Ein Leichnam beherrscht die Gesellschaft - der Leichnam der Arbeit.
Alle Mächte rund um den Globus haben sich zur Verteidigung dieser
Herrschaft verbündet: Der Papst und die Weltbank, Tony Blair und Jörg
Haider, Gewerkschaften und Unternehmer, deutsche Ökologen und französische
Sozialisten. Sie alle kennen nur eine Parole: Arbeit, Arbeit, Arbeit!
Wer das Denken noch nicht verlernt hat, erkennt unschwer die Bodenlosigkeit
dieser Haltung. Denn die von der Arbeit beherrschte Gesellschaft erlebt
keine vorübergehende Krise, sie stößt an ihre absolute
Schranke. Die Reichtumsproduktion hat sich im Gefolge der mikroelektronischen
Revolution immer weiter von der Anwendung menschlicher Arbeitskraft entkoppelt
- in einem Ausmaß, das bis vor wenigen Jahrzehnten nur in der Science-fiction
vorstellbar war. Niemand kann ernsthaft behaupten, daß dieser Prozeß
noch einmal zum Stehen kommt oder gar umgekehrt werden kann. Der Verkauf
der Ware Arbeitskraft wird im 21. Jahrhundert genauso aussichtsreich sein
wie im 20. Jahrhundert der Verkauf von Postkutschen. Wer aber in dieser
Gesellschaft seine Arbeitskraft nicht verkaufen kann, gilt als "überflüssig"
und wird auf der sozialen Müllhalde entsorgt.
Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen! Dieser zynische Grundsatz
gilt noch immer - und heute mehr denn je, gerade weil er hoffnungslos obsolet
wird. Es ist absurd: Die Gesellschaft war niemals so sehr Arbeitsgesellschaft
wie in einer Zeit, in der die Arbeit überflüssig gemacht wird.
Gerade in ihrem Tod entpuppt sich die Arbeit als totalitäre Macht,
die keinen anderen Gott neben sich duldet. Bis in die Poren des Alltags
und bis in die Psyche hinein bestimmt sie das Denken und Handeln. Es wird
kein Aufwand gescheut, um das Leben des Arbeitsgötzen künstlich
zu verlängern. Der paranoide Schrei nach "Beschäftigung" rechtfertigt
es, die längst erkannte Zerstörung der Naturgrundlagen sogar
noch zu forcieren. Die letzten Hindernisse für die totale Kommerzialisierung
aller sozialen Beziehungen dürfen kritiklos hinweggeräumt werden,
wenn ein paar elende "Arbeitsplätze" in Aussicht stehen. Und der Satz,
es sei besser, "irgendeine" Arbeit zu haben als keine, ist zum allgemein
abverlangten Glaubensbekenntnis geworden.
Je unübersehbarer es wird, daß die Arbeitsgesellschaft an
ihrem definitiven Ende angelangt ist, desto gewaltsamer wird dieses Ende
aus dem öffentlichen Bewußtsein verdrängt. So unterschiedlich
die Methoden der Verdrängung auch sein mögen, sie haben einen
gemeinsamen Nenner: Die weltweite Tatsache, daß sich die Arbeit als
irrationaler Selbstzweck erweist, der sich selber obsolet gemacht hat,
wird mit der Sturheit eines Wahnsystems in das persönliche oder kollektive
Versagen von Individuen, Unternehmen oder "Standorten" umdefiniert. Die
objektive Schranke der Arbeit soll als subjektives Problem der Herausgefallenen
erscheinen.
Gilt den einen die Arbeitslosigkeit als Produkt überzogener Ansprüche,
fehlender Leistungsbereitschaft und Flexiblität, so werfen die anderen
"ihren" Managern und Politikern Unfähigkeit, Korruption, Gewinnsucht
oder Standortverrat vor. Und schließlich sind sich alle mit Ex-Bundespräsident
Roman Herzog einig: Es müsse ein sogenannter "Ruck" durch das Land
gehen, ganz so, als handelte es sich um das Motivationsproblem einer Fußballmannschaft
oder einer politischen Sekte. Alle sollen sich "irgendwie" gewaltig am
Riemen reißen, auch wenn der Riemen längst abhanden gekommen
ist, und alle sollen "irgendwie" kräftig anpacken, auch wenn es gar
nichts mehr (oder nur noch Unsinniges) zum Anpacken gibt. Der Subtext dieser
unfrohen Botschaft ist unmißverständlich: Wer trotzdem nicht
die Gnade des Arbeitsgötzen findet, ist selber schuld und kann mit
gutem Gewissen abgeschrieben oder abgeschoben werden.
Dasselbe Gesetz des Menschenopfers gilt im Weltmaßstab. Ein Land
nach dem anderen wird unter den Rädern des ökonomischen Totalitarismus
zermalmt und beweist damit immer nur das eine: Es hat sich an den sogenannten
Marktgesetzen vergangen. Wer sich nicht bedingungslos und ohne Rücksicht
auf Verluste dem blinden Lauf der totalen Konkurrenz "anpaßt", den
bestraft die Logik der Rentabilität. Die Hoffnungsträger von
heute sind der Wirtschaftsschrott von morgen. Die herrschenden ökonomischen
Psychotiker lassen sich dadurch in ihrer bizarren Welterklärung nicht
im geringsten erschüttern. Drei Viertel der Weltbevölkerung sind
bereits mehr oder weniger zum sozialen Abfall erklärt worden. Ein
"Standort" nach dem anderen stürzt ab. Nach den desaströsen "Entwicklungsländern"
des Südens und nach der staatskapitalistischen Abteilung der Weltarbeitsgesellschaft
im Osten sind die marktwirtschaftlichen Musterschüler Südostasiens
ebenso im Orkus des Zusammenbruchs verschwunden. Auch in Europa breitet
sich längst die soziale Panik aus. Die Ritter von der traurigen Gestalt
in Politik und Management aber setzen ihren Kreuzzug im Namen des Arbeitsgötzen
nur umso verbissener fort.
Jeder muß von seiner Arbeit leben können,
heißt der aufgestellte Grundsatz. Das Lebenkönnen ist sonach
durch die Arbeit bedingt, und es gibt kein solches Recht, wo die Bedingung
nicht erfüllt worden.(Johann Gottlieb Fichte, Grundlagen des Naturrechts nach Prinzipien
der Wissenschaftslehre, 1797)
Eine auf das irrationale Abstraktum Arbeit zentrierte Gesellschaft entwickelt
zwangsläufig die Tendenz zur sozialen Apartheid, wenn der erfolgreiche
Verkauf der Ware Arbeitskraft von der Regel zur Ausnahme wird. Alle Fraktionen
des parteiübergreifenden Arbeits-Lagers haben diese Logik längst
klammheimlich akzeptiert und helfen selber kräftig nach. Sie streiten
nicht mehr darüber, ob immer größere Teile der Bevölkerung
an den Rand gedrängt und von jeder gesellschaftlichen Teilhabe ausgeschlossen
werden, sondern nur noch darüber, wie diese Selektion durchgepeitscht
werden soll.
Die neoliberale Fraktion überläßt das schmutzige sozialdarwinistische
Geschäft vertrauensvoll der "unsichtbaren Hand" des Marktes. In diesem
Sinne werden die sozialstaatlichen Netze abgebaut, um all diejenigen möglichst
geräuschlos zu marginalisieren, die in der Konkurrenz nicht mehr mithalten
können. Als Mensch wird nur noch anerkannt, wer zur Bruderschaft der
feixenden Globalisierungsgewinnler gehört. Alle Ressourcen des Planeten
werden ganz selbstverständlich für die kapitalistische Selbstzweckmaschine
usurpiert. Wenn sie dafür nicht mehr rentabel mobilisierbar sind,
müssen sie brachliegen, selbst wenn daneben ganze Populationen dem
Hunger anheimfallen.
Zuständig für den lästigen "Humanmüll" sind die
Polizei, die religiösen Erlösungssekten, die Mafia und die Armenküchen.
In den USA und in den meisten Staaten Mitteleuropas sitzen inzwischen mehr
Menschen im Gefängnis als in jeder durchschnittlichen Militärdiktatur.
Und in Lateinamerika werden täglich mehr Straßenkinder und andere
Arme von marktwirtschaftlichen Todesschwadronen gekillt als Oppositionelle
in den Zeiten der schlimmsten politischen Repression. Nur noch eine gesellschaftliche
Funktion bleibt den Ausgestoßenen: die des abschreckenden Beispiels.
Ihr Schicksal soll alle, die sich bei der arbeitsgesellschaftlichen "Reise
nach Jerusalem" noch im Rennen befinden, im Kampf um die letzten Plätze
immer weiter anstacheln und selbst noch die Masse der Verlierer in hektischer
Bewegung halten, damit sie gar nicht erst auf den Gedanken kommen, gegen
die unverschämten Zumutungen zu rebellieren.
Doch auch um den Preis der Selbstaufgabe sieht die schöne neue
Welt der totalitären Marktwirtschaft für die meisten nur noch
einen Platz als Schattenmenschen in der Schattenwirtschaft vor. Sie haben
sich als Billigstarbeiter und demokratische Sklaven der "Dienstleistungsgesellschaft"
den besserverdienenden Globalisierungsgewinnlern demütig anzudienen.
