Wissen

Sein oder Nichtsein ist keine Frage mehr

"Welten des Bewusstseins", ein interdisziplinärer Kongress in Heidelberg, rührt an grosse Fragen und zeugt von babylonischen Verwirrungen

Im Jahrzehnt des Gehirns, zu dem George Bush die neunziger Jahre ausgerufen hat, entgleitet der Philosophie das Bewusstsein. Vierhundert Jahre nach René Descartes geht die Seele im Leib auf. Dasselbe lässt sich von ihren Vertretern nicht behaupten; Geistes- und Naturwissenschaften bleiben misstrauisch auf Distanz.

VON JEAN-MARTIN BÜTTNER, HEIDELBERG

Es gibt keine Wirklichkeit, nur Wirklichkeiten. Die bestürzendste unter ihnen ist die Wirklichkeit über uns selber. Seit zweieinhalbtausend Jahren sagt der Buddhismus, dass es kein Selbst, keine Seele gäbe und das Ich eine Illusion sei. Je feiner die Fachbereiche der Hirnforschung ihre Instrumente justieren und je mehr Daten sie mit ihrer Hilfe zusammentragen, desto mehr nähern sie sich demselben Schluss: Das Bewusstsein ist ein Konstrukt.

Das beginnt mit dem Zeitgefühl. Was wir Gegenwart nennen und als Kontinuum wahrnehmen, ist das Resultat neuronaler Rekonstruktionen. Das Gehirn rezipiere Zeit nicht im Newtonschen Kontinuum, sagt der Psychologe Ernst Pöppel, sondern ruckartig. "Und alle dreissig Millisekunden fragt es, was in der Welt passiert ist." Eintreffende Reize unter dieser Zeitdauer können nicht mehr zeitlich geortet werden. Umgekehrt ist das Gehirn auch nicht in der Lage, Informationen während mehr als drei Sekunden zu einer einzigen Wahrnehmungsgestalt zu gruppieren. Diese obere Grenze ist kulturunabhängig und erklärt die Länge der meisten Informationseinheiten wie Verse, Refrains, überhaupt musikalische Motive, Slogans, Betonungen, Rhetorik und selbst das Händeschütteln.

Auch was wir das Ich nennen, ist nach Auffassung der Neurowissenschafter eine Illusion, genauer und in den Worten des Medizin-Nobelpreisträger Gerald Edelman: Produkt eines "neuronalen Darwinismus". Also eine evolutionäre Strategie, einstürmende Aussen- und Innenreize so zu ordnen, dass der Organismus daraus Handlungsabfolgen ableiten kann. Was der einzelne als Identität wahrnimmt, erweist sich in den Worten des Philosophen Thomas Metzinger als das Resultat von Informationsverarbeitungsprozessen im zentralen Nervensystem. Ein Bewusstseinszustand dann als mentales Modell der Realität, als dynamische, von unserem Gehirn aufgebaute Datenstruktur, kurz: "Werden wir nicht errechnet, so gibt es uns nicht."

Die Welt hinter den Augen

Das Selbstverständnis, sich als Subjekt zu empfinden, definiert Metzinger als "mentales Selbstmodell", als inneres Bild, das eine Person von sich selbst in ihrer Umwelt erzeugt. Oder von sich simuliert, etwa wenn sie über zukünftige Entwicklungen nachdenkt. Soweit dieses Modell perspektivisch organisiert wird, erhält die Welt "einen fiktiven, aber erlebnismässig unhintergehbaren Mittelpunkt hinter den Augen". Dieses Selbstmodell ermöglicht es dem Organismus, ein gehaltvolles Abbild der Realität zu erzeugen und zwischen internen und externen Zuständen zu unterscheiden. Aber das Selbst bleibt Modell und das Ich somit eine Illusion, Resultat einer Rechenleistung, wie der Philosoph Paul Churchland ausgerechnet hat, die aus den möglichen Konfigurationen im Gehirn von 10100 Kontakten resultiert; im Vergleich: Die Zahl der Elementarteilchen im Universum wird auf 1087 geschätzt.

So überlebt der Mensch als ein Niemand, der glaubt, ein Jemand zu sein. Sein oder Nichtsein ist keine Frage mehr. Wie wichtig diese Täuschung ist, zeigen Patienten mit Hirnschädigungen, denen diese Leistung nicht mehr gelingt. Normalerweise funktioniert die Täuschung so vollkommen, dass der Organismus sie selbst nicht wahrnehmen kann. Die Informationsverarbeitung im Gehirn läuft so zuverlässig ab, das subjektive Bild der Welt wird so schnell aufgebaut, dass das System, das diese mentale Modelle erzeugt, sie nicht mehr als solche erkennt.

