Inhalt Einblicke Nr. 23


Liberale Drogenpolitik zwischen Prohibition und Legalisierung

von Rüdiger Meyenberg

Wohin geht die Drogenpolitik in der Bundesrepublik Deutschland? Die Positionen, die verschiedene gesellschaftiche Gruppierungen beziehen, gehen weit auseinander: von der Legalisierung auch harter Drogen bis hin zu drastischeren Maßnahmen, um eine Einschränkung des Konsums zu erreichen. Der Autor des Artikels plädiert selbst dafür, einen pragmatischen, nicht von weltanschaulichen Grundsatzpositionen gepflasterten Weg zu gehen, denn Ziel jeglicher Drogenarbeit und -politik sei die Vorbeugung insbesondere bei Jugendlichen.

Wir alle wissen, daß der Schlüssel zur Reduzierung der Drogenverbreitung in der Nachfrage liegt; deshalb sind alle Politiken, die auf eine Angebotsreduzierung (supply-reduction) setzen, zum Scheitern verurteilt. Doch über die Nachfrage, deren Ursachen, Erscheinungsformen, Folgen und das Wechselspiel mit dem Drogenmarkt und der Drogenpolitik wissen wir sehr wenig. Es gibt im Bereich des Drogengebrauchs in der Bundesrepublik Deutschland erhebliche Forschungsdefizite. Doch der bloße Glaube an eine Verbesserung der Situation durch mehr Forschung an sich oder in bestimmten Bereichen, reicht nicht aus. Eine der wichtigsten Gründe für ein mögliches Versagen der bisherigen Forschung liegt in der falschen Wahrnehmung des Drogenproblems. Bislang dominierte eine Betrachtungsweise, die den Akzent auf die Drogen einerseits und die Person andererseits legte, die Person hierbei aber als isoliertes und nicht als gesellschaftlich eingebundenes Individuum begriff. Entsprechend wurde der Drogengebrauch fast ausschließlich als Problem somatischer und psychischer Gesundheit wahrgenommen. Die sozialen Einflußfaktoren, die maßgeblich über den Einstieg in den Drogengebrauch und die Fortsetzung des Drogengebrauchs bestimmen, blieben ausgeblendet. Ausgeblendet blieben auch die sozialen, informellen Regelungsmechanismen, die das Verhalten z.B. der Subkultur bestimmen (vgl. Reuband: Forschungsdefizite im Bereich des Drogengebrauchs, in: Sucht, Nr. 93 (1993) S. 48-57). Wenn wir das Drogenproblem besser verstehen und die Drogenpolitik auf eine nationalere Grundlage stellen wollen als bisher, brauchen wir besondere finanzielle Anstrengung für eine Grundlagenforschung, die in erster Linie eine sozialwissenschaftliche Forschung sein muß.

Die epidemiologische Ausbreitung der Drogensucht verzeichnet auch weiterhin Zuwächse; vor allem die Zahl der Neueinsteiger steigt. Auf hohem Niveau bewegt sich die Zahl der Drogentoten (ca. 1.438 1995). Obwohl der Begriff "Drogen" in der Bevölkerung zunächst die ille galen Drogen meint (Haschisch, Marihuana, Heroin, Extacy, Kokain), rücken die legalen Drogen wie Alkohol, Tabakwaren, Medikamente, aber auch die stoffungebundenen Süchte wie Spielsucht und Eßstörungen immer stärker ins öffentliche Bewußtsein. Auch hier werden starke Zuwächse verzeichnet. Trotz dieser hohen Zahlen gibt es in der Bundesrepublik zu wenig Therapie-, vor allem Entgiftungsplätze; aber auch die Erfolgsquoten in der Therapie liegen nicht höher als zwischen 10 und 30 %.

Akzeptierende Drogenarbeit

Bezüglich des Umgangs mit illegalen Drogen und Drogensüchtigen haben wir es in der Bundesrepublik bei Politiker-innen und Politikern, aber auch in der übrigen Öffentlichkeit mit einem gespaltenen Bewußtsein zu tun.

Eine Gruppe (Prohibitionisten) fordert die Beibehaltungen des jetzigen sehr harten Drogengesetzes, das den Erwerb, Besitz, den Handel verbietet und unter schwere Strafe stellt (bekanntlich ist der Konsum nicht strafbar). Nur wer sich als Abhängiger in eine Therapie begibt, also abstinent von Drogen leben will, kann von Strafe verschont bleiben (§ 35 Abs. 1 Betäubungsmittelgesetz (BtMG)). Auch kann heute unter bestimmten Umständen vor dem Hintergrund des Urteils des Bundesverfassungsgerichts der Erwerb bzw. der Besitz von Drogen in geringen Mengen zum Zwecke des Eigenverbrauchs straffrei bleiben (§ 31a BtMG). Darüber hinaus werden vom Staat "Modellversuche" initiiert, die in der Hauptsache zum Ziel haben, die AIDS-Verbreitung dadurch zu unterbinden, indem die Drogen durch ein - vom Staat/der Krankenkasse bezahltes - anderes Suchtmittel, z.B. Methadon substituiert werden. Häufig werden auch andere Arzneimittel dafür verwendet (Kodein, Remadacen).