Die neuen "arbeitenden Armen" dürfen den restlichen Business-Men der
sterbenden Arbeitsgesellschaft die Schuhe putzen, ihnen verseuchte Hamburger
verkaufen oder ihre Einkaufszentren bewachen. Wer sein Gehirn an der Garderobe
abgegeben hat, kann dabei sogar vom Aufstieg zum Service-Millionär
träumen.
In den angelsächsischen Ländern ist diese Horror-Welt für
Millionen bereits Realität, in der Dritten Welt und in Osteuropa sowieso;
und in Euro-Land zeigt man sich entschlossen, den bestehenden Rückstand
zügig aufzuholen. Die einschlägigen Wirtschaftsblätter machen
jedenfalls längst kein Geheimnis mehr daraus, wie sie sich die ideale
Zukunft der Arbeit vorstellen: Die Kinder der Dritten Welt, die an verpesteten
Straßenkreuzungen die Scheiben der Autos putzen, sind das leuchtende
Vorbild "unternehmerischer Initiative", an dem sich die Arbeitslosen in
der hiesigen "Dienstleistungswüste" gefälligst zu orientieren
haben. "Das Leitbild der Zukunft ist das Individuum als Unternehmer seiner
Arbeitskraft und Daseinsvorsorge" schreibt die "Kommission für Zukunftsfragen
der Freistaaten Bayern und Sachsen". Und: "Die Nachfrage nach einfachen
personenbezogenen Diensten ist umso größer, je weniger die Dienste
kosten, und das heißt die Dienstleister verdienen." In einer Welt,
in der es noch menschliche Selbstachtung gibt, müßte diese Aussage
den sozialen Aufstand provozieren. In einer Welt von domestizierten Arbeitstieren
wird sie nur ein hilfloses Nicken hervorrufen.
Der Gauner hatte die Arbeit zerstört, trotzdem aber den Lohn
eines Arbeiters sich weggenommen; nun soll er arbeiten ohne Lohn, dabei
aber den Segen des Erfolgs und Gewinnes selbst in der Kerkerzelle ahnen.
[...] Er soll zur sittlichen Arbeit als einer freien persönlichen
Tat erzogen werden durch Zwangsarbeit.
(Wilhelm Heinrich Riehl, Die deutsche Arbeit, 1861)
Jeder Job ist besser als keiner.
(Bill Clinton, 1998)
Kein Job ist do hart wie keiner.
(Motto einer Plakatausstellung der Bundekoordinierungsstelle der
Erwerbsloseninitiativen in Deutschland, 1998)
Bürgerarbeit soll belohnt werden, nicht entlohnt. [...] Aber
wer in Bürgerarbeit tätig ist, verliert auch den Makel der Arbeitslosigkeit
und des Sozialhilfeempfängers.
(Ulrich Beck, Die Seele der Demokratie, 1997)
Der neue Arbeitsfanatismus, mit dem diese Gesellschaft auf den Tod ihres
Götzen reagiert, ist die logische Fortsetzung und Endstufe einer langen
Geschichte. Seit den Tagen der Reformation haben alle tragenden Kräfte
der westlichen Modernisierung die Heiligkeit der Arbeit gepredigt. Vor
allem in den letzten 150 Jahren waren sämtliche Gesellschaftstheorien
und politischen Strömungen von der Idee der Arbeit geradezu besessen.
Sozialisten und Konservative, Demokraten und Faschisten haben sich bis
aufs Messer bekämpft, aber trotz aller Todfeindschaft immer gemeinsam
dem Arbeitsgötzen geopfert. "Die Müßiggänger schiebt
beiseite" hieß es im Text der internationalen Arbeiterhymne - und
"Arbeit macht frei" echote es schauerlich über dem Tor von Auschwitz.
Die pluralistischen Nachkriegs-Demokratien schworen erst recht auf die
immerwährende Diktatur der Arbeit. Selbst die Verfassung des stockkatholischen
Bayern belehrt die Bürger ganz im Sinne der von Luther ausgehenden
Tradition: "Arbeit ist die Quelle des Volkswohlstandes und steht unter
dem besonderen Schutz des Staates." Am Ende des 20. Jahrhunderts haben
sich alle ideologischen Gegensätze nahezu verflüchtigt. Übrig
geblieben ist das gnadenlose gemeinsame Dogma, die Arbeit sei die natürliche
Bestimmung des Menschen.
Heute dementiert die arbeitsgesellschaftliche Wirklichkeit selber dieses
Dogma. Die Priester der Arbeitsreligion haben immer gepredigt, der Mensch
sei seiner angeblichen Natur nach ein "animal laborans". Er werde überhaupt
erst zum Menschen, indem er wie einst Prometheus den Naturstoff seinem
Willen unterwerfe und sich in seinen Produkten verwirkliche. Dieser Mythos
des Welteroberers und des Demiurgen, der seine Berufung habe, war zwar
schon immer ein Hohn auf den Charakter des modernen Arbeitsprozesses, aber
er mochte im Zeitalter der Erfinderkapitalisten vom Schlage Siemens oder
Edison und ihrer Facharbeiterbelegschaften noch ein reales Substrat besessen
haben. Mittlerweile aber ist dieser Gestus vollends absurd geworden.
Wer heute noch nach Inhalt, Sinn und Zweck seiner Arbeit fragt, wird
verrückt - oder zum Störfaktor für das selbstzweckhafte
Funktionieren der gesellschaftlichen Maschine. Der einstmals arbeitsstolze
homo faber, der das, was er tat, auf seine bornierte Art noch ernst nahm,
ist so altmodisch wie eine mechanische Schreibmaschine geworden. Die Mühle
hat um jeden Preis zu laufen, und damit basta. Für die Sinnerfindung
sind die Werbeabteilung und ganze Heerscharen von Animateuren und Betriebspsychologinnen,
Imageberatern und Drogendealerinnen zuständig. Wo dauernd von Motivation
und Kreativität geplappert wird, ist garantiert nichts mehr davon
übrig - es sei denn als Selbstbetrug. Deshalb zählen die Fähigkeiten
zu Autosuggestion, Selbstdarstellung und Kompetenz-Simulation heute zu
den wichtigsten Tugenden von Managern und Facharbeiterinnen, Medienstars
und Buchhaltern, Lehrerinnen und Parkplatzwächtern.
Auch die Behauptung, die Arbeit sei eine ewige Notwendigkeit und den
Menschen von der Natur aufgeherrscht, hat sich an der Krise der Arbeitsgesellschaft
gründlich blamiert. Seit Jahrhunderten wird gepredigt, dem Arbeitsgötzen
sei allein schon deshalb zu huldigen, weil Bedürfnisse nun einmal
nicht ohne schweißtreibendes menschliches Zutun von selbst befriedigt
werden. Und der Zweck der ganzen Arbeits-Veranstaltung sei ja wohl die
Bedürfnisbefriedigung. Träfe das zu, eine Kritik der Arbeit wäre
so sinnvoll wie eine Kritik der Schwerkraft. Aber wie sollte denn ein wirkliches
"Naturgesetz" in die Krise geraten oder gar verschwinden? Die Wortführer
des gesellschaftlichen Arbeits-Lagers, von der leistungswahnsinnigen neoliberalen
Kaviarfresserin bis zum gewerkschaftlichen Bierbauchträger, geraten
mit ihrer Pseudo-Natur der Arbeit in Argumentationsnot. Oder wie wollen
sie es erklären, daß heute drei Viertel der Menschheit nur deshalb
in Not und Elend versinken, weil das arbeitsgesellschaftliche System ihre
Arbeit gar nicht mehr brauchen kann?
Nicht mehr der alttestamentarische Fluch "Im Schweiße deines
Angesichts sollst du dein Brot essen" lastet auf den Herausgefallenen,
sondern ein neues, erst recht unerbittliches Verdammungsurteil: "Du sollst
nicht essen, denn dein Schweiß ist überflüssig und unverkäuflich".
Und das soll ein Naturgesetz sein? Es ist nichts anderes als ein irrationales
gesellschaftliches Prinzip, das als Naturzwang erscheint, weil es über
Jahrhunderte hinweg alle anderen Formen sozialer Beziehung zerstört
oder sie unterworfen und sich selbst absolut gesetzt hat. Es ist das "Naturgesetz"
einer Gesellschaft, die sich für überaus "rational" hält,
die aber in Wahrheit nur der Zweckrationalität ihres Arbeitsgötzen
folgt, dessen "Sachzwängen" sie auch noch den letzten Rest ihrer Humanität
zu opfern bereit ist.
Arbeit steht, sei sie auch noch so niedrig und mammonistisch, stets
im Zusammenhang mit der Natur. Schon der Wunsch, Arbeit zu verrichten,
leitet immer mehr und mehr zur Wahrheit und zu den Gesetzen und Vorschriften
der Natur, welche Wahrheit sind.
(Thomas Carlyle, Arbeiten und nicht verzweifeln, 1843)
Arbeit ist keineswegs identisch damit, daß Menschen die Natur
umformen und sich tätig aufeinander beziehen. Solange es Menschen
gibt, werden sie Häuser bauen, Kleidung und Nahrung ebenso wie viele
andere Dinge herstellen, sie werden Kinder aufziehen, Bücher schreiben,
diskutieren, Gärten anlegen, Musik machen und dergleichen mehr. Das
ist banal und selbstverständlich. Nicht selbstverständlich aber
ist, daß die menschliche Tätigkeit schlechthin, die pure "Verausgabung
von Arbeitskraft", ohne jede Rücksicht auf ihren Inhalt, ganz unabhängig
von den Bedürfnissen und vom Willen der Beteiligten, zu einem abstrakten
Prinzip erhoben wird, das die sozialen Beziehungen beherrscht.