Der Traum als Welt

Auch veränderte Bewusstseinszustände oder Träume sind das Ergebnis neuronaler Prozesse. Es werden bloss andere mentale Modelle der Welt und des Selbst aufgebaut. Es sind oft lückenhafte Modelle, dabei können sie sehr stabil sein. Im Traum sind Hintergründe oft undeutlich, Figuren schemenhaft. Dennoch merken wir fast nie, dass wir träumen. Und auch wenn wir, etwa unter LSD, um eine Halluzination wissen, bringt dieses Wissen sie nicht zum Verschwinden.

Das veränderte hat dem normalen Wachbewusstsein die Einsicht voraus, dass alles Schein sei. Der Rausch wird ja von Nüchternen als jener Zustand definiert, in dem wir nicht mehr wissen, wer wir sind. Er soll dem Denken gegensätzlich sein; Rausch als Illusion. Doch der Gegensatz ist nicht haltbar. Wie kann man vergessen, wer man ist, wenn gar nicht sicher ist, wo, wie und überhaupt: ob man denn sei? "Die Halluzination hilft, die Wirklichkeit so zu sehen, wie sie ist", sagt der Anthropologe Roland Fischer. Nämlich als ein Chaos einprasselnder Reize, Empfindungen, Körperbilder, im Normalzustand derart zurechtgefiltert, dass daraus die wahnhafte Vorstellung erwächst, Wirklichkeit sei stabil, vollständig, objektiv überprüfbar.

Der Rausch macht deutlich, wie relativ Wirklichkeit ist. Und wie brüchig das Bewusstsein, das diese Wirklichkeit als solche hinnimmt. Die neuen Erkenntnisse verlangen von uns, uns als Subjekt wegzudenken: eine unlösbaren Aufgabe. Der Rausch bietet einen Lösungsersatz. Somit bildet er nicht mehr den Fluchtpunkt des Denkens, sondern seinen Ausgangspunkt. Schon Walter Benjamin sprach vom "Denken als Form des Rausches". Die Formulierung ist aus heutiger Sicht umkehrbar: Rausch auch als Form von Denken.

Um welchen Rausch es sich handelt, spielt keine Rolle. Jede Ekstase weist unabhängig von ihrer Auslösung gemeinsame Merkmale auf. "Egal welches Reisemittel man wählt", sagt der in Zürich forschende Statistiker und Psychologe Adolf Dittrich, "man kommt immer in denselben Raum." Von der Substanz und Dosis hängt allenfalls ab, wie tief man in diesen Raum vordringt.

Überall ist Babylon

Mit Hilfe der veränderten Wachbewusstseinszustände die Illusionen des Bewusstseins zu verstehen: Diese Hoffnung eint die Forschenden, die sich kürzlich in Heidelberg zum zweiten Kongress des Europäischen Collegiums für Bewusstseinsstudien (ECBS) zusammendrängten. Die Vereinigung bemüht sich seit zehn Jahren, Fachleute verschiedener Richtungen an der interdisziplinären Debatte zu beteiligen. Doch diese kommt nur schwer in Gang. Über die Relativität des Bewusstseins wird man sich einig. Über die Methoden seiner Erschliessung herrschen unter den Anthropologen und Physikerinnen, Philosophen und Ärztinnen, den Chemikern und Statistikern, Therapeutinnen, Neurophysiologen und Religionswissenschaftern babylonische Verständigungsprobleme. Zwar wird Syntopie beschworen, das Bestreben, verschiedene Disziplinen zusammenzudenken und aufeinander zu beziehen. Doch Syntopie setzt interdisziplinäres Wissen voraus und die Bereitschaft, sich überhaupt auf andere Denkmodelle einzulassen.

Nur so liesse sich, in den Worten der Physikerin Eva Ruhnau, "die Jagd auf Hypothesen" erleichtern. Bei dieser Jagd fallen die Geisteswissenschaften zurück. Dafür dominieren die Neurowissenschaften die Debatte. In den letzten zwanzig Jahren hat die Gehirnforschung mehr Erkenntnisse über Bewusstseinsprozesse zusammengetragen als in den zweihundert Jahren zuvor. Bewusstseinsforschung ist längst Hirnforschung geworden.

Die zu erwartenden Umwälzungen, schreibt Thomas Metzinger, werden eine neue Bewusstseinskultur, ein anderes Menschenbild, eine schwer abzusehende Umwertung sozialer, kultureller und medizinischer Fragen mit sich bringen. Parallel zu den neuen Kognitionswissenschaften entstünden neue Kognitionstechnologien, neue virtuelle Räume, neue Bewusstseinsdrogen, neue Formen der Heilung und Beeinflussung und, wie immer, eine Fülle ungelöster ethischer Probleme. Kurz: "Das Bild vom Menschen wird sich im kommenden Jahrhundert durch die Fortschritte der Neuro- und Kognitionswissenschaften tiefgreifender verändern als durch jede andere wissenschaftliche Revolution der Vergangenheit."