Eine zweite Gruppe will vor dem Hintergrund der geringen Therapieerfolgsquote, aber auch, weil Drogenabhängige den Weg aus ih rer Sucht nicht alleine bewerkstelligen können, das Gebot der Abstinenz aufgeben und Süchtigen mit ihrem Drogenkonsum helfen; hier hat sich der Begriff der "akzeptierenden Drogenarbeit" eingebürgert. Vor allem soziale Einrichtungen wie Kirchen, Drogenhilfeeinrichtungen, Selbsthilfegruppen halten Aufenthaltsplätze für Süchtige vor, wo sie essen, sich duschen und pflegen können, wo also die sozialen Auswirkungen ihrer Situation gelindert werden (harm-reduction). Solche Anlaufstellen sind aber auch Orte für schlichte Kommunikation, für Problemlösungen, evt. auch Beratungen für den "Ausstieg". Ihr Ziel ist es, Drogenabhängige psychosozial zu betreuen. Sie vermitteln - sofern möglich - auch Wohnungen und bezahlte Arbeit.

Hinter einem solchen Drogenhilfekonzept verbirgt sich auch zunehmend die Erkenntnis, daß die Drogensucht im Lebenslauf eines Individuums eine bestimmte Phase kennzeichnet, aus die der Betroffene langsam herauswachsen muß. Der Abschnitt der Drogensucht soll deshalb so gesundheitsverträglich und risikoarm wie möglich gehalten werden.

Drogenpolitik: Entkriminalisierung

Diese Gruppe will auch in der Drogenpolitik Veränderung; eine "akzeptierende Drogenpolitik" bedeutet für sie die Entkriminalisierung der "weichen" illegalen Drogen, das heißt aber nicht, daß der Konsum allgemein legalisiert wird; der Besitz bzw. Erwerb soll nur eine Ordnungswidrigkeit bleiben. Weiche und harte Drogen sollen getrennt werden!

Obwohl es heute ca. eine Million Haschischraucherinnen und -raucher in der Bundesrepublik gibt, ist der Erwerb/Besitz bzw. Handel von Kannabisprodukten nach wie vor, wie übrigens auch in den Niederlanden, illegal. Haschisch ist heute für jedermann leicht zu besorgen. Erst vor dem Hintergrund des Urteils des Bundesverfassungsgerichtes und der entsprechenden Umsetzung durch das Niedersächsische Justizministerium ist der Erwerb/Besitz von kleinen Mengen de facto straffrei geworden, bleibt aber rechtlich gesehen illegal; dies muß geändert werden.

In der Drogenpolitik gibt es weltweit und deshalb auch in Deutschland keine Patentlösung, wie mit dem Erwerb bzw. Besitz und dem Konsum von Rauschmitteln umzugehen ist. Einige Länder Europas (Niederlande, Schweiz, Großbritannien) sind dazu übergegangen, ergebnisoffene Modellversuche durchzuführen, die Aufschluß über ein verändertes, heißt gesundheitsbewußteres Konsumverhalten geben könnten. Nur so ist auch der Vorschlag aus Schleswig Holstein zu verstehen, Kannabisprodukte (also weiche Drogen) über Apotheken abzugeben. Dieses Konzept will einerseits die Gefährdung von Kindern und Jugendlichen ausschließen, andererseits aber dem illegalen Treiben der Dealer das Handwerk legen. Hier liegt auch der entscheidende Vorteil dieses Lösungsversuches, nämlich den Sumpf der Illegalität auszutrocknen. Darüber hinaus müßte dieser Modellversuch zeigen, ob die Zahl der Konsumenten durch eine solche Regelung zunimmt. Apotheken sollten aber nicht gezwungen werden, Kannabisprodukte abzugeben, es gilt hier das Prinzip der Freiwilligkeit.

Die Abgabe von weichen Drogen über Apotheken sollte ihre Entsprechung von harten Drogen (Opiate) durch niedergelassene Ärzte finden. Auch die Originalstoffabgabe (also Heroin, Kokain) für Schwerstabhängige sollte in Modellversuchen in der Bundesrepublik getestet werden. Eine liberalere Drogenpolitik, die behutsam neue Wege geht, setzt den Staat als Monopolisten für Drogen ein, der dann über die Bedingungen der Abgabe von Drogen, an welchen Kreis auch immer, entscheidet. Das langfristige Ziel aller Maßnahmen muß jedoch immer ein Drogen- (sucht)freies Leben, mindestens aber ein kontrollierter Umgang mit Suchtmitteln sein, sofern dies bei Süchtigen überhaupt möglich ist. Der Vollständigkeit halber sei an dieser Stelle erwähnt, daß eine letzte Gruppe eine völlige Umkehr in der Drogenpolitik fordert; ihr Ziel ist die Abschaffung des Drogengesetzes (BtMG), d.h. die totale Legalisierung sämtlicher Rauschmittel; ohnehin halten sie dieses Gesetz für verfassungswidrig, weil es die Würde des Menschen verletze und seine Entfaltungsmöglichkeiten beeinträchtige. Der Staat/die Wirtschaft müsse sämtliche Drogen zum Verkauf vorhalten. Wer sein Leben mit Drogen begleiten wolle, dürfe daran nicht gehindert werden.

Die niederländische Drogenpolitik

Die Niederlande waren lange Vorbild für eine liberale Drogenpolitik, auch für Gruppen in der Bundesrepublik. In diesen Tagen nun hat die Regierung in Den Haag einen Bericht vorgelegt, in dem sie die Leitlinien der Drogenpolitik für die kommenden Jahre darlegt. Zwar wird die Politik nicht grundlegend geändert, dennoch haben sich einige Regelungen als unzureichend erwiesen, die nun angepaßt werden. Auch scheint der Druck der übrigen Länder der Europäische Union die Holländer zu diesem Schritt veranlaßt zu haben.

Auch wenn die Ergebnisse der niederländischen Drogenpolitik im Gesundheitsbereich vergleichsweise günstig sind, so stellen der Drogenkonsum und die Drogenszene ein großes gesellschaftliches Problem dar. Deshalb wird sich die Politik - so der Bericht - auch mehr darauf konzentrieren, Belästigungen der Bevölkerung durch die Drogenszene abzuwehren. So soll z.B. die Änderung des Gemeindegesetzes es ermöglichen, den Zugang zu Wohnungen, in denen mit Drogen gehandelt wird, zu unterbinden.

Verringerung der Verkaufsmenge in Coffeeshops. Um vor allem auch ausländischen Besuchern den Handel größerer Mengen für das eigene Land zu erschweren, wird die Menge an weichen Drogen, deren Verkauf in Coffeeshops nicht strafrechtlich verfolgt wird, von 30 Gramm auf 5 Gramm verringert.

Bekämpfung des Anbaus von "Nederwiet". In den Niederländen werden mehr als bisher Cannabisprodukte, sog. Nederwiet gezüchtet, sie sind dadurch zu einem Produktions- und Ausfuhrland geworden. Hier will die Regierung in großem Stil der Ermittlungstätigkeit und der Strafverfolgung hohe Priorität einräumen.

Ausweisung ausländischer Drogenabhängiger und "Drogentouristen". Ein Teil der Probleme im Zusammenhang mit dem Drogenhandel wird von ausländischen Abhängigen, die sich illegal in den Niederlanden aufhalten, verursacht.

Bei sich illegal in den Niederlanden aufhaltenden Drogenabhängigen, die Straftaten begehen, sollen die Ausweisungsmaßnahmen verschärft werden. Vorgesehen sind auch gezieltere Ermittlungs- und Strafverfolgungsmaßnahmen sowie eine konsequentere Ahndung. Ausländischen Drogenabhängigen muß in ihrem eigenen Land geholfen werden, so der Bericht.

Versuchsweise Abgabe von Heroin aufgrund einer medizinischen Indikation. Geplant sind hier zunächst begrenzte Versuche, Heroin an Schwerstabhängige, die sich in physischer und sozialer Hinsicht in einer aussichtslosen Lage befinden, zu verabreichen. Hier laden schweizerische Projekte zur Nachahmung ein.

Keine Legalisierung von Drogen. Abschließend wird im Bericht festgestellt, daß eine Legalisierung von harten oder weichen Drogen nicht angestrebt wird. Das wichtigste Argument gegen eine solche Legalisierung seien die großen Gesundheitsrisiken. Was die weichen Drogen angeht, so geht die niederländische Regierung davon aus, daß der kriminelle Handel nicht abnehme, wenn die Niederlande als einziges Land eine Legalisierung beschließen würden. Auch könne eine Ankurbelung des Drogentourismus befürchtet werden.

Prävention: Erwerb von Lebenskompetenz

Neben dem humanen Umgang mit Süchtigen und der entsprechenden rechtlichen Fundierung müssen in jedem Fall die präventiven Anstrengungen in Familie, Schule, Freizeiteinrichtungen und Medien verstärkt und verbessert werden. Ziel sucht- und drogenpräventiver Arbeit ist die Schaffung von Lebenskompetenz. Junge Menschen sollen mit Verhaltensweisen, Fähigkeiten und Wissen ausgerüstet werden, damit sie inneren und äußeren Druck widerstehen können, psychoaktive Substanzen benutzen zu müssen. Das bedeutet für Kinder/Jugendliche, daß sie lernen mit lebensbelastenden Situationen "natürlich" umzugehen. Ergebnis drogenpräventiver Arbeit ist die Kompetenz mit allen Suchtmitteln verantwortungsbewußt, d.h. gesundheitsbewußt umzugehen. Hierzu gehört aber auch die Ausprägung eines Mißbrauchsbewußtseins, daß ihnen deutlich macht, wann sie sich mit Suchtmitteln in risikoreiche Situationen begeben.

Für bereits drogenkonsumierenden Kindern und Jugendlichen ist Ziel von Prävention eine Bereitschaft zu entwickeln, auf den gesundheitsgefährdenden Konsum von Suchtmitteln zu verzichten, während Sucht-/ Drogenabhängige die Erkenntnis gewinnen sollten, sich helfen zu lassen. Auch bei ihnen müßte eine Bereitschaft entwickelt werden, auf gesundheitsverträglichere Suchtmittel umzusteigen bzw. sogar abstinent zu leben. Die Ziele der Sucht- und Drogenprävention müssen heute insgesamt gesehen präziser als früher d.h. konsumentenabhängig und entwicklungsspezifisch formuliert werden.

Auch die wichtigen Sozialisationsinstanzen von Kindern und Jugendlichen müßten stärker wieder erziehende, d.h. orientierende Aufgaben übernehmen. So wäre es sinnvoll, daß die Familien wieder stärker die Orientierungsfunktion für die Kinder und Jugendlichen durch Vermittlung von sinnvollen Normen und solidarischen Werten übernehmen würde. Und die Schule müßte eine stärkere sozialpädagogische Ausrichtung erfahren und mehr Lebens- und Gestaltungsraum für Schülerinnen und Schüler werden; statt ihrer "Verkopfung" müssen im Zentrum des Unterrichts sinnlich ganzheitliche Lernmethoden stehen.

Im Freizeitbereich muß über Neuansätze der pädagogischen Arbeit verstärkt nachgedacht werden; das aktive Tun von Kindern und Jugendlichen, ernste Herausforderungen und Selbsterfahrungen, die eine Erprobung eigener körperlicher Kräfte und psychischer und sozialer Kompetenz bedeuten, Aktionen und Tätigkeiten, in denen eigene Möglichkeiten und Grenzen des Verhaltens erprobt werden können, müssen dabei wieder im Mittelpunkt stehen. Und auch der elektronische Medienkonsum muß schlicht reduziert werden!

Der Konsum von Drogen kann immer auch Ausdruck einer tiefgreifenden seelischen Störung sein; er ist so verstanden ein Hilferuf von Kindern und Jugendlichen: "Kümmert Euch um mich!", "Helft mir!" - verbunden mit der nicht ausgesprochenen Frage: "Was muß ich noch alles tun, damit Ihr mich und meine Not endlich begreift?"

Vielleicht haben wir Erwachsenen in den letzten Jahren zuviel über uns selbst geredet und die Probleme der Kinder und Jugendlichen dabei vergessen. Vielleicht sollten wir wieder mehr auf sie hören, wenn sie uns durch ihr Verhalten einen Spiegel vorhalten, wenn sie leise oder auch laut um Hilfe rufen und wenn sie einen Menschen brauchen.

Der Autor
Der Autor Prof. Dr. Rüdiger Meyenberg (52), Mitglied des Instituts für Politikwissenschaften II - Politik und Gesellschaft, lehrt und forscht seit 1974 - nach Lehramtsstudium und Schuldienst - in Oldenburg Didaktik der Sozialwissenschaften. Schwerpunkte seiner Forschung sind Sucht- und Drogenprävention sowie Gewalt bei Jugendlichen. Unter anderem ist er Vorsitzender der Sektion Drug Education der WHO-Organisation "International Council on Alcohol and Addictions" (ICAA).


Leserbrief an presse@admin.uni-oldenburg.de

1. Mai 1996