In den alten Agrargesellschaften gab es alle möglichen Herrschaftsformen
und persönlichen Abhängigkeitsverhältnisse, aber keine Diktatur
des Abstraktums Arbeit. Die Tätigkeiten in der Umformung der Natur
und in der sozialen Beziehung waren zwar keineswegs selbstbestimmt, aber
ebensowenig einer abstrakten "Verausgabung von Arbeitskraft" unterworfen,
sondern vielmehr eingebettet in komplexe Regelwerke von religiösen
Vorschriften, sozialen und kulturellen Traditionen mit wechselseitigen
Verpflichtungen. Jede Tätigkeit hatte ihre besondere Zeit und ihren
besonderen Ort; es gab keine abstrakt-allgemeine Tätigkeitsform.
Es war erst das moderne warenproduzierende System mit seinem Selbstzweck
der unaufhörlichen Verwandlung von menschlicher Energie in Geld, das
eine besondere, aus allen anderen Beziehungen "herausgelöste", von
jedem Inhalt abstrahierende Sphäre der sogenannten Arbeit hervorbrachte
- eine Sphäre der unselbständigen, bedingungslosen und beziehungslosen,
roboterhaften Tätigkeit, abgetrennt vom übrigen sozialen Zusammenhang
und einer abstrakten "betriebswirtschaftlichen" Zweckrationalität
jenseits der Bedürfnisse gehorchend. In dieser vom
Leben abgetrennten Sphäre hört die Zeit auf, gelebte und erlebte
Zeit zu sein; sie wird zum bloßen Rohstoff, der optimal vernutzt
werden muß: "Zeit ist Geld". Jede Sekunde wird verrechnet, jeder
Gang zum Klo ist ein Ärgernis, jedes Schwätzchen ein Verbrechen
am verselbständigten Produktionszweck. Wo gearbeitet wird, darf nur
abstrakte Energie verausgabt werden. Das Leben findet woanders statt -
oder auch gar nicht, weil der Zeittakt der Arbeit in alles hineinregiert.
Schon die Kinder werden auf die Uhr dressiert, um einmal "leistungsfähig"
zu sein. Der Urlaub dient bloß der Wiederherstellung der "Arbeitskraft".
Und selbst beim Essen, beim Feiern und in der Liebe tickt der Sekundenzeiger
im Hinterkopf.
In der Sphäre der Arbeit zählt nicht, was getan wird, sondern
daß das Tun als solches getan wird, denn die Arbeit ist gerade insofern
ein Selbstzweck, als sie die Verwertung des Geldkapitals trägt - die
unendliche Vermehrung von Geld um seiner selbst willen. Arbeit ist die
Tätigkeitsform dieses absurden Selbstzwecks. Nur deshalb, nicht aus
sachlichen Gründen, werden alle Produkte als Waren produziert. Denn
allein in dieser Form repräsentieren sie das Abstraktum Geld, dessen
Inhalt das Abstraktum Arbeit ist. Darin besteht der Mechanismus der verselbständigten
gesellschaftlichen Tretmühle, in der die moderne Menschheit gefangengehalten
wird.
Und eben deshalb ist auch der Inhalt der Produktion ebenso gleichgültig
wie der Gebrauch der produzierten Dinge und wie die sozialen und natürlichen
Folgen. Ob Häuser gebaut oder Tretminen hergestellt, Bücher gedruckt
oder Gentomaten gezüchtet werden, ob darüber Menschen erkranken,
ob die Luft vergiftet wird oder "nur" der gute Geschmack unter die Räder
kommt - all das ist nicht von Belang, solange sich nur, auf welche Weise
auch immer, die Ware in Geld und das Geld in neue Arbeit verwandeln läßt.
Daß die Ware einen konkreten Gebrauch verlangt, und sei es einen
destruktiven, ist für die betriebswirtschaftliche Rationalität
völlig uninteressant, denn für diese gilt das Produkt nur als
Träger von vergangener Arbeit, von "toter Arbeit".
Die Anhäufung von "toter Arbeit" als Kapital, dargestellt in der
Geldform, ist der einzige "Sinn", den das moderne warenproduzierende System
kennt. "Tote Arbeit"? Eine metaphysische Verrücktheit! Ja, aber eine
zur handgreiflichen Realität gewordene Metaphysik, eine "versachlichte"
Verrücktheit, die diese Gesellschaft im eisernen Griff hält.
Im ewigen Kaufen und Verkaufen tauschen sich die Menschen nicht als selbstbewußte
gesellschaftliche Wesen aus, sondern sie exekutieren als soziale Automaten
nur den ihnen vorausgesetzten Selbstzweck.
Der Arbeiter fühlt sich daher erst außer der Arbeit bei
sich und in der Arbeit außer sich. Zu Hause ist er, wenn er nicht
arbeitet, und wenn er arbeitet ist er nicht zu Haus. Seine Arbeit ist daher
nicht freiwillig, sondern gezwungen, Zwangsarbeit. Sie ist daher
nicht die Befrieidgung eines Bedürfnisses, sondern sie ist nur ein
Mittel, um Bedürfnisse außer ihr zu befriedigen. Ihre
Fremdheit tritt darin rein hervor, daß, sobald kein physischer oder
sonstiger Zwang existiert, die Arbeit als eine Pest geflohen wird.
(Karl Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte, 1844)
Die politische Linke hat die Arbeit immer besonders eifernd verehrt.
Sie hat die Arbeit nicht nur zum Wesen des Menschen erhoben, sondern sie
damit auch zum vermeintlichen Gegenprinzip des Kapitals mystifiziert. Nicht
die Arbeit galt ihr als Skandal, sondern bloß ihre Ausbeutung durch
das Kapital. Deshalb war das Programm sämtlicher "Arbeiterparteien"
auch immer nur die "Befreiung der Arbeit", nicht aber die Befreiung von
der Arbeit. Der soziale Gegensatz von Kapital und Arbeit ist aber bloß
der Gegensatz unterschiedlicher (wenn auch unterschiedlich mächtiger)
Interessen innerhalb des kapitalistischen Selbstzwecks. Der Klassenkampf
war die Austragungsform dieser gegensätzlichen Interessen auf dem
gemeinsamen gesellschaftlichen Boden des warenproduzierenden Systems. Er
gehörte der inneren Bewegungsdynamik der Kapitalverwertung an. Ob
der Kampf nun um Löhne, um Rechte, um Arbeitsbedingungen oder um Arbeitsplätze
geführt wurde: seine blinde Voraussetzung blieb stets die herrschende
Tretmühle mit ihren irrationalen Prinzipien.
Vom Standpunkt der Arbeit zählt der qualitative Inhalt der Produktion
genauso wenig wie vom Standpunkt des Kapitals. Was interessiert, ist einzig
die Möglichkeit, die Arbeitskraft optimal zu verkaufen. Es geht nicht
um die gemeinsame Bestimmung über den Sinn und Zweck des eigenen Tuns.
Wenn es die Hoffnung jemals gab, eine solche Selbstbestimmung der Produktion
könnte in den Formen des warenproduzierenden Systems verwirklicht
werden, so haben die "Arbeitskräfte" sich diese Illusion schon längst
abgeschminkt. Es geht nur noch um "Arbeitsplätze", um "Beschäftigung"
- schon die Begriffe beweisen den Selbstzweck-Charakter der ganzen Veranstaltung
und die Unmündigkeit der Beteiligten.
Was und wofür und mit welchen Folgen produziert wird, ist dem
Verkäufer der Ware Arbeitskraft letzten Endes genauso herzlich egal
wie dem Käufer. Die Arbeiter der Atomkraftwerke und der Chemiefabriken
protestieren am lautesten, wenn ihre tickenden Zeitbomben entschärft
werden sollen. Und die "Beschäftigten" von Volkswagen, Ford oder Toyota
sind die fanatischsten Anhänger des automobilen Selbstmordprogramms.
Nicht etwa bloß deswegen, weil sie sich gezwungenermaßen verkaufen
müssen, um überhaupt leben zu "dürfen", sondern weil sie
sich tatsächlich mit diesem bornierten Dasein identifizieren. Soziologen,
Gewerkschaftern, Pfarrern und anderen Berufstheologen der "sozialen Frage"
gilt das als Beweis für den ethisch-moralischen Wert der Arbeit. Arbeit
bildet Persönlichkeit, sagen sie. Zu recht. Nämlich die Persönlichkeit
von Zombis der Warenproduktion, die sich ein Leben außerhalb ihrer
heißgeliebten Tretmühle gar nicht mehr vorstellen können,
für die sie sich tagtäglich selber zurichten.
So wenig aber die Arbeiterklasse als Arbeiterklasse jemals der antagonistische
Widerspruch des Kapitals und das Subjekt der menschlichen Emanzipation
war, ebensowenig steuern umgekehrt die Kapitalisten und Manager die Gesellschaft
nach der Bösartigkeit eines subjektiven Ausbeuterwillens. Keine herrschende
Kaste in der Geschichte hat jemals ein derart unfreies und erbärmliches
Leben geführt wie die gehetzten Manager von Microsoft, Daimler-Chrysler
oder Sony. Jeder mittelalterliche Gutsherr hätte diese Leute abgrundtief
verachtet. Denn während er sich der Muße hingeben und seinen
Reichtum mehr oder weniger orgiastisch verprassen konnte, dürfen sich
die Eliten der Arbeitsgesellschaft selber keine Pause gönnen. Außerhalb
der Tretmühle wissen auch sie nichts anderes mit sich anzufangen als
wieder kindisch zu werden; Muße, Lust an der Erkenntnis und sinnlicher
Genuß sind ihnen so fremd wie ihrem Menschenmaterial. Sie sind selber
nur Knechte des Arbeitsgötzen, bloße Funktionseliten des irrationalen
gesellschaftlichen Selbstzwecks.
Der herrschende Götze weiß seinen subjektlosen Willen über
den "stummen Zwang" der Konkurrenz durchzusetzen, dem sich auch die Mächtigen
beugen müssen, gerade wenn sie hunderte von Fabriken managen und Milliardensummen
über den Globus schieben. Tun sie es nicht, werden sie ebenso rücksichtslos
ausrangiert wie die überflüssigen "Arbeitskräfte". Aber
gerade ihre eigene Unmündigkeit macht die Funktionäre des Kapitals
so maßlos gefährlich, nicht ihr subjektiver Ausbeuterwille.
Sie dürfen am allerwenigsten nach dem Sinn und den Folgen ihres rastlosen
Tuns fragen, Gefühle und Rücksichten können sie sich nicht
leisten. Deshalb nennen sie es Realismus, wenn sie die Welt verwüsten,
die Städte verhäßlichen und die Menschen mitten im Reichtum
verarmen lassen.
Die Arbeit bekommt immer mehr alles gute Gewissen auf ihre Seite:
der Hang zur Freude nennt sich bereits "Bedürfnis der Erholung" und
fängt an, sich vor sich selber zu schämen. "Man ist es seiner
Gesundheit schuldig" - so redet man, wenn man auf einer Landpartie ertappt
wird. Ja es könnte bald so weit kommen, daß man einem Hange
zur vita contemplativa (das heißt zum Spazierengehen mit Gedanken
und Freunden) nicht ohne Selbstverachtung und schlechtes Gewissen nachgäbe.
(Friedrich Nietzsche, Muße und Müßiggang, 1882)
Auch wenn die Logik der Arbeit und ihrer Verwurstung zur Geldmaterie
danach drängt, so lassen sich doch nicht alle gesellschaftlichen Bereiche
und notwendigen Tätigkeiten in diese Sphäre der abstrakten Zeit
hineinpressen. Deshalb entstand zusammen mit der "herausgelösten"
Sphäre der Arbeit, gewissermaßen als deren Rückseite, auch
die Sphäre des privaten Haushalts, der Familie und der Intimität.
In diesem als "weiblich" definierten Bereich verbleiben die vielen
und wiederkehrenden Tätigkeiten des alltäglichen Lebens, die
sich nicht oder nur ausnahmsweise in Geld verwandeln lassen: vom Putzen
und Kochen über die Kindererziehung und die Pflege alter Menschen
bis zur "Liebesarbeit" der idealtypischen Hausfrau, die ihren ausgelaugten
Arbeitsmann betütert und ihn "Gefühle tanken" läßt.
Die Sphäre der Intimität als Rückseite der Arbeit wird deshalb
von der bürgerlichen Familienideologie zum Hort des "eigentlichen
Lebens" verklärt - auch wenn sie in der Realität meistens eher
eine Intimhölle ist. Es handelt sich eben nicht um eine Sphäre
des besseren und wahren Lebens, sondern um eine ebenso bornierte und reduzierte
Form des Daseins, die nur mit einem anderen Vorzeichen versehen wird. Diese
Sphäre ist selber ein Produkt der Arbeit, von dieser zwar abgespalten,
aber doch nur existent im Bezug auf sie. Ohne den abgespaltenen sozialen
Raum der "weiblichen" Tätigkeitsformen hätte die Arbeitsgesellschaft
niemals funktionieren können. Dieser Raum ist ihre stumme Voraussetzung
und gleichzeitig ihr spezifisches Resultat.
Das gilt auch für die geschlechtlichen Stereotypen, die in der
Entwicklung des warenproduzierenden Systems ihre Verallgemeinerung erfuhren.
Nicht zufällig verfestigte sich das Bild der natur- und triebhaften,
irrationalen und emotional gesteuerten Frau erst zusammen mit dem des kulturschaffenden,
vernünftigen und beherrschten Arbeitsmannes zum Massenvorurteil. Und
nicht zufällig ging die Selbstzurichtung des weißen Mannes für
die Zumutungen der Arbeit und ihrer staatlichen Menschenverwaltung mit
einer jahrhundertelangen wütenden "Hexenverfolgung" einher. Auch die
gleichzeitig beginnende naturwissenschaftliche Weltaneignung war schon
in ihren Wurzeln kontaminiert durch den arbeitsgesellschaftlichen Selbstzweck
und seine geschlechtlichen Zuschreibungen. Auf diese Weise trieb der weiße
Mann, um reibungslos funktionieren zu können, all die Gefühlslagen
und emotionalen Bedürfnisse aus sich selber aus, die im Reich der
Arbeit nur als Störfaktoren zählen.
Im 20. Jahrhundert, besonders in den fordistischen Nachkriegs-Demokratien,
wurden die Frauen zunehmend in das System der Arbeit einbezogen. Aber das
Resultat war nur ein weibliches Schizo-Bewußtsein. Denn einerseits
konnte das Vordringen der Frauen in die Sphäre der Arbeit keine Befreiung
bringen, sondern nur dieselbe Zurichtung für den Arbeitsgötzen
wie bei den Männern. Andererseits blieb die Struktur der "Abspaltung"
ungebrochen bestehen und damit auch die Sphäre der als "weiblich"
definierten Tätigkeiten außerhalb der offiziellen Arbeit. Die
Frauen wurden auf diese Weise einer Doppelbelastung unterworfen und gleichzeitig
völlig gegensätzlichen sozialen Imperativen ausgesetzt. Innerhalb
der Sphäre der Arbeit bleiben sie bis heute überwiegend auf schlechter
bezahlte und subalterne Positionen verwiesen.
Daran wird kein systemkonformer Kampf für Frauenquoten und weibliche
Karriere-Chancen etwas ändern. Die erbärmliche bürgerliche
Vision einer "Vereinbarkeit von Beruf und Familie" läßt die
Sphärentrennung des warenproduzierenden Systems und damit die geschlechtliche
"Abspaltungs"-Struktur völlig unangetastet. Für die Mehrheit
der Frauen ist diese Perspektive unlebbar, für eine Minderheit von
"Besserverdienenden" wird sie zur perfiden Gewinnerposition in der sozialen
Apartheid, indem sie Haushalt und Kinderbetreuung an schlechtbezahlte (und
"selbstverständlich" weibliche) Angestellte delegieren können.
In der Gesamtgesellschaft wird die bürgerlich geheiligte Sphäre
des sogenannten Privatlebens und der Familie in Wahrheit immer weiter ausgehöhlt
und degradiert, weil die arbeitsgesellschaftliche Usurpation die ganze
Person, völlige Aufopferung, Mobilität und zeitliche Anpassung
fordert. Das Patriarchat wird nicht abgeschafft, es verwildert nur in der
uneingestandenen Krise der Arbeitsgesellschaft. In demselben Maße,
wie das warenproduzierende System zusammenbricht, werden die Frauen für
das Überleben auf allen Ebenen verantwortlich gemacht, während
die "männliche" Welt die Kategorien der Arbeitsgesellschaft simulativ
verlängert.
Furchtbares hat die Menschheit sich antun müssen, bis das Selbst,
der identische, zweckgerichtete, männliche Charakter des Menschen
geschaffen war, und etwas davon wird noch in jeder Kindheit wiederholt.
(Max Horkheimer/Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung)
Nicht nur faktisch, sondern auch begrifflich läßt sich die
Identität von Arbeit und Unmündigkeit nachweisen. Noch vor wenigen
Jahrhunderten war der Zusammenhang zwischen Arbeit und sozialem Zwang den
Menschen durchaus bewußt. In den meisten europäischen Sprachen
bezieht sich der Begriff "Arbeit" ursprünglich nur auf die Tätigkeit
des unmündigen Menschen, des Abhängigen, des Knechts oder des
Sklaven. Im germanischen Sprachraum bezeichnet das Wort die Schufterei
eines verwaisten und daher in Leibeigenschaft geratenen Kindes. "Laborare"
bedeutete im Lateinischen so viel wie "Schwanken unter einer schweren Last"
und meint allgemein gefaßt das Leiden und die Schinderei des Sklaven.
Die romanischen Wörter "travail", "trabajo" etc. leiten sich von dem
lateinischen "tripalium" ab, einer Art Joch, das zur Folter und Bestrafung
von Sklaven und anderen Unfreien eingesetzt wurde. In der deutschen Redeweise
vom "Joch der Arbeit" klingt noch eine Ahnung davon nach.
"Arbeit" ist also auch dem Wortstamm nach kein Synonym für selbstbestimmte
menschliche Tätigkeit, sondern verweist auf ein unglückliches
soziales Schicksal. Es ist die Tätigkeit derjenigen, die ihre Freiheit
verloren haben. Die Ausdehnung der Arbeit auf alle Gesellschaftsmitglieder
ist daher nichts als die Verallgemeinerung von knechtischer Abhängigkeit
und die moderne Anbetung der Arbeit bloß die quasi-religiöse
Überhöhung dieses Zustandes.
Dieser Zusammenhang konnte erfolgreich verdrängt und die soziale
Zumutung verinnerlicht werden, weil die Verallgemeinerung der Arbeit mit
ihrer "Versachlichung" durch das moderne warenproduzierende System einherging:
Die meisten Menschen stehen nicht mehr unter der Knute eines persönlichen
Herrn. Die soziale Abhängigkeit ist zu einem abstrakten Systemzusammenhang
geworden - und gerade dadurch total. Sie ist überall spürbar
und gerade deshalb kaum zu fassen. Wo jeder zum Knecht geworden ist, ist
jeder auch gleichzeitig Herr - als sein eigener Sklavenhändler und
Aufseher. Und alle gehorchen dem unsichtbaren Systemgötzen, dem "Großen
Bruder" der Kapitalverwertung, der sie unter das "tripalium" geschickt
hat.
Die Geschichte der Moderne ist die Durchsetzungsgeschichte der Arbeit,
die auf dem ganzen Planeten eine breite Spur der Verwüstung und des
Grauens gezogen hat. Denn nicht immer war die Zumutung, den größten
Teil der Lebensenergie für einen fremdbestimmten Selbstzweck zu vergeuden,
derart verinnerlicht wie heute. Es bedurfte mehrerer Jahrhunderte der offenen
Gewalt im großen Maßstab, um die Menschen in den bedingungslosen
Dienst des Arbeitsgötzen buchstäblich hineinzufoltern.
Am Anfang stand nicht die angeblich "wohlfahrtssteigernde" Ausdehnung
der Marktbeziehungen, sondern der unersättliche Geldhunger der absolutistischen
Staatsapparate, um die frühmodernen Militärmaschinen zu finanzieren.
Nur durch das Interesse dieser Apparate, die erstmals in der Geschichte
die ganze Gesellschaft in einen bürokratischen Würgegriff nahmen,
beschleunigte sich die Entwicklung des städtischen Kaufmanns- und
Finanzkapitals über die traditionellen Handelsbeziehungen hinaus.
Erst auf diese Weise wurde das Geld zu einem zentralen gesellschaftlichen
Motiv und das Abstraktum Arbeit zu einer zentralen gesellschaftlichen Anforderung
ohne Rücksicht auf die Bedürfnisse.
Nicht freiwillig gingen die meisten Menschen zur Produktion für
anonyme Märkte und damit zur allgemeinen Geldwirtschaft über,
sondern weil der absolutistische Geldhunger die Steuern monetarisiert und
gleichzeitig exorbitant erhöht hatte. Nicht für sich selbst mußten
sie "Geld verdienen", sondern für den militarisierten frühmodernen
Feuerwaffen-Staat, seine Logistik und seine Bürokratie. So und nicht
anders ist der absurde Selbstzweck der Kapitalverwertung und damit der
Arbeit in die Welt gekommen.
Bald genügten monetäre Steuern und Abgaben nicht mehr. Die
absolutistischen Bürokraten und finanzkapitalistischen Verwalter machten
sich daran, die Menschen direkt als das Material einer gesellschaftlichen
Maschine für die Verwandlung von Arbeit in Geld zwangsweise zu organisieren.
Die traditionelle Lebens- und Existenzweise der Bevölkerung wurde
zerstört; nicht weil diese Bevölkerung sich freiwillig und selbstbestimmt
"weiterentwickelt" hätte, sondern weil sie als Menschenmaterial der
angeworfenen Verwertungsmaschine herhalten sollte. Die Menschen wurden
mit Waffengewalt von ihren Feldern vertrieben, um der Schafzucht für
die Wollmanufakturen Platz zu machen. Alte Rechte wie das freie Jagen,
Fischen und Holzsammeln in den Wäldern wurden abgeschafft. Und wenn
die verarmten Massen dann bettelnd und stehlend durch die Lande zogen,
wurden sie in Arbeitshäuser und Manufakturen eingesperrt, um sie mit
Arbeitsfoltermaschinen zu malträtieren und ihnen ein Sklavenbewußtsein
von gefügigen Arbeitstieren einzuprügeln.
Aber auch diese schubweise Verwandlung ihrer Untertanen in das Material
des geldmachenden Arbeitsgötzen reichte den absolutistischen Monsterstaaten
noch lange nicht. Sie dehnten ihren Anspruch auch auf andere Kontinente
aus. Die innere Kolonisierung Europas ging einher mit der äußeren,
zuerst in den beiden Amerika und in Teilen Afrikas. Hier ließen die
Einpeitscher der Arbeit endgültig alle Hemmungen fallen. In bis dahin
beispiellosen Raub-, Zerstörungs- und Ausrottungsfeldzügen fielen
sie über die neu "entdeckten" Welten her - galten doch die dortigen
Opfer noch nicht einmal mehr als Menschen. Die menschenfressenden europäischen
Mächte der heraufdämmernden Arbeitsgesellschaft definierten die
unterjochten fremden Kulturen als "Wilde" und - Menschenfresser.
Damit war die Legitimation geschaffen, sie auszulöschen oder millionenfach
zu versklaven. Buchstäbliche Sklaverei in der kolonialen Plantagen-
und Rohstoffwirtschaft, die in ihren Dimensionen noch die antike Sklavenhaltung
übertraf, gehört zu den Gründungsverbrechen des warenproduzierenden
Systems. Hier wurde zum ersten Mal die "Vernichtung durch Arbeit" im großen
Stil betrieben. Das war die zweite Grundlegung der Arbeitsgesellschaft.
An den "Wilden" konnte der weiße Mann, der schon gezeichnet war von
der Selbstdisziplinierung, seinen verdrängten Selbsthaß und
Minderwertigkeitskomplex austoben. Ähnlich wie "die Frau" galten sie
ihm als naturnahe und primitive Halbwesen zwischen Tier und Mensch. Immanuel
Kant mutmaßte messerscharf, daß Paviane sprechen könnten,
wenn sie nur wollten; sie täten es nur deshalb nicht, weil sie sonst
befürchten müßten, zur Arbeit herangezogen zu werden.
Dieses groteske Räsonnement wirft ein verräterisches Licht
auf die Aufklärung. Das repressive Arbeitsethos der Moderne, das sich
in seiner ursprünglichen protestantischen Version auf die Gnade Gottes
und seit der Aufklärung auf das Naturgesetz berief, wurde als "zivilisatorische
Mission" maskiert. Kultur in diesem Sinne ist freiwillige Unterwerfung
unter die Arbeit; und Arbeit ist männlich, weiß und "abendländisch".
Das Gegenteil, die nicht-menschliche, unförmige und kulturlose Natur,
ist weiblich, farbig und "exotisch", also dem Zwang auszusetzen. Mit einem
Wort, der "Universalismus" der Arbeitsgesellschaft ist schon von seiner
Wurzel her durch und durch rassistisch. Das universelle Abstraktum Arbeit
kann sich immer nur selbst definieren durch Abgrenzung von allem, was nicht
in ihm aufgeht.
Es waren nicht die friedlichen Kaufleute der alten Handelswege, aus
denen das moderne Bürgertum hervorgegangen ist, das schließlich
den Absolutismus beerbte. Es waren vielmehr die Condottieri der frühmodernen
Söldnerhaufen, die Arbeits- und Zuchthausverwalter, Pächter der
Steuereintreibung, Sklavenaufseher und andere Halsabschneider, die den
sozialen Mutterboden für das moderne "Unternehmertum" bildeten. Die
bürgerlichen Revolutionen des 18. und 19. Jahrhunderts hatten nichts
mit sozialer Emanzipation zu tun; sie schichteten nur die Machtverhältnisse
innerhalb des entstandenen Zwangssystems um, lösten die Institutionen
der Arbeitsgesellschaft von den veralteten dynastischen Interessen ab und
trieben ihre Versachlichung und Entpersönlichung voran. Es war die
glorreiche Französiche Revolution, die mit besonderem Pathos eine
Pflicht zur Arbeit verkündete und in einem "Gesetz zur Beseitigung
des Bettelwesens" neue Arbeitszuchthäuser einführte.
Das war das genaue Gegenteil dessen, was die sozialrebellischen Bewegungen
erstrebten, die am Rande der bürgerlichen Revolutionen aufflammten,
ohne darin aufzugehen. Schon viel früher hatte es ganz eigenständige
Formen des Widerstands und der Verweigerung gegeben, mit denen die offizielle
Geschichtsschreibung der Arbeits- und Modernisierungsgesellschaft nichts
anfangen kann. Die Produzenten der alten Agrargesellschaften, die sich
auch mit den feudalen Herrschaftsverhältnissen niemals völlig
reibungslos abgefunden hatten, wollten sich erst recht nicht damit abfinden,
zur "Arbeiterklasse" eines ihnen äußerlichen Systemzusammenhangs
gemacht zu werden. Von den Bauernkriegen des 15. und 16. Jahrhunderts bis
zu den Erhebungen der später als "Maschinenstürmer" denunzierten
Bewegungen in England und dem Aufstand der schlesischen Weber von 1844
zieht sich eine einzige Kette von erbitterten Widerstandskämpfen gegen
die Arbeit. Die Durchsetzung der Arbeitsgesellschaft und ein bald offener,
bald latenter Bürgerkrieg waren über Jahrhunderte hinweg ein
und dasselbe.
Die alten agrarischen Gesellschaften waren alles andere als paradiesisch.
Aber der ungeheure Zwang der hereinbrechenden Arbeitsgesellschaft wurde
von der Mehrheit nur als Verschlechterung und als "Zeit der Verzweiflung"
erlebt. Tatsächlich hatten die Menschen trotz aller Enge der Verhältnisse
noch etwas zu verlieren. Was im falschen Bewußtsein der modernen
Welt als Finsternis und Plage eines erfundenen Mittelalters erscheint,
waren in Wirklichkeit die Schrecken ihrer eigenen Geschichte. In den vor-
und nichtkapitalistischen Kulturen innerhalb wie außerhalb Europas
war die tägliche ebenso wie die jährliche Zeit der Produktionstätigkeit
weitaus geringer als selbst heute noch für die modernen "Beschäftigten"
in Fabrik und Büro. Und diese Produktion war bei weitem nicht derart
verdichtet wie in der Arbeitsgesellschaft, sondern durchsetzt von einer
ausgeprägten Kultur der Muße und der relativen "Langsamkeit".
Von Naturkatastrophen abgesehen waren die materiellen Grundbedürfnisse
für die meisten weitaus besser gesichert als über weite Strecken
der Modernisierungsgeschichte - und auch besser als in den Horror-Slums
der heutigen Krisenwelt. Auch die Herrschaft ging nicht derart bis auf
die Haut wie in der durchbürokratisierten Arbeitsgesellschaft.
Deshalb konnte der Widerstand gegen die Arbeit nur militärisch
gebrochen werden. Bis heute heucheln sich die Ideologen der Arbeitsgesellschaft
darüber hinweg, daß die Kultur der vormodernen Produzenten nicht
"entwickelt", sondern in ihrem Blut erstickt wurde. Die abgeklärten
Arbeits-Demokraten von heute lasten all diese Ungeheuerlichkeiten am liebsten
den "vordemokratischen Zuständen" einer Vergangenheit an, mit der
sie nichts mehr zu tun hätten. Sie wollen nicht wahrhaben, daß
die terroristische Urgeschichte der Moderne verräterisch das Wesen
auch der heutigen Arbeitsgesellschaft enthüllt. Die bürokratische
Arbeitsverwaltung und staatliche Menschenerfassung in den industriellen
Demokratien konnte ihre absolutistischen und kolonialen Ursprünge
niemals verleugnen. In der Form der Versachlichung zu einem unpersönlichen
Systemzusammenhang ist die repressive Menschenverwaltung im Namen des Arbeitsgötzen
sogar noch angewachsen und hat alle Lebensbereiche durchdrungen.
Gerade heute wird in der Agonie der Arbeit der eiserne bürokratische
Griff wieder fühlbar wie in der Frühzeit der Arbeitsgesellschaft.
Die Arbeitsverwaltung enthüllt sich als das Zwangssystem, das sie
immer gewesen ist, indem sie die soziale Apartheid organisiert und die
Krise durch demokratische Staatssklaverei vergeblich zu bannen sucht. Ähnlich
kehrt der koloniale Ungeist wieder in der ökonomischen Zwangsverwaltung
der bereits reihenweise ruinierten Länder in der Peripherie durch
den Internationalen Währungsfonds. Nach dem Tod ihres Götzen
besinnt sich die Arbeitsgesellschaft in jeder Hinsicht auf die Methoden
ihrer Gründungsverbrechen, die sie dennoch nicht retten können.
Der Barbar ist faul, und unterscheidet sich vom Gebildeten dadurch,
daß er in der Stumpfheit vor sich hin brütet, denn die praktische
Bildung besteht eben in der Gewohnheit und in dem Bedürfen der Beschäftigung.
(Georg W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, 1821)
Im Grunde fühlt man jetzt [...], daß eine solche Arbeit
die beste Polizei ist, daß sie jeden im Zaume hält und die Entwicklung
der Vernunft, der Begehrlichkeit, des Unabhängigkeitsgelüstes
kräftig zu hindern versteht. Denn sie verbraucht außerordentlich
viel Nervenkraft und entzieht dieselbe dem Nachdenken, Grübeln, Träumen,
Sorgen, Lieben, Hassen.
(Friedrich Nietzsche, Die Lobredner der Arbeit, 1881)
Die klassische Arbeiterbewegung, die erst lange nach dem Untergang der
alten Sozialrevolten ihren Aufstieg erlebte, kämpfte nicht mehr gegen
die Zumutung der Arbeit, sondern entwickelte geradezu eine Überidentifikation
mit dem scheinbar Unausweichlichen. Ihr ging es nur noch um "Rechte" und
Verbesserungen innerhalb der Arbeitsgesellschaft, deren Zwänge sie
schon weitgehend verinnerlicht hatte. Statt die Verwandlung menschlicher
Energie in Geld als irrationalen Selbstzweck radikal zu kritisieren, nahm
sie selber den "Standpunkt der Arbeit" ein und begriff die Verwertung als
positiven, neutralen Tatbestand.
So trat die Arbeiterbewegung auf ihre Weise das Erbe von Absolutismus,
Protestantismus und bürgerlicher Aufklärung an. Aus dem Unglück
der Arbeit wurde der falsche Stolz der Arbeit, der die eigene Domestizierung
zum Menschenmaterial des modernen Götzen in ein "Menschenrecht" umdefinierte.
Die domestizierten Heloten der Arbeit drehten gewissermaßen den Spieß
ideologisch um und entwickelten einen missionarischen Eifer, einerseits
das "Recht auf Arbeit" einzuklagen und andererseits die "Arbeitspflicht
für alle" zu fordern. Das Bürgertum wurde nicht als Funktionsträger
der Arbeitsgesellschaft bekämpft, sondern im Gegenteil gerade im Namen
der Arbeit als parasitär beschimpft. Ausnahmslos alle Gesellschaftsmitglieder
sollten in die "Armeen der Arbeit" zwangsrekrutiert werden.
Die Arbeiterbewegung wurde so selber zu einem Schrittmacher der kapitalistischen
Arbeitsgesellschaft. Sie war es, die gegen die bornierten bürgerlichen
Funktionsträger des 19. und frühen 20. Jahrhunderts im Entwicklungsprozeß
der Arbeit die letzten Stufen der Versachlichung durchsetzte; ganz ähnlich,
wie ein Jahrhundert zuvor das Bürgertum den Absolutismus beerbt hatte.
Das war nur möglich, weil die Arbeiterparteien und Gewerkschaften
sich im Zuge ihrer Arbeitsvergottung auch positiv auf den Staatsapparat
und die Institutionen der repressiven Arbeitsverwaltung bezogen, die sie
nicht abschaffen, sondern selber in einer Art "Marsch durch die Institutionen"
besetzen wollten. Damit übernahmen sie ebenso wie vorher das Bürgertum
die bürokratische Tradition arbeitsgesellschaftlicher Menschenverwaltung
seit dem Absolutismus.
Die Ideologie einer sozialen Verallgemeinerung der Arbeit erforderte
allerdings auch ein neues politisches Verhältnis. An die Stelle der
ständischen Gliederung mit unterschiedlichen politischen "Rechten"
(z.B. Wahlrecht nach Steuerklassen) in der erst halb durchgesetzten Arbeitsgesellschaft
mußte die allgemeine demokratische Gleichheit des vollendeten "Arbeitsstaats"
treten. Und die Ungleichmäßigkeiten im Lauf der Verwertungsmaschine,
sobald sie das gesamte gesellschaftliche Leben bestimmte, mußten
"sozialstaatlich" ausgeglichen werden. Auch dafür lieferte die Arbeiterbewegung
das Paradigma. Unter dem Namen "Sozialdemokratie" wurde sie zur größten
"Bürgerbewegung" in der Geschichte, die doch nichts weiter sein konnte
als eine selbst gestellte Falle. Denn in der Demokratie wird alles verhandelbar,
nur nicht die Zwänge der Arbeitsgesellschaft, die vielmehr axiomatisch
vorausgesetzt sind. Was zur Debatte steht, können allein die Modalitäten
und Verlaufsformen dieser Zwänge sein. Es gibt immer nur die Wahl
zwischen Omo und Persil, zwischen Pest und Cholera, zwischen Frechheit
und Dummheit, zwischen Kohl und Schröder.
Die arbeitsgesellschaftliche Demokratie ist das perfideste Herrschaftssystem
der Geschichte - ein System der Selbstunterdrückung. Deshalb organisiert
diese Demokratie auch niemals die freie Selbstbestimmung der Gesellschaftsmitglieder
über die gemeinsamen Ressourcen, sondern stets nur die Rechtsform
der sozial voneinander getrennten Arbeitsmonaden, die konkurrierend ihre
Haut auf die Arbeitsmärkte tragen müssen. Demokratie ist das
Gegenteil von Freiheit. Und so zerfallen die demokratischen Arbeitsmenschen
notwendigerweise in Verwalter und Verwaltete, Unternehmer und Unternommene,
Funktionseliten und Menschenmaterial. Die politischen Parteien, gerade
auch die Arbeiterparteien, spiegeln dieses Verhältnis in ihrer eigenen
Struktur getreulich wieder. Führer und Geführte, Promis und Fußvolk,
Seilschaften und Mitläufer verweisen auf ein Verhältnis, das
nichts mit einer offenen Debatte und Entscheidungsfindung zu tun hat. Es
ist integraler Bestandteil dieser Systemlogik, daß die Eliten selber
nur unselbständige Funktionäre des Arbeitsgötzen und seiner
blinden Ratschlüsse sein können.
Spätestens seit den Nazis sind alle Parteien Arbeiterparteien
und gleichzeitig Parteien des Kapitals. In den "Entwicklungsgesellschaften"
des Ostens und Südens mutierte die Arbeiterbewegung zur staatsterroristischen
Partei der nachholenden Modernisierung; im Westen zu einem System von "Volksparteien"
mit auswechselbaren Programmen und medialen Repräsentationsfiguren.
Der Klassenkampf ist zu Ende, weil die Arbeitsgesellschaft am Ende ist.
Die Klassen erweisen sich als soziale Funktionskategorien eines gemeinsamen
Fetischsystems in demselben Maße, wie dieses System abstirbt. Wenn
Sozialdemokratie, Grüne und Ex-Kommunisten sich in der Krisenverwaltung
hervortun und besonders niederträchtige Repressionsprogramme entwerfen,
dann erweisen sie sich damit nur als legitime Erben einer Arbeiterbewegung,
die nie etwas anderes wollte als Arbeit um jeden Preis.
Die Arbeit muß das Szepter führen,
Knecht soll nur sein, wer müßig geht,
Die Arbeit muß die Welt regieren,
Weil nur durch sie die Welt besteht.
(Friedrich Stampfer, Der Arbeit Ehre, 1903)
Nach dem Zweiten Weltkrieg konnte es für einen kurzen historischen
Augenblick so scheinen, als hätte sich die Arbeitsgesellschaft in
den fordistischen Industrien zu einem System "immerwährender Prosperität"
konsolidiert, in dem die Unerträglichkeit des zwanghaften Selbstzwecks
durch Massenkonsum und Sozialstaat dauerhaft zu befrieden wäre. Abgesehen
davon, daß diese Vorstellung schon immer eine demokratische Heloten-Idee
war, die sich nur auf eine kleine Minderheit der Weltbevölkerung bezog,
mußte sie sich auch in den Zentren blamieren. Mit der dritten industriellen
Revolution der Mikroelektronik stößt die Arbeitsgesellschaft
an ihre absolute historische Schranke.
Daß diese Schranke früher oder später erreicht werden
mußte, war logisch vorhersehbar. Denn das warenproduzierende System
leidet von Geburt an unter einem unheilbaren Selbstwiderspruch. Einerseits
lebt es davon, massenhaft menschliche Energie durch Verausgabung von Arbeitskraft
in seine Maschinerie aufzusaugen, je mehr desto besser. Andererseits aber
erzwingt das Gesetz der betriebswirtschaftlichen Konkurrenz eine permanente
Steigerung der Produktivität, in der menschliche Arbeitskraft durch
verwissenschaftlichtes Sachkapital ersetzt wird.
Dieser Selbstwiderspruch war schon die tiefere Ursache aller früheren
Krisen, darunter der verheerenden Weltwirtschaftskrise von 1929-33. Die
Krisen konnten jedoch durch einen Mechanismus der Kompensation immer wieder
überwunden werden: Auf dem jeweils höheren Niveau der Produktivität
wurde nach einer gewissen Inkubationszeit durch Ausdehnung der Märkte
auf neue Käuferschichten absolut mehr Arbeit wieder eingesaugt, als
vorher wegrationalisiert worden war. Der Aufwand an Arbeitskraft pro Produkt
verminderte sich, aber es wurden absolut mehr Produkte in einem Ausmaß
hergestellt, daß diese Verminderung überkompensiert werden konnte.
Solange also die Produkt-Innovationen die Prozeß-Innovationen überstiegen,
konnte der Selbstwiderspruch des Systems in eine Expansionsbewegung übersetzt
werden.
Das herausragende historische Beispiel ist das Auto: Durch das Fließband
und andere Techniken der "arbeitswissenschaftlichen" Rationalisierung (zuerst
in Henry Fords Autofabrik in Detroit) verminderte sich die Arbeitszeit
pro Auto auf einen Bruchteil. Gleichzeitig wurde die Arbeit aber ungeheuer
verdichtet, also das Menschenmaterial in derselben Zeit um ein Vielfaches
ausgesaugt. Vor allem konnte das Auto, bis dahin ein Luxusprodukt für
die oberen Zehntausend, durch die damit einhergehende Verbilligung in den
Massenkonsum einbezogen werden.
Auf diese Weise wurde der unersättliche Appetit des Arbeitsgötzen
nach menschlicher Energie trotz rationalisierter Fließfertigung in
der zweiten industriellen Revolution des "Fordismus" auf höherem Niveau
befriedigt. Gleichzeitig ist das Auto ein zentrales Beispiel für den
destruktiven Charakter der hochentwickelten arbeitsgesellschaftlichen Produktions-
und Konsumtionsweise. Im Interesse der Massenproduktion von Autos und des
massenhaften Individualverkehrs wird die Landschaft zubetoniert und verhäßlicht,
die Umwelt verpestet und achselzuckend in Kauf genommen, daß auf
den Straßen der Welt jahraus, jahrein der unerklärte 3. Weltkrieg
tobt mit Millionen von Toten und Verstümmelten.
In der dritten industriellen Revolution der Mikroelektronik erlischt
der bisherige Mechanismus der Kompensation durch Expansion. Zwar werden
natürlich auch durch die Mikroelektronik viele Produkte verbilligt
und neue kreiert (vor allem im Bereich der Medien). Aber erstmals übersteigt
das Tempo der Prozeß-Innovation das Tempo der Produkt-Innovation.
Erstmals wird mehr Arbeit wegrationalisiert als durch Ausdehnung der Märkte
reabsorbiert werden kann. In logischer Fortsetzung der Rationalisierung
ersetzt elektronische Robotik menschliche Energie oder die neuen Kommunikationstechnologien
machen Arbeit überflüssig. Ganze Sektoren und Ebenen der Konstruktion,
der Produktion, des Marketings, der Lagerhaltung, des Vertriebs und selbst
des Managements brechen weg. Erstmals setzt der Arbeitsgötze sich
unfreiwillig selber auf dauerhafte Hungerration. Damit führt er seinen
eigenen Tod herbei.
Da es sich bei der demokratischen Arbeitsgesellschaft um ein ausgereiftes,
auf sich selbst rückgekoppeltes Selbstzwecksystem der Verausgabung
von Arbeitskraft handelt, ist innerhalb seiner Formen ein Umschalten auf
allgemeine Arbeitszeitverkürzung nicht möglich. Die betriebswirtschaftliche
Rationalität verlangt, daß einerseits immer größere
Massen dauerhaft "arbeitslos" und damit von der systemimmanenten Reproduktion
ihres Lebens abgeschnitten werden, während andererseits die stetig
schrumpfende Anzahl der "Beschäftigten" einer umso größeren
Arbeits- und Leistungshetze unterworfen wird. Mitten im Reichtum kehren
Armut und Hunger selbst in den kapitalistischen Zentren zurück, intakte
Produktionsmittel und Anbaufelder liegen massenhaft brach, Wohnungen und
öffentliche Gebäude stehen massenhaft leer, während die
Obdachlosigkeit unaufhaltsam steigt.
Kapitalismus wird zu einer globalen Minderheitsveranstaltung. In seiner
Not ist der sterbende Arbeitsgötze autokannibalistisch geworden. Auf
der Suche nach verbliebener Arbeitsnahrung sprengt das Kapital die Grenzen
der Nationalökonomie und globalisiert sich in einer nomadischen Verdrängungskonkurrenz.
Ganze Weltregionen werden von den globalen Kapital- und Warenflüssen
abgeschnitten. Mit einer historisch beispiellosen Welle von Fusionen und
"unfreundlichen Übernahmen" rüsten sich die Konzerne für
das letzte Gefecht der Betriebswirtschaft. Die desorganisierten Staaten
und Nationen implodieren, die von der Überlebenskonkurrenz in den
Wahnsinn getriebenen Bevölkerungen fallen in ethnischen Bandenkriegen
übereinander her.
Das moralische Grundprinzip ist das Recht des Menschen auf seine
Arbeit. [...] Für mein Gefühl gibt es nichts Abscheulicheres
als ein müßiges Leben. Keiner von uns hat ein Recht darauf.
Die Zivilisation hat keinen Platz für Müßiggänger.
(Henry Ford)
Das Kapital ist selbst der prozessierende Widerspruch [dadurch],
daß es die Arbeitszeit auf ein Minimum zu reduzieren strebt, während
es andrerseits die Arbeitszeit als einziges Maß und Quelle des Reichtums
setzt. [...] Nach der einen Seite hin ruft es also alle Mächte der
Wissenschaft und der Natur wie der gesellschaftlichen Kombination und des
gesellschaftlichen Verkehrs ins Leben, um die Schöpfung des Reichtums
(relativ) unabhängig zu machen von der auf sie angewandten Arbeitszeit.
Nach der andren Seite will es diese so geschaffnen riesigen Gesellschaftskräfte
messen an der Arbeitszeit und sie einbannen in die Grenzen, die erheischt
sind, um den schon geschaffnen Wert als Wert zu erhalten.
(Karl Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie,
1857/58)
Notwendigerweise zieht die Krise der Arbeit die Krise des Staates und
damit der Politik nach sich. Grundsätzlich verdankt der moderne Staat
seine Karriere der Tatsache, daß das warenproduzierende System eine
übergeordnete Instanz benötigt, die den Rahmen der Konkurrenz,
die allgemeinen Rechtsgrundlagen und Voraussetzungen der Verwertung garantiert
- unter Einschluß der Repressionsapparate für den Fall, daß
das Menschenmaterial einmal systemwidrig unbotmäßig werden sollte.
In seiner massendemokratisch ausgereiften Form mußte der Staat im
20. Jahrhundert auch zunehmend sozialökonomische Aufgaben übernehmen:
Nicht nur das soziale Netz gehört dazu, sondern auch das Bildungs-
und Gesundheitswesen, Verkehrs- und Kommunikationsnetze, Infrastrukturen
aller Art, die für das Funktionieren der industriell entwickelten
Arbeitsgesellschaft unerläßlich geworden sind, aber nicht selber
als betriebswirtschaftlicher Verwertungsprozeß organisiert werden
können. Denn diese Infrastrukturen müssen auf der Ebene der Gesamtgesellschaft
dauerhaft und flächendeckend zur Verfügung stehen, können
also nicht den Marktkonjunkturen von Angebot und Nachfrage folgen.
Da der Staat aber keine selbständige Verwertungseinheit ist und
somit nicht selber Arbeit in Geld verwandeln kann, muß er Geld aus
dem realen Verwertungsprozeß abschöpfen, um seine Aufgaben zu
finanzieren. Versiegt die Verwertung, so versiegen auch die Staatsfinanzen.
Der vermeintliche gesellschaftliche Souverän erweist sich als völlig
unselbständig gegenüber der blinden, fetischisierten Ökonomie
der Arbeitsgesellschaft. Er mag Gesetze beschließen, so viel er will;
wenn die Produktivkräfte über das System der Arbeit hinauswachsen,
läuft das positive staatliche Recht ins Leere, das sich immer nur
auf Subjekte der Arbeit beziehen kann.
Mit stetig wachsender Massenarbeitslosigkeit vertrocknen die Staatseinnahmen
aus der Besteuerung von Arbeitseinkommen. Die sozialen Netze reißen,
sobald eine kritische Masse von "Überflüssigen" erreicht wird,
die nur noch durch Umverteilung von anderen Geldeinkommen kapitalistisch
ernährt werden können. Mit dem rapiden Konzentrationsprozeß
des Kapitals in der Krise, der über die nationalökonomischen
Grenzen hinausgreift, brechen auch die Staatseinnahmen aus der Besteuerung
von Unternehmensgewinnen weg. Die transnationalen Konzerne zwingen die
um Investitionen konkurrierenden Staaten zum Steuerdumping, Sozialdumping
und Ökodumping.
Genau diese Entwicklung ist es, die den demokratischen Staat zum reinen
Krisenverwalter mutieren läßt. Je mehr er sich dem finanziellen
Notstand nähert, desto mehr reduziert er sich auf seinen repressiven
Kern. Die Infrastrukturen werden zurückgefahren auf die Bedürfnisse
des transnationalen Kapitals. Wie ehemals in den kolonialen Gebieten beschränkt
sich die gesellschaftliche Logistik zunehmend auf wenige ökonomische
Zentren, während der Rest verödet. Was sich privatisieren läßt,
wird privatisiert, auch wenn damit immer mehr Menschen von den elementarsten
Versorgungsleistungen ausgeschlossen bleiben. Wo die Kapitalverwertung
sich auf immer weniger Weltmarktinseln konzentriert, kommt es auf eine
flächendeckende Versorgung der Bevölkerung nicht mehr an.
Soweit es nicht die unmittelbar wirtschaftsrelevanten Bereiche betrifft,
ist es uninteressant, ob Züge fahren und Briefe ankommen. Die Bildung
wird zum Privileg der Globalisierungsgewinnler. Die geistige, künstlerische
und theoretische Kultur wird auf das Kriterium der Marktgängigkeit
verwiesen und stirbt ab. Das Gesundheitswesen wird unfinanzierbar und zerfällt
in ein Klassensystem. Zuerst schleichend und klammheimlich, dann in aller
Offenheit gilt das Gesetz der sozialen Euthanasie: Weil du arm und "überflüssig"
bist, mußt du früher sterben.
Während alle Kenntnisse, Fähigkeiten und Mittel der Medizin,
der Bildung, der Kultur, der allgemeinen Infrastruktur überreichlich
zur Verfügung stehen, werden sie nach dem zum "Finanzierungsvorbehalt"
objektivierten irrationalen Gesetz der Arbeitsgesellschaft unter Verschluß
gehalten, demobilisiert und verschrottet - genau wie die industriellen
und agrarischen Produktionsmittel, die nicht mehr "rentabel" darstellbar
sind. Außer der repressiven Arbeitssimulation durch Formen der Zwangs-
und Billigarbeit und dem Abbau aller Leistungen hat der zum Apartheid-System
transformierte demokratische Staat seinen Ex-Arbeitsbürgern nichts
mehr zu bieten. In einem weiter fortgeschrittenen Stadium zerfällt
die Staatsverwaltung überhaupt. Die Staatsapparate verwildern zu einer
korrupten Kleptokratie, das Militär zu Mafia-Kriegsbanden, die Polizei
zu Wegelagerern.
Diese Entwicklung kann durch keine Politik der Welt mehr aufgehalten
oder gar rückgängig gemacht werden. Denn Politik ist ihrem Wesen
nach staatsbezogenes Handeln, das unter den Bedingungen der Entstaatlichung
gegenstandslos wird. Die linksdemokratische Formel von der "politischen
Gestaltung" der Verhältnisse blamiert sich von Tag zu Tag mehr. Außer
endloser Repression, Abbau der Zivilisation und Hilfestellung für
den "Terror der Ökonomie" gibt es nichts mehr zu "gestalten". Da der
arbeitsgesellschaftliche Selbstzweck der politischen Demokratie axiomatisch
vorausgesetzt ist, kann es für die Krise der Arbeit auch keine politisch-demokratische
Regulation geben. Das Ende der Arbeit wird zum Ende der Politik.
Das herrschende gesellschaftliche Bewußtsein lügt sich systematisch
über den wahren Zustand der Arbeitsgesellschaft hinweg. Die Zusammenbruchsregionen
werden ideologisch exkommuniziert, die Arbeitsmarktstatistiken hemmungslos
gefälscht, die Formen der Verelendung medial wegsimuliert. Simulation
ist überhaupt das zentrale Merkmal des Krisenkapitalismus. Das gilt
auch für die Ökonomie selbst. Wenn es zumindest in den westlichen
Kernländern bis jetzt so erscheint, als könnte das Kapital auch
ohne Arbeit akkumulieren und die reine Form des Geldes substanzlos aus
sich heraus die weitere Verwertung des Werts garantieren, so ist dieser
Schein einem Simulationsprozeß der Finanzmärkte geschuldet.
Spiegelbildlich zur Simulation der Arbeit durch Zwangsmaßnahmen der
demokratischen Arbeitsverwaltung hat sich eine Simulation der Kapitalverwertung
durch die spekulative Entkoppelung des Kreditsystems und der Aktienmärkte
von der Realökonomie herausgebildet.
Die Vernutzung gegenwärtiger Arbeit wird ersetzt durch den Zugriff
auf die Vernutzung zukünftiger Arbeit, die nie mehr stattfinden wird.
Es handelt sich gewissermaßen um eine Kapitalakkumulation in einem
fiktiven "Futur II". Das Geldkapital, das nicht mehr rentabel in die Realökonomie
reinvestiert werden und daher keine Arbeit mehr ansaugen kann, muß
verstärkt in die Finanzmärkte ausweichen.
Schon der fordistische Schub der Verwertung in den Zeiten des "Wirtschaftswunders"
nach dem Zweiten Weltkrieg war kein vollständig selbsttragender mehr.
Weit über seine Steuereinnahmen hinaus nahm der Staat in einem bis
dahin ungekannten Ausmaß Kredite auf, weil die Rahmenbedingungen
der Arbeitsgesellschaft anders nicht mehr finanzierbar waren. Der Staat
verpfändete also seine zukünftigen reellen Einnahmen. Auf diese
Weise entstand einerseits für "überschüssiges" Geldkapital
eine finanzkapitalistische Anlagemöglichkeit - es wurde dem Staat
gegen Zinsen geliehen. Dieser beglich die Zinsen aus neuen Krediten und
schleuste das geliehene Geld umgