber schließlich doch als Abhängkeitsverhältnis, in dem er auch weiterhin Werbespots vertont. Trotzdem neidet vor allem Volker, ebenfalls Komponist, Hermann den Erfolg. In einem Gespräch mit Schnüßchen antwortet er auf ihre Feststellung, sie hätten damals schrecklich gesponnen mit den Worten: "Es war eben ein Traum"(Teil 10).
Die Kluft zwischen den Freunden wird immer größer. Wo Hermann nun steht, ohne es zu bemerken, ist nicht weit entfernt vom Merzedesfahrer damals, auf der Flucht aus München während der Krawalle. "Das macht uns so schnell keiner nach, Herr Simon"(Teil 11), sagt der eng mit ihm zusammenarbeitende Toningenieur. Eben dies waren die Worte des Autofahrers.
Einzig Helga hat ihren idealistischen Kampf nicht aufgegeben. "Wir Intellektuellen haben die Verantwortung für die Demokratie im Land"(Teil 11), sagt sie zu Hermann. Dieser befreit sich von seiner Verantwortung, in dem er eine Unterschrift für einen politischen Aufruf spendet.
In einem letzten Kraftakt versucht Hermann noch einmal, aus den unbeliebten Abhängigkeiten auszubrechen. Er inszeniert eine Szene mit Schnüßchen, trennt sich von ihr, wird von seiner Arbeit im Tonstudio beurlaubt und verläßt München. Er reist nach Berlin, um dort eine Frau zu treffen. Hier allerdings erkennt er, wie weit von den neuen Idealen der 68er entfernt ist. Seine neue Liebschaft lebt in einer Berliner Kommune, wie sie in den späten Sechzigern als neue Form des Zusammenlebens entstanden waren. Er flieht sichtlich verstört, als er am dort üblichen Gruppensex teilnehmen soll. Parallel hierzu scheitert, ebenfalls in Berlin, der Versuch Stefans, in kollektiver Zusammenarbeit mit seinem Team einen Film zu produzieren. "Die Regie ist und bleibt unteilbar"(Teil 12), stellt er fest und beendet die Dreharbeiten. Diesem Prozeß der Desillusionierung hatte sich Reinhard bereits entzogen. In einer Auseinandersetzung mit einem 16 -jährigen Mädchen, die sich erhoffte, mit seiner Hilfe Filmstar zu werden, hatte diese ihn als "Fähnchen im Wind" und "Waschlappen" bezeichnet, der "niemals gute Filme machen" würde(Teil 10). In einer Zeit starker Selbstzweifel muß diese Szene wohl als Auslöser für seinen unmittelbar folgenden Suizid verstanden werden.
Schließlich verlassen sowohl Clarissa als auch Schnüßchen ihre Ehemänner und München. Alex, seiner durch Depressionen verursachten Untätigkeit nicht Herr werdend, wird zum Trinker. Bei einer Begegnung zwischen Hermann und seiner Tochter im letzen Teil ist er ihr bereits so fremd geworden, daß jede Zutraulichkeit fehlt. Dies ereignet sich in einem kleinen Wanderzirkus, in dem Juan entdeckt hat, daß es keiner großartigen Karriere und keiner avantgardistischen Künstlerfreunde bedarf, um glücklich zu werden. Dies erkennt schließlich auch Hermann: "Sie waren Theaterfiguren, verblendet in ihrem Künstlerwahn, ausgedacht für dekadente Bildungsbürger. Ich wollte aufwachen, wollte, daß es endlich Tag wird"(Teil 13). All dieser Illusionen beraubt, spürt er auf einmal, das es nur noch ein Gefühl gibt, das übriggeblieben ist, obwohl er meinte, es nie verspürt zu haben: Heimweh.
"Ich war allein und wurde vom Heimweh gepackt. In den ersten Jahren habe ich es bekämpft, dann habe ich es vergessen und ich bildete mir Urteile über dieses Gefühl, das sich zusammensetzt aus Angst, Gewohnheit, kindlicher Unreife und dergleichen. Ich dachte an meine Mutter im Hunsrück und mein Herz fing an wehzutun.(Teil 13). Dies und die Erkenntnis, daß seine Rastlosigkeit nichts als die Flucht vor sich und seiner Heimat gewesen ist, veranlaßt ihn zu dem Entschluß, in den Hunsrück zurückzukehren: "Ich möchte das Warten lernen"(Teil 13).
Helga Aufschrey - Eine Biographie
Helga Aufschrey wurde am 23.8.1939 in Dülmen, einer Kleinstadt im Norden, geboren Ihr Vater ist von Beruf Lehrer, ihre Mutter Hausfrau. In den Jahren nach dem Krieg haben sich die Eltern wirtschaftlich ihre Stellung erkämpft und leben nun in Wohlstand - besitzen ein eigenes Haus mit Vorgarten und sind finanziell ohne Sorgen. Helga ist ein Einzelkind und hat ein sehr herzliches Verhältnis zu ihren Eltern. Obwohl sie geliebt wird, können die Eltern ihre Probleme und Ansichten nicht verstehen und tabuisieren politische wie auch emotionale Belange. Der Vater ist autoritär und es herrschen konventionelle Verhaltensformen. Helga zieht nach dem Abitur zu Studienzwecken nach München, wo sie Teil der Clique im Fuchsbau wird. Sie ist befreundet mit Stefan Aufhäuser, einem Jurastudenten der Filme dreht und Mittelpunkt der Fuchsbauclique ist - allerdings besteht keine sexuelle Beziehung. Helga verliebt sich erfolglos in Hermann, eine andere zentrale Figur des Fuchsbaukreises. Sie beginnt Gedichte und Texte zu schreiben. 1962 erlebt Helga die Krawalle in München, die sie emotional sehr bewegen. Nach einer tiefen Krise begeht sie 1963 einen Selbstmordversuch. Ihr alter Freund Stefan steht ihr in der Zeit danach zur Seite und die beiden bilden erneut ein unglückliches Paar. Die folgenden Jahre verändert sich Helga zunehmend. Sie engagiert sich politisch und wird eine Wortführerin in der Studentenbewegung. 1966 bekommt Helga ein Kind - ohne Lebens -partner oder Ehemann. Nach anfänglicher Freude über das Kind wird es ihr schnell zu anstrengend und sie gibt es zu ihren Eltern nach Dülmen. Später nimmt Helga ihr Kind wieder zu sich, weil sie nicht möchte das es in der kleinbürgerlichen Atmosphäre ihres Elternhauses groß wird. Sie zieht in eine Kommune nach Berlin, verläßt diese aber bald wieder enttäuscht von der gescheiterten "kollektiven Kindererziehung". Helga engagiert sich ab 1968 zunehmend für die linksextreme Szene, bis sie 1970 in den Untergrund abtauchen muß, da sie per Fahndungsphoto von der Polizei als Mitglied der Baader Meinhof Bande gesucht wird.