Bewusstsein, kartographiert

Eindrücklich dokumentierte die Naturwissenschaft in Heidelberg, wie weit sie mit der Kartographie des Bewusstseins gekommen ist. Vielleicht müsste man von Verfilmung sprechen. Denn wie die neuronalen Entsprechungen des Körperbildes im Cortex "im ständigen Kampf um Rechenleistung" ständig aufflackern und verlöschen, wie sich der Schizophrenieforscher Manfred Spitzer ausdrückt, lassen sich auch geistige Vorgänge als Hirnaktivität nachweisen. Selbst abstrakte Gedankengänge, glaubt die Forschung, sind theoretisch lokalisierbar. Gelerntes, Geübtes, eine Verhaltensänderung, ein schizophrener Schub müssen demnach Spuren hinterlassen. "Irgendwann", sagt Spitzer, "werden wir Wahnsysteme in Quadratmillimetern des Gehirns nachweisen können." Vom Nachweis zur Kontrolle ist es dann nicht mehr weit.

Bereits ist es möglich, mit Techniken wie der Positron-Emmissions-Tomographie (PET) die Hirnaktivität beim Auftreten veränderter Bewusstseinszustände nicht nur zu messen, sondern die einzelnen Zustände entsprechenden Hirnregionen zuzuweisen. Franz Xaver Vollenweider forscht seit über fünf Jahren am Zürcher Burghölzli über Hirnaktivität und Halluzinogene. Letzte Resultate aufwendiger Versuche an gesunden Probanden weisen darauf hin, dass zum Beispiel das rauschhafte Gefühl ozeanischer Selbstentgrenzung mit einer Überaktivität im Stirnbereich korreliert, während das Gefühl angsthafter Ichauflösung mit Stoffwechseländerungen im Thalamus einhergeht.

Die Schweiz hat als eines der wenigen Länder kontinuierlich die Wirkung von Halluzinogenen untersucht. Seit neustem wird die Forschung auch in anderen Ländern wie Deutschland oder den USA wiederaufgenommen. Eine restriktive Bewilligungspolitik hatte das Experimentieren und Therapieren etwa mit LSD während Jahrzehnten fast verunmöglicht. Jetzt spriessen wieder Resultate und Hypothesen. So erhält die Annahme der Modellpsychose wieder Auftrieb, wonach halluzinogene Erfahrungen helfen können, psychotische Erkrankungen zu verstehen. Auch diese Annahme wird jetzt von Neurowissenschaftern untersucht.

Descartes im Kopf

So entgleitet das Bewusstsein der Philosophie und wird eine Naturwissenschaft. Dabei wären die Naturwissenschaften auf die Theorien von Philosophie und Psychologie angewiesen, um ihre Erkenntnisse einzuordnen und begrifflich zu fassen. Um nicht in Reduktionismus zu verharren oder sich als wissenschaftliche Besetzer aufzuführen. Und um sich den ethischen Fragen zu stellen, die oft genug unbeantwortet bleiben, wenn die Positivisten ohne Aufsicht vor sich hin forschen.

Geistes- und Naturwissenschaften sind angetreten, Leib und Seele, heute würden wir sagen: Körperrepräsentanz und Selbstmodell, zusammenzudenken. Es zeigt sich, dass sie sich nicht einmal darüber verständigen konnten. Die Demarkationslinie verläuft immer noch entlang jener Trennung, die René Descartes, der überzeugte Dualist, vor knapp 400 Jahren gezogen hat.

Diese Trennung zwischen Leib und Seele mag wissenschaftlich überholt sein. Sie entspricht aber dem subjektiven Empfinden vieler, zumindest innerhalb des westlichen Wertesystems. Ernst Pöppel zufolge ist das Leib-Seele-Problem eher ein Fall für die Linguistik als für die Hirnforschung, Thomas Metzinger definiert es als Metapher. Sie führt zwar zu theoretischen Fehlschlüssen, bildet aber das Gefühl von Subjektivität und Körperbild nachvollziehbar ab. Dass auch die Wissenschaft sich der Metapher nicht entziehen kann, hat etwas Tröstliches: Selbst die Forschenden sind noch nicht so weit wie ihre Resultate.

Literatur: Ernst Pöppel und Anna-Lydia Edingshaus: Geheimnisvoller Kosmos Gehirn. München, C. Bertelsmann, 1994. Thomas Metzinger (Hrsg.): Bewusstsein: Beiträge aus der Gegenwartsphilosophie. Paderborn, Schöningh, 1996. Thomas Metzinger: Subjekt und Selbstmodell. Paderborn, Schöningh, 1993.

"Welten des Bewusstseins" - ein interdisziplinärer Kongress in Heidelberg

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