Die Gruppe - der Fuchsbaukreis
1961 lernt die Verlegerstochter Cerphal über ihren Untermieter und Zögling Stefan Aufhäuser, einen Jurastudenten und Filmemacher, auf einer Feier Musikstudenten kennen, die sie kurzerhand alle zu sich nach Hause in ihre Villa einlädt.
Diese Villa, der Fuchsbau wird über Nacht zum neuen Lebensmittelpunkt für eine Gruppe von jungen Leuten - es ist "der Beginn einer wunderbaren Freundschaft"(Teil 3). Der Fuchsbau wird ein Stück Heimat - die Studenten können kommen und gehen wann sie wollen - die Hausherrin läßt ihnen vollkommene Narrenfreiheit. Es entsteht in kürzester Zeit eine Art Kommune - ein Platz, wo man immer jemanden trifft und wo man nie alleine sein muß.
Mittelpunkt der Gruppe ist Stefan, von dem Hermann sagt: "Wir besuchten ihn meist mitten in der Nacht. In seinem Zimmer diskutierten wir und tranken und rauchten und rezitierten und musizierten bis der Tag anbrach"(Teil 2).
Die Gruppe fühlt sich schnell als elitärer Kreis - fast alle dazugehörenden Personen sind Künstler aus den verschiedenen Sparten Musik, Schauspiel und Film. Sie sind die Avantgarde, die aufstrebende Generation von morgen - begnadete Künstler. Alle sind selbstbewußt und nehmen sich persönlich sehr wichtig. Der Fuchsbau gibt als Ambiente für den illustren Kreis den passenden Rahmen: eine herrschaftliche alte Villa, in der schon früher berühmte Künstler wie Bertholt Brecht und Lion Feuchtwanger u.a. verkehrt hatten.
Die Gruppe empfindet sich mehr oder weniger bewußt als besonders und außergewöhnlich. Alex sagt in (Teil 3: "Wir können sagen, wir sind dabei gewesen." und "Ich habe die Gabe uns historisch zu sehen."
Die Gruppenmitglieder sind Kinder aus wohlhabenden Mittelschichtsfamilien, einige stammen sogar aus reichen Verhältnissen. Sie sind Privilegierte, die keine Existenz -ängste haben müssen, sondern sich im Gegenteil entfalten und selbstverwirklichen können.
Der Fuchsbaukreis wirkt faszinierend und anziehend auf viele, doch nicht für jeden ist die Integration in die Gruppe einfach. "Es war ein Privileg zum Fuchsbaukreis zu gehören"Hermann, (Teil 3). Renate beispielsweise ist keine Künstlerin und hat es schwer Anschluß und Anerkennung zu finden. Andere sind zwar "Künstler" ,wie Olga beispielsweise, aber finden ihren Platz in der Gruppe nicht. Olga erwartet emotional mehr Zuwendung von den anderen und sendet fortwährend Hilfssignale mit ihrem Verhalten und der Einnahme von Tabletten. Es nimmt aber keiner wirklich Notiz davon.
Dies ist symptomatisch für die Gruppe: die Personen sind zwar sehr viel und eng zusammen - man unterstützt den anderen in seinem künstlerischen Schaffen - aber im Grunde genommen sind die Beziehungen sehr oberflächlich. Niemand erfährt wirklich etwas über den anderen. So ist Juans Selbstmordversuch beispielsweise für alle vollkommen überraschend - keiner setzt sich aber wirklich mit seiner Tat auseinander. Die Gruppenmitglieder wissen nichts voneinander, wirkliche Gespräche gibt es nicht. Wirkliche Freundschaft existiert nur zwischen einzelnen Personen. Das Miteinander wird bestimmt von Partys, Kunst und Liebe.
Jeder versucht seinen Platz in der Gruppe zu finden. Manche tun das ganz organisch, andere kämpfen unentwegt um ihre Rolle. Doch jeder ist abhängig von der Gruppe - nicht Teil zu sein bedeutet Einsamkeit.
1962 sind die Krawalle in München, die für kurze Zeit auch den Fuchsbaukreis beschäftigt - doch Politik ist kein Thema für die Gruppe. Alle Personen entwickeln sich mehr oder weniger mit den gesellschaftlichen Veränderungen dieser Zeit.
Nach den ersten beiden Jahren des Fuchsbaus tritt langsam eine Veränderung ein. Jeder ist zunehmend mehr mit seinen eigenen Problemen, Projekten und Karriere beschäftigt. Man beginnt sich von der Gruppe abzusondern und seinen eigenen Weg zu gehen. Frau Cerphal überlegt den Fuchsbau zu verkaufen. Hermann sagt, er sei "gruppenmüde" und Olga: meint: "Diese blöde Gruppengetue. Ich gehöre nicht zu Euch"(Teil 6). Familien werden gegründet, einzelne machen Karriere. Frau Cerphal zieht schließlich den Schlußstrich. Als Juan am Ende von Hermanns Hochzeitsfeier einen Selbstmordversuch begeht, wirft sie alle endgültig hinaus. Der Fuchsbaukreis trifft sich zwar weiterhin, aber seltener und in andern Zusammenhängen, z. B. als Familien mit Kindern, oder unter beruflichen Aspekten. Die Dinge haben sich verändert - aus den Studenten sind erwachsene Menschen geworden, die jetzt eine soziale Rolle in der
Gesellschaft einnehmen. Die endgültige Verabschiedung von der Jugend und den Fuchsbau - Jahren wird symbolisch in der Beerdigungsfeier des Fuchsbaus vollzogen.
Helgas Entwicklung zwischen 1960 - 1967
Helga tritt als Freundin von Stefan in die Handlung ein. Um Stefan hat sich die Clique gebildet, da er im Fuchsbau wohnt. Helga wird über ihn Teil des Freundeskreises - er ist ihr Beziehungspunkt zur Gruppe. Stefan liebt sie, sie ihn aber nicht. Aber Helga hält sich fortwährend im Fuchsbau, sprich bei ihm, auf und hält ihn im Grunde genommen im Ungewissen über ihre Gefühle für ihn. Helga quält ihn, gleichzeitig benutzt sie ihn aber auch - über ihn hat sie Zutritt zu der Gruppe, in der sie gerne akzeptiert sein möchte. Stefan ist der Mittelpunkt. Ihre Rolle in der Gruppe ist definiert durch ihre Beziehung zu ihm. Diese untergeordnete Rolle veranlaßt sie zu Machtspielen, die Stefan nicht versteht.
Er ist der reiche Sohn, der erfolgreiche Student und Filmemacher, Zögling von Frau Cerphal, Mittelpunktsfigur und immerzu beschäftigt mit Projekten. Stefan ist der typische Fall eines Menschen, der nicht lange Fragen stellt, sondern handelt und damit Erfolg hat. Helga hingegen scheint nichts zu tun zu haben. Sie ist Studentin, aber studiert nicht. Sie verbringt ihre Zeit im Fuchsbau mit den anderen zusammen und schreibt Gedichte und Texte. Das ist die Rolle in der sie sich gerne sehen möchte: Helga, die Künstlerin die Gedichte schreibt und damit mit den Künstler - Freunden auf einer Ebene steht.
Die Situation mit Stefan und seinen erfolgreichen Freunden muß ihr Selbstzweifel und Mißerfolgserlebnisse bringen. Helga ist nicht ausgefüllt und versucht sich im Schreiben eine Aufgabe zu geben. Die Anerkennung durch die anderen bleibt aus - bis auf Hermann zeigt niemand je Interesse an ihren Arbeiten. Und auch Hermann interessiert sich im Grunde genommen nur dafür, weil er mit ihr flirtet. Der Erfolg wird ihr also versagt.
Helga sitzt in allen Szenen, die im Fuchsbau spielen, vorwiegend auf einem Bett in der Ecke mit ihrem Schreibblock bewaffnet. Sie hat keine Fähigkeit mit den anderen zu kommunizieren, sich zu öffnen. Ihr Kommunikationsmittel bleibt ihr Schreiben. Helgas ganze Haltung signalisiert, daß sie sich in sich innerlich zurückzieht, gleichzeitig schreibt sie mit geheimnisvoller Miene in ihr Buch um die anderen neugierig zu machen und angesprochen zu werden. Sie wäre gerne Teil der Gruppe und befreundet mit den anderen, kann aber nicht über ihren Schatten springen und auf andere zugehen. Sie kann noch nicht einmal ihr generelles Interesse am Kontakt zeigen - Helga spielt die Unabhängige und Unnahbare.
Helga ist kleinbürgerlich aufgewachsen und ist wohlerzogen, mädchenhaft nett, ordentlich, brav und bieder. Sie hat etwas sehr unfrauliches, eckiges - ist spröde und hat keinerlei Charme. Unentwegt lächelnd signalisiert sie Freundschaft und Sympathie, aber drückt damit auch ihren Zynismus und emotionale Kühle aus. Dabei ist sie im Grunde genommen ein einsamer Mensch, der Zuwendung und Liebe braucht und sehr emotional ist. Helga ist verklemmt und unsicher - hat kein Selbstbewußtsein, tut aber selbstsicher. Sie braucht einen Halt, jemanden der sie beschützt. Andererseits kann sie denjenigen, der sie liebt, nicht akzeptieren. Helga will immer das Unerreichbare. So verliebt sie sich in Hermann, den sie nicht haben kann, der sie nicht liebt.
Helga ist und bleibt einsam in der Gruppe, obwohl diese so wichtig für sie ist. Sie bleibt erfolglos und muß mit ansehen, wie die anderen stetiglich einen Schritt auf der Karriereleiter weitersteigen. Trotzdem bleibt der Fuchsbau in den ersten Jahren Zentrum ihres Lebens, er ist ihre Heimat . Zu ihrer Freundin Dorli, die zu Besuch ist, sagt sie: "Das ist also unser Fuchsbau".....und.... "Hier dürfen wir alles"(Teil 3).
Helgas politische Grundhaltung
Helga verhält sich in den ersten Jahren des Fuchsbaus vollkommen apolitisch. Die Mutmaßungen der andern bezüglich Herrn Gattingers politischer Vergangenheit lassen sie ungerührt - im Gegenteil : sie ist die einzige der Gruppe, die auf ihn als Person eingeht, während ihn die anderen mehr oder weniger anfeinden. Sie fragt ihn zwar direkt: "Waren Sie bei der SS?"(Teil 3), doch läßt sie sich dann in ein Gespräch über Literatur mit ihm ein - ist freundlich und sogar beeindruckt von seinem Wissen. Als Ansgar ihn offen angreift, verteidigt sie ihn: "Der Herr hat dir nicht den geringsten Anlaß gegeben!"(Teil 3) und Stefan interpretiert ihr Verhalten las Autoritätshörigkeit: "Das ist deine Erziehung als Lehrerstochter. Wenn einer über 40 ist, geht Madame in die Knie"(Teil 3).
Helga muß sich ihre apolitische und unkritische Haltung vorwerfen lassen. Ansgar lebt ihr in dieser Szene ihre eigene spätere radikale Haltung vor.
Helgas mangelnde soziale Integration, sei es im Studium oder im Freundeskreis und ihre innere Ziellosigkeit machen sie haltlos und führen zu einer Wirklichkeitsentrückung. Sie wird immer mehr zur reinen Beobachterin ihrer Umwelt. Emotional befindet sie sich in einer Art Vakuum. Sie betrachtet und beschreibt die Dinge, erlebt sie seelisch aber nicht. Ihre Kommunikationsunfähigkeit, ihre mangelnde Fähigkeit zum Austausch empfindet sie als Enge, als Isolation: "Ich konnte es kaum mehr aushalten vor Sehnsucht. Meine Haut schmerzte vor Verlangen nach......ich versuchte es in Gedichten und Sätzen auszudrücken"(Teil 5).
Die "Haut" als Symbol des Eingeschlossenseins - des Gefängnisses.
Helga wartet auf das Erlebnis, daß sie ins Leben ruft, sie aus der inneren Starre erlöst: "Ich war selbst eine Birke und wartete auf den großen Sturm"(Teil 5).
Der große Sturm, das emotionale Ventil erlebt sie in den Krawallen in München 1962. Zwei Gitarrenspieler werden von der Polizei verprügelt, worauf die ganze Stadt in Aufruhr gerät. Unbeteiligte werden niedergeschlagen und verhaftet von Protesten und Gegenangriffen seitens der Studenten begleitet. Helga gerät in den Krawall, wird ebenfalls leicht verletzt und flieht vollkommen aufgelöst und zitternd in den Fuchsbau, wo sie einen hysterischen Schreikrampf hat. Sie, die sonst so beherrscht ist, kippt hier ins ganze Gegenteil - sie ist hysterisch und kann mit der erlebten Situation nicht umgehen.
Diese Nacht wird zum politisierenden Erlebnis für Helga. Ohnmächtig und zutiefst erschüttert erlebt sie die Konfrontation mit der Polizei: "Das war das erste Mal, daß wir so etwas zu spüren bekamen. Diesen Haß der Staatsmacht auf alles was jung war. Was nicht an ihre spießige Ordnung glaubte"(Teil 5). In ihrem ersten Schock will sie fliehen und alles vergessen, weil sie sich machtlos fühlt gegen die Staatsgewalt. Hermann, dessen Gitarre von der Polizei zertrümmert wurde ist viel offensiver und meint, er sei doch kein Hund, der den Schwanz einzieht. Hermann versucht sich zu wehren und protestiert erfolglos bei der Polizei. Helga hingegen flieht nach Hause, nach Dülmen in den Schoß der Familie. Diese Flucht gesteht sie sich aber als solche nicht ein, um sich nicht als feige oder unsolidarisch betrachten zu müssen.
Zuhause angekommen, wird nach der anfänglichen Wiedersehensfreude schnell deutlich, daß Helga nicht mehr die Tochter ist, wie sie die Eltern sehen. Helga hat sich verändert, ist eine eigenständige Person mit einer eigenen Meinung geworden. Es gibt Streit anläßlich der Fernsehbeiträge über die Unruhen in München. Ihre Eltern lehnen die Haltung der Studenten ab: "Diese verzogene Großstadtjugend. Gut, daß du da nicht dabei bist"(Teil 5). Eine Auseinandersetzung über die politischen Verhältnisse und die Krawalle findet zwischen Helga und ihren Eltern nicht statt. Der Vater bleibt autoritär bei seiner Meinung und der Vorstellung, daß die Tochter nicht zu widersprechen habe und Helga versucht nicht ihren Eltern ihre Haltung nahezubringen.
Während Helgas Aufenthalt zuhause tritt die Kluft zwischen den Lebens - und Wertvorstellungen der Eltern und den ihrigen immer deutlicher zutage.
Die Flucht ist mißlungen, Helga kann ihre frühere Rolle in der Familie nicht mehr einnehmen. Ihr ehemaliges Zimmer ist wie ein Spiegel dieser Situation: es ist eingerichtet, wie Helga es verlassen hat - ein Mädchenzimmer voller Puppen. Ihre Freundin sagt treffend: "Die Zeit steht Zuhause still bei dir"(Teil 5). Das Zimmer zeigt eine Helga, die sie , ohne sich darüber bewußt zu werden, lange hinter sich gelassen hat.
Doch die Eltern wollen das nicht wahrhaben, setzen sich nicht mit ihr auseinander, obwohl sie das geliebte einzige Kind ist, auf das sie stolz sind. Ihr Vater hält anläßlich ihres Geburtstages eine Rede über ihren Charakter und ihre Persönlichkeit, die sie immer respektiert hätten und ist sich nicht im klaren, daß er eben dies nicht tut.
Helgas Aufenthalt Zuhause wird zu einem einzigen Protest gegen die Vorstellungen ihrer Eltern und der kleinbürgerlichen Gesellschaft Dülmens. Sie streitet und greift ihre Eltern mit harten Worten an: "Es ist nicht auszuhalten, wie verlogen hier alles zugeht" und "Verdammte Spießerfamilie, könnt ihr mich denn nicht einmal in Ruhe lassen! Ich werde hier noch wahnsinnig!"(Teil 5). Sie provoziert ihre Umwelt, indem sie Hermann, der zu Besuch gekommen kommt, öffentlich küßt und ihre unkonventionelle und freie Haltung demonstriert, die den Moralvorstellungen ihrer Eltern vollkommen widerspricht.
Diese Rolle spielt sie auch vor ihren Freundinnen: die Großstädterin, die frei ist von kleinkarierten Vorstellungen, macht was sie will und zudem Künstlerin ist. Die emotionale Verfassung Helgas interpretieren die Freundinnen als Verliebtsein und bemerken ihre innere Haltlosigkeit nicht.
Als Hermann kommt sind es die beiden Freundinnen, die sich frei und unkonventionell verhalten und Helga damit seelisch überfordern. Die beiden beginnen Hermann zu verführen und Helga nimmt voller Angst daran teil - so verkrampft, daß sie ohnmächtig wird.
Alle Situationen, denen sich Helga seelisch nicht gewachsen fühlt, begegnet sie mit innerer Verkrampfung und einer Kampfposition, um sich gegen die Überforderung zu schützen. Sie kann Erlebnisse nicht verarbeiten und gleichzeitig kann sie ihre Gefühle ihrer Umwelt nicht offenbaren. Die einzige Möglichkeit sich zu öffnen, hat sie in hysterischen Überschußreaktionen.
Dieser Kampf, den sie gegen sich und ihre Umwelt führt, ihre Willensstärke, macht sie in einer Art geschlossenem Kreislauf immer noch verkrampfter. Unbewußt weiß sie darum und leidet: "Ich wollte alleine sein und gleichzeitig wäre ich am liebsten in eine riesige Menschenmenge eingetaucht. Wäre nur eine Stimme von 1000 Stimmen gewesen. Hätte mein Bewußtsein dort verloren als Teil eines großen, allgemeinen Aufschreis. So fühlte ich mich"(Teil 5).
Zurück in München verschlimmert sich Helgas seelische Verfassung zunehmend. Ihre Liebe zu Hermann findet keine Erwiderung. Doch Helga gibt nicht auf, sondern demütigt sich immer weiter, inszeniert theatralisch Konfrontationen, setzt sich auf Nägel, bis sie von Hermann, der mit ihrem Verhalten nichts anfangen kann, abgewiesen wird.
Helgas einzige Zuflucht, der Fuchsbaukreis, hat sich verändert. Die Freunde haben eigene Sorgen oder sind beschäftigt mit ihren Projekten. Die Gruppe beginnt sich aufzulösen. Helga verliert ihren einzigen seelischen Halt.
Hysterisch und verzweifelt trifft Helga Alex auf der Straße und stürzt sich in seine Arme: "Alex, halt mich fest, ich glaube, ich werde verrückt" und sich auf die Brust deutend: "Mir tut das so weh hier drin"(Teil 6). Alex nimmt sie mit zu Olga.
Konfrontation mit der Realität
So treffen drei der Heimatlosen und Erfolglosen zusammen: Olga, die erfolglos Ansgar liebte und als Schauspielerin unentdeckt bleibt, Alex, der nichts kann und tut, außer zu philosophieren, und Helga.
In der folgenden Szene kommt es zum Streit, in dem Olga die Zustände klar benennt und Helga die Wirklichkeit vor Augen führt. Olga spricht das erste Mal aus, daß sie eigentlich keine Freunde sind und sich im Gegenteil nicht einmal leiden können. Olga: "Und warum treffen wir uns an diesem ekelhaften Novembertag? Weil wir nämlich am Ende sind, alle drei am Ende:"[...] "Du liebst den Hermann, kriegst ihn aber nicht. Er schläft manchmal mit dir, ja. Aber seine Seele ist weit - er ist auch eines dieser arroganten Genies". [...] "Sie basteln an ihrer Unsterblichkeit...wir sind keine Genies"(Teil 6).
Helga, die vollkommen niedergeschmettert von diesen Aussagen, die sie als Wahrheit anerkennen muß, in die Hocke gegangen ist, kann nur noch einwenden, daß sie Gedichte schreibe. Aber auch dieses Letzte wird ihr von Olga zerstört: "Ja, schöne Liedertexte für Hermann"(Teil 6).
Olga führt Helga die Wirklichkeit vors Gesicht: die vermeintlichen Freunde sind keine, sie selbst ist erfolglos und am Ende, Hermann liebt sie nicht, ihre Gedichte sind keine Kunst.
Helga springt auf und droht die Stadt zu verlassen : "München ist eine Illusion."(Teil 6). München, Inbegriff eines anderen Lebens, einer andern Helga - ihre Chance - erkennt sie als Fassade, als Traum.
In Reaktion auf den Vorfall versucht sich Helga das Leben zu nehmen. Theatralisch geschminkt und das Zimmer voller entzündeter Kerzen, inszeniert sie ihren Tod, doch sie wird gefunden. Stefan rettet ihr das Leben.
Ob sie wirklich daran dachte, zu sterben sei dahingestellt, zumindest erzählt sie allen Freunden provokativ von ihrem Versuch: "Ich bin leider heuten bißchen invalide. Ich hab mich nämlich vergiftet"(Teil 6). Doch die Reaktionen der anderen sind nur schwach, die gewünschte Aufmerksamkeit oder sogar das Schuldbewußtsein der Freunde bleibt aus.
Nach ihrem Selbstmordversuch beginnt Helga sich zu verändern. Sie trägt jetzt nur noch schwarz, meistens Leder und eine dunkle Sonnenbrille und verhält sich sehr distanziert und kühl zu den anderen. Stefan, mit dem sie seit ihrem Selbstmordversuch wieder liiert ist, sagt: "An dich ists unglaublich schwer ranzukommen. Du lebst hinter 1000 Glasscheiben"(Teil 7). Doch Helga gefällt diese Aussage. Die beiden betrachten sich in einem Spiegel, der ihre Gesichter nur schemenhaft wiedergibt. Helga: "Das sind wir." Stefan: "Ohne Gesichter?" Helga: "Tot"(Teil 7).
Helga ist resigniert, frustriert und verbittert. Sie reagiert zunehmend aggressiver auf ihre Umwelt und attackiert oder konfrontiert andre. Sie hat die einstige Helga, die, die Hermann liebte und den anderen gefallen wollte, hilflos war - schlicht die Vergangenheit - begraben. Dies äußert sie demonstrativ in der Farbe ihrer Kleidung, aber auch in anderen Zusammenhängen zu Hermann. "Ich bin deine Witwe"(Teil 7).
Helga hat sadistische wie auch masochistische Züge. In Beziehung zu Hermann quälte sie sich selbst, kasteite sich Letztendlich provozierte sie eine radikale Ablehnung, die sie sehr verletzte. Mit Stefan ist es der umgekehrte Fall. Was sich schon früher in ihrem Verhältnis andeutete, lebt Helga jetzt völlig aus. Sie quält Stefan wie sie kann. Doch letztendlich erzeugt sie durch ihr Verhalten auch Gegengewalt. Sie hält Stefan sexuell so lange hin, spielt mit ihm, bis er sie vergewaltigt (zumindest nähert er sich ihr gewalttätig). Helga verachtet Stefan, weil er sie liebt.
Während die ehemaligen Freunde einen eher konventionellen Lebensweg einschlagen, Familien gründen und Karriere machen, betätigt sich Helga für den SDS. Sie hat einen neuen Kreis von Menschen gefunden, in dem sie die Rolle der Führerin und Organisatorin spielt.
Obwohl Frau Cerphal den Zutritt zum Fuchsbau verboten hat, nimmt Helga ihre neuen Freunde zu Versammlungszwecken in ihre alte Heimat mit. Die Studentenbewegung und Politik ist Helgas neuer Lebensinhalt, ihre Aufgabe.
Glücklich berichtet Helga jedermann von ihrer Schwangerschaft, doch als das Kind zur Welt kommt, benimmt sie sich im gegenüber eher lieblos. Da sie ihren Sohn ohne Partner aufziehen muß (die Beziehung zu Stefan besteht mittlerweile nicht mehr), gibt sie das Kind zu ihren Eltern. Die Mutterrolle gibt ihr nicht den Lebensinn, die Aufgabe, die sie sich gewünscht hat.
Die Jugend und Vergangenheit wird anläßlich einer Trauerfeier für den abgerissenen Fuchsbau symbolisch beerdigt. Alle ehemaligen Freunde kommen zusammen. Helga tritt provokant und aggressiv auf, wie immer in schwarzem Leder und mit Sonnenbrille gekleidet. Als sich durch ihr Verhalten ein Streit entzündet und Hermann entnervt äußert, daß er diese Feier nur veranstaltet habe, wegen der Freundschaft, um ein Zeichen zu setzen, sagt Helga aggressiv: "Vorbei ist vorbei"(Teil 10). Sie greift die anderen an: "Ihr mit eurer sentimentalen Kacke"(Teil 10) und betitelt den Fuchsbau, der einstmals für alle so wichtig gewesen war, als einen zufälligen Ort aus den Studentenjahren. Helga schleudert der Gruppe ihre Verbitterung und ihre ehemaligen Verletzungen und Mißerfolge verbal und mit ihrem Verhalten vor die Füße. Sie hat sich mittlerweile innerlich ganz entfernt von den alten Zeiten, ist emotional unabhängig und macht dies den ehemaligen Freunden, die sie damals alleine gelassen haben, deutlich.
Helgas Entwicklung von 1967 bis 1970
Die gesellschaftlichen und politischen Ziele der Studentenbewegung verändern Helga. Sie tritt betont lässig und unkonventionell auf, lebt alternativ in Kommunen, raucht Joints, spielt gleichzeitig aber klar eine der zentralen Figuren der Bewegung, ist eine "knallharte Lady, die nicht lange fackelt". Hermann stellt ihre Veränderung mit Bedauern fest und fragt sie nach ihren Gedichten. Helga: "Es gibt Zeiten, in denen es wichtigeres zu tun gibt, als Gedichte zu schreiben [...] Wir Intellektuellen haben die Verantwortung für die Demokratie im Land. Und genau in diesem Punkt haben 1933 die meisten deutschen Künstler versagt. Das darf sich nicht wiederholen"(Teil 11).
Die ehemaligen Freunde haben kein Verständnis für ihre politische Tätigkeit - im Gegenteil, sie stört die anderen nur, wo immer sie auftritt. Stefan, den sie während seiner Dreharbeiten aufsucht, belehrt sie über sein Drehbuch: "Du kannst Figuren nicht mehr losgelöst von ihrer gesellschaftlichen Funktion zeigen [...] Das sind gesellschaftliche und historische Fakten, das kannst du nicht mit Gefühlen beschreiben"(Teil 12). Stefan reagiert traurig nachdenklich: "Ausgerechnet du. Niemand war je so gefühlsmäßig wie du"(Teil 12).
Doch Helga reagiert nur mit einem Lächeln und fordert ein Mitspracherecht, da der Film von Steuergeldern der Arbeiterklasse finanziert würde. Sie hat ihre Gefühle schon lange beerdigt, ist zur Maske geworden. Die Politik bietet ihr die Rolle, die sie braucht. Doch die Gesinnungsgenossen des SDS und der Kommune sind ihr bald zu inkonsequent. Die chaotischen Lebensverhältnisse und das viele Gerede und Diskutieren erträgt sie nicht mehr. Helga genügen Worte nicht, sie will die geistigen und politischen Ziele in die Praxis umsetzen. Zur Kommune sagt sie: "Ich habe echt wichtigeres zu tun, als eure kleinbürgerlichen Privataffären.."(Teil 12).
Als der alternative Kinderladen einer Brandstiftung zum Opfer fällt, ist Helga fassungslos und traurig. Sie empfindet die Tat als Terror. Innerhalb eines Interviews mit einem Journalisten, der anläßlich des Brandes recherchiert, wird sie gefragt, ob sie auch denke, daß der Imperialismus ohne Gewalt abgeschafft werden könnte, sagt sie: "Schwierig"(Teil 12). Auf die Frage, ob sie für Gewalt sei, sagt Helga nach einer bedeutungsvollen Pause: "Es bleibt immer ein Widerspruch"(Teil 12). Die Augen sind in dieser Einstellung halbverschattet und ihr Einstieg in die terroristische Szene kündigt sich an.
1970 wird Helga per Fahndungsphoto als Mitglied der Baader - Meinhof - Bande gesucht. Sie taucht mit anderen Gesuchten bei Stefan auf, dessen Wohnungsschlüssel sie noch hatte. Stefan, der sie immer geliebt hat, duldet sie und schüttelt verständnislos, traurig den Kopf: "Wie kannst du nur so leben?" Helga antwortet: "Ich werde endlich gebraucht"(Teil 13).
Gudrun Ensslin sowohl als auch Helga sind in einem Dorf, bzw. einer Kleinstadt 1940, bzw. 1939 geboren und dort auch aufgewachsen. Beide Väter haben einen sozialen Beruf, den des Lehrers, bzw. Pfarrers. Im Unterschied zu Gudrun Ensslin wuchs Helga als Einzelkind auf und wurde in ihrem Elternhaus nicht mit religiösen, politischen und gesellschaftlichen Inhalten konfrontiert. Beide sind in ihrer Jugend wohlerzogene nette junge Mädchen, die angenehm auffallen. Sowohl Gudrun Ensslin als auch Helga kommen zu Studienzwecken in die Großstadt und treten dem SDS bei. Beide erleben erschüttert die Reaktionen der Polizei auf die Unruhen und Demonstrationen dieser Zeit. Helga, wie auch Gudrun Ensslin reagieren hysterisch auf das gewalttätige Vorgehen der Beamten. 1967 bekommen beide einen Sohn, ein Wunschkind. Gudrun, wie auch Helga sind alleinerziehend und geben ihr Kind zu den Eltern. Zwischen 1963 bis 1970 sind beide zunehmend politisch aktiv, bis sie in den Untergrund abtauchen.
Die Daten und Angaben zu Helgas Person entsprechen den geschilderten Ähnlichkeiten terroristischer Biographien. Helga stammt aus einem überdurchschnittlichen gesellschaftlichen Herkunftsniveau. Ihre Eltern haben es in der Nachkriegszeit zu Wohlstand gebracht, verwöhnen ihre Tochter materiell, können und wollen aber ihre gesellschaftliche Haltung nicht verstehen. Helga hat das Abitur und studiert - scheint ihr Studium aber zu einem gewissen Zeitpunkt abgebrochen zu haben.
Helga ist sprachlich gewandt und intelligent. Sie lebt in Kommunen in München, später in Berlin - sprich in Großstädten.
Helga - Sozialisation von Terroristen
Verlauf der unpolitischen Vorphase
In Helgas Familie herrschen kleinbürgerliche Vorstellungen und konventionelle Verhaltensformen. Der Vater ist autoritär und beherrscht die ganze Familie. Politische Diskussionen oder eine Auseinandersetzung mit Helgas Einstellung zur Welt findet nicht statt. Helgas Veränderung durch ihr Leben in der Großstadt, in Kommunen, in anderen Werte - und Lebensvorstellungen, können und wollen die Eltern nicht nachvollziehen.
Somit entspricht Helgas Entwicklung der Verlaufsform "Äußerlich günstige Sozialisationbedingungen, gekennzeichnet durch familiäre Spannungen." Auch Helga bezieht zunächst durch ihr Verhalten Antiposition gegenüber den Eltern und der Kleinstadt.
Helga lebt in Kommunen und sucht die Bindung in der Gruppe. In ihrem Fall liegen die Gründe hierfür einmal in ihrer Einsamkeit in der Großstadt und dem natürlichen Wunsch mit Gleichaltrigen zusammenzuleben. Aber auch ihre Kontaktschwierigkeiten, ihre Unfähigkeit auf andere zuzugehen, sich zu öffnen und ihr Bedürfnis nach Beachtung sind Gründe. Ihre Unsicherheit, ihre Minderwertigkeitsgefühle und Depressionen können durch gemeinsame Aktionen überdeckt werden. Helga fehlt ein Lebenssinn, eine Aufgabe und sucht in der Gruppe die Ablenkung von ihrer eigenen Problematik.
Psychische Disposition für extreme Gruppierungen
Helgas Ablösung von zuhause, ihre Desorientierung bezüglich der Zukunft und ihre Idenditätssuche führen sie zunächst in die Gruppe im Fuchsbau. Sie findet dort den Halt, die emotionale Zuwendung und die Geborgenheit, die sie braucht.
Helga hat Angst vor ihrer eigenen Verlorenheit, hat Angst im Grunde genommen vor sich selbst und dem Leben. Doch der Fuchsbaukreis bietet ihr das von ihr benötigte seelische Auffangbecken nur im begrenztem Maße. Als sie in (Teil 6) mit Erschütterung realisiert, daß sich die ehemaligen Freunde auseinanderleben , sie also wieder alleine mit sich ist, führt das zu einem der Gründe ihrer tiefen Krise, die im Selbstmordversuch endet. Helga benötigt eine engere Gruppenbindung, die einerseits ihre Abhängigkeit besser tragen kann - sie andererseits im Zirkelschluß noch abhängiger macht.
So wendet sie sich einer neuen Gruppierung innerhalb der Studentenbewegung zu. Hier erfährt sie durch ihre Rolle, eine neue Selbstdefinition, ein neues gemeinsames Ziel und einen stärkeren Zusammenhalt.
Mißerfolgserlebnisse als Vorläufer der späteren Abwendung von der Gesellschaft
Die Anerkennung als Künstlerin bleibt Helga versagt. Keiner der Freunde hat Interesse an ihren Gedichten und Texten. Olga benennt es in Teil 9 klar: ihre Gedichte dienen bestenfalls als Liedertexte. Da ihr das Studium offenbar keine Aufgabe stellt, bleibt Helga unausgefüllt und erfolglos zwischen den erfolgreichen, begabten Freunden. Die unausgefüllte Zeit und ihr Bedürfnis nach geistigen Inhalten kann sie erst mit ihrer politischen Aktivität decken. Hier hat sie Erfolg und wird als führende Person anerkannt. Ihr unstrukturiertes Leben bekommt Form.
Helgas Anschluß an politische Gruppierungen kann von den ehemaligen Freunden nicht nachvollzogen werden. Die Kommunikation mit Andersdenkenden läßt nach - Helga setzt sich nur noch mit ihren Gesinnungsgenossen auseinander, isoliert sich zunehmend von der Umwelt.
Zwischen Helga Aufschrey und Gudrun Ensslin gibt es einige biographische Ähnlichkeiten, doch kann kein direkter Vergleich gezogen werden. Trotzdem ist Helga als weibliche Akteurin eine durchaus realistische Person dieser ersten Terroristen - Generation.
Ihr Charakter entspricht allen geschilderten Ähnlichkeiten von terroristischen Biographien. Auch die im Theorieteil beschriebene Sozialisation von Terroristen in Gruppenbindungen stimmen mit ihrem im Film gezeigten Werdegang überein. Die Person scheint nach genauen Studien zu Terroristen entwickelt worden zu sein und ist mit Noemi Steuer gut besetzt. Die Schauspielerin erfüllt vom Typ her schon die geforderte "Eckigkeit" und Härte mit ihrer spröden Art.
Vergleicht man die Biographie Edgar Reitz mit der Hermanns und die Entwicklungen des Freundeskreises mit denen der jungen Menschen um den Autor in seinen frühen Münchener Jahren, so stellt man eine Unmenge von Parallelen fest, die bis zur vollständigen Gleichheit sogar der Namen reichen.
Hermann kommt ebenso wie Reitz aus dem Hunsrück, ist ebenso durch sein Elternhaus und die Dorfgemeinschaft von seiner elf Jahre älteren Liebe Klärchen getrennt worden. Er hat sich mit seinen ebenso kunstsinnigen Freunden in einer Villa, genannt der Fuchsbau getroffen, hat eine aus einem Hunsrücker Nachbardorf stammende Frau geheiratet und wurde nach etwas mehr als zehn Ehejahren wieder von ihr geschieden.
Übereinstimmungen dieser äußerlichen Art lassen sich noch unzählige weitere finden, doch sind es nicht nur die Eckdaten, die mit Reitz persönlicher Biographie übereinstimmen. Auch die Wünsche Reitz als auch die seiner Freunde gleichen denen der Personen der "Zweiten Heimat". Man ist zugereist in München, kämpft mit Sprechkursen gegen den heimatlichen Dialekt an, um so vollständige Integration in der neuen Heimat, insbesondere der Kulturszene zu erreichen - und träumt vor allen Dingen von der "Neuen Kunst", die frei sein soll vom Mief des Wirtschaftswunder-Deutschlands der Adenauer-Ära.
Auch das Verhältnis Reitz zu seinen kulturellen Mitstreitern ist geradezu identisch mit dem unserer Protagonisten aus dem Film. Der im realen Fuchsbau verlesene Text "Il Grande Fiesta" beschreibt die nicht immer aggressionsfreie Stimmung der sich dort regelmäßig zusammenfindenden Bohème sehr anschaulich und zeigt deutlich die Parallelen zu ihrem fiktiven Spiegelbild der "Zweiten Heimat":
Die Zimbeln lärmten. Ashtons Feinde betraten streng hintereinander das Zimmer. Sie trugen rote Gesichter zu grauen geplätteten Anzügen. Drei Feinde wurden noch erwartet. Dann kamen die Verlobten. Sie setzten sich auf Stühle und sahen sich nicht an. [...] Die Gläser schlugen klirrend aneinander. [...] Nach einiger Zeit bemerkte der fünfte Feind, das nur noch der vierte Feind Gruppe bildete und fragte nach den Verlobten. [...] , und daraufhin sprach er von Filmen und so sprach auch Ashton von Filmen, bis er bemerkte, daß er gar nicht von Filmen, sondern von Schlössern gesprochen hatte... [...] Und es war ein Fest, und es war eine Versöhnung, und es waren Feinde."
Daß hier die Freunde als Feinde bezeichnet werden, zeigt, wie sehr sich die Szenen ähneln müssen. Die Freunde bedürfen einander des Rückhaltes wegen in einem München der sechziger Jahre, das sich vor allen Dingen gegen die Veränderung und damit auch gegen die Künstler wehrt, die sie herbeiführen wollen. "Diese Stadt will uns nicht, läßt Reitz Hermann Simon in Teil 5 sagen. Doch sie sind auch Konkurrenten, die darum wetteifern, der Beste zu sein und im Mittelpunkt ihrer Cliquenwelt zu stehen. In Cliquen wird wie in Familien die Liebe zu ihren eigenen Anfängen kultiviert.
Sie enthalten ein Element der "Zweiten Kindheit". Innerhalb einer Clique kann es große Streitigkeiten geben. Einer kann den nächsten ebenso bekämpfen, wie das Geschwister und Verwandte oft tun. Es gibt Cliquen, die völlig zerstritten sind wie manche Familien, es gibt aber auch die Einigkeit, die gemeinsame Suche nach Glück,
schreibt Edgar Reitz in seinem Buch "Zweite Heimat".
War die Familie jedoch etwas, aus dem fast alle jungen Künstler entflohen waren, um ihren autoritären Strukturen zu entkommen, so sollte die Clique eigentlich ein Ort der Gleichberechtigung sein. Das Bemühen um eine Form des Zusammenlebens, das frei von Hierarchien war, war eines der wichtigsten Ziele der Studentenbewegung. Sucht man nun Antwort auf die Frage, wie das Verhältnis Reitzs zu dieser Bewegung und ihren Zielen bzw. gesellschaftlichen Formen war, so kann man sich auch hier auf die oben aufgezeigte Authentizität der "Zweiten Heimat" verlassen - zumindest was des Autors Rolle in ihr betrifft. Immer wieder finden sich in der "Chronik einer Jugend" intensive Berührungspunkte mit der Studentenbewegung der sechziger Jahre. Sind jedoch die ersten Kontakte wie in Teil 5 (Hermann und Helga werden Opfer der radikal gegen die protestierenden Studenten vorgehenden Münchener Polizei), noch von eindeutiger Solidarität mit den Studenten gekennzeichnet, so ist später, z.B. im neunten Teil (Alex und Helga führen eine Gruppe Studenten an, mit denen sie in den für sie verschlossenen Fuchsbau eindringen, um dort die Aktionen gegen die drohenden Notstandsgesetze zu diskutieren), das Verhältnis bereits recht ambivalent. Trotz des offensichtlichen Schmerzes der Frau Cerphal um ihren soeben verstorbenen Vater sind die Protestler nicht ohne weiteres dazu zu bewegen, das Feld zu räumen.
Noch deutlicher wird der Zwiespalt des Regisseurs gegenüber der Antiautoritären Bewegung im zwölften Teil. Der autobiographische Part, der über lange Strecken des Werkes überwiegend von Hermann getragen wird, verlagert sich hier auf Stefan Aufhäuser. Dieser erlebt noch einmal die Geschichte des Autors, die seine zweite Spielfilmproduktion geprägt hat: bei den Dreharbeiten wird beschlossen, Abstand von der herkömmlichen Praktik der Filmproduktion zu nehmen, bei der an der Spitze einer hierarchischen Pyramide der Regisseur steht. Doch das Experiment mißlingt, weil unter demokratisierten Produktionsbedingungen das Chaos ausbricht. Die eigentliche Arbeit versickert in einer unendlichen Diskussion um die wahrhaft revolutionäre Darstellung des Drehbuchs, die Schauspieler bleiben dem Drehort zunehmend fern, die Übriggebliebenen beginnen, sich selbst vor der Kamera als Propheten der Revolution zu inszenieren. Als der Regisseur versucht, die Fäden des entgleitenden Projekts wieder in die Hände zu bekommen, meutert die Mannschaft. Die gesamten Tonaufnahmen verschwinden, um rechtliche Beweisstücke zu beseitigen. Schließlich taucht eine Filmerin der Avantgarde des Protestes auf und beschlagnahmt die Kamera im Namen des Proletariats (Ulrike Meinhof drehte mit der von Reitz "geliehenen" Kamera ihren Film "Bambule").
Reitz, später nach dieser Produktion befragt, äußert:
"Die Frage, was habt ihr eigentlich in Berlin gemacht, berührt eine Wunde."
Reitz gehörte 1962 zu den Unterzeichnern des Oberhausener Manifests, bei dem eine Handvoll Jungfilmer aus München auf einer Pressekonferenz ihren Anspruch erklärte, den "Neuen Deutschen Spielfilm" zu schaffen. Diese stellten einen großen Teil der jungen deutschen Avantgarde des Films dar, deren Werke bereits auf einer Reihe von Festivals viel Beachtung gefunden hatten. Ihr Motto war: "Papas Kino ist tot." Es gelang dieser Gruppe im Laufe der Zeit, eine Reformierung der Filmförderung durchzusetzen, die auch ihnen ermöglichte, mit Hilfe dieser Gelder weitgehend unabhängig vom kommerziellen Kinogeschäft zu produzieren. Die Oberhausener etablierten sich im Laufe der Zeit, und als die Unruhen von 68 begannen, war ihre eigene kleine Kulturrevolution schon in die Jahre gekommen. Waren die Jungfilmer noch in Anzug und Krawatte zu ihrer aufrührerischen Pressekonferenz erschienen, so brachte die neue Jugendbewegung ihre Parolen in Jeans und Rollkragenpullover vor. Nun hieß es: "Die Kunst ist tot." Im Gegensatz zu einigen seiner Jungfilmerkollegen aus der Oberhausener Zeit ließ sich Reitz nicht entmutigen, die neue Bewegung ernst zu nehmen, trotz oder gerade wegen der damals populären Parole "Trau keinem über dreißig!" Reitz war zu diesem Zeitpunkt schon über dreißig. Vielleicht ist sein Gefühl für diese Zeit geprägt durch den Ausspruch, den er später in der "Zweiten Heimat" Renate in den Mund legte: "Wir sind einfach acht Jahre zu früh geboren.."(Teil 12).
Fest steht, daß er sich auch später mit den Antiautoritären solidarisierte und trotz der Ärgernisse im Zusammenhang mit der Produktion "Cardillac" zusammen mit seinen Darstellern nach einer Nominierung für die Filmfestspiele in Venedig eine Einladung von dort ablehnte. In einer Presseerklärung ließ er verlautbaren:
[...] Wenn ein Festival wie die Filmbiennale etwas der Herrschaft der Filmkonzerne entgegensetzen will, muß es Methoden ersinnen, um die Filmemacher zu gemeinsamer Arbeit anzuregen. Es muß ihnen bewußt machen, daß die Überwindung der Kulturkonkurrenz darin besteht, das sich die einzelnen Filmemacher aus ihrer Isolation befreien und den Individualismus überwinden.
Dem aufmerksamen Zuschauer der "Zweiten Heimat", vor allem dem, der um die große Nähe zu Reitz Biographie weiß, mag dies etwas verwundern, legt der Autor Hermann und anderen hier doch immer wieder in den Mund, daß das Heil des Modernen Menschen nur im Individualismus liegen kann.
Der Umstand, daß Reitz immer Autorenfilmer war und auch sein wollte, weil er nur dann größtmögliche Unabhängigkeit für die Realisierung seiner Ideen hatte, wenn Drehbuchautor, Regisseur und Produzent in seiner Person vereinigt waren, legt den Schluß nahe, daß Reitz selbst eigentlich nie viel daran gelegen haben kann, seinen eigenen Individualismus zu überwinden. So kommt dem wirklichen Verhältnis Reitz zur Antiautoritären 68er -Bewegung vielleicht sein Satz aus einem 1972 geführten Interview am nächsten:
Mir ist jede Form des dogmatischen Verhaltens verhaßt. Darum komme ich auch mit den dogmatischen Linken nicht zurecht: die kommen mir vor wie Köche, die Salatblätter in Quadrate schneiden. Aber ich bin überzeugt davon, daß die Revolution eine unaufhaltbare Tendenz in der Gesellschaft ist. [...]
Vergleicht man die "Zweite Heimat" mit den tatsächlichen Ereignissen um 1968, so läßt sich feststellen, daß an allen Stellen, wo der Film Berührungspunkte mit historisch gegebenen Ereignissen hat, ihre Darstellung über das Maß durchschnittlicher Geschichtskenntnis hinaus gut recherchiert sind. Betrachtet man im Detail die Dialoge und die Beziehungen der Figuren untereinander, so stellt man fest, daß sie von einer merkwürdigen Ambivalenz geprägt sind. Insbesondere die Figur der Helga, die als einzige von allen Mitgliedern des Freundeskreises in die Szenerie der Studentenrevolte und später der RAF eintaucht, erfährt eine deutliche Änderung in der Art der Darstellung. Wird durch die Weise, in der ihre Person gezeichnet ist zunächst noch Sympathie oder zumindest Mitgefühl beim Zuschauer geweckt, so verliert sich dieses im Laufe des Filmromans. Durch eine Überzeichnung der Dialoge, die sie ideologisch verblendet und oft grotesk verzerrt erscheinen läßt, verliert die Darstellung über weite Strecken (Teil 10 - 13) an Glaubwürdigkeit. Die Charaktere werden häufig reduziert auf Prototypen, die Dialoge haben oft triviale Züge.
Erinnert man sich der Rolle des Stefan Aufhäuser und vergegenwärtigt man sich das Edgar Reitz ähnliches erlebt hat, so wird verständlich, warum des Autors Verhältnis zu dieser Zeit, ihrer Ideologie und damit auch seiner Darstellung zwiespältig bleibt. Reitz versuchte, anders als manch einer seiner Oberhausener Kollegen Anschluß an die Szene der Studentenbewegung zu finden. Dies gelang ihm offensichtlich nur teilweise. Betrachtet man, wie Hermann im Film als fast 30-jähriger in Berührung mit den Sitten einer Berliner Kommune kommt und sich irritiert zurückzieht, so kann man nachempfinden, wie wenig der Autor sich mit der 68er-Kultur identifizieren konnte. Alle Figuren, die der Autor für die "Zweite Heimat" konzipiert hat, sind knapp ein Jahrzehnt älter als die ProtagonistInnen der Studentenbewegung. Und auch sie stellen fest, daß sie für die Revolution acht Jahre zu alt sind. Der Autor ist es auch.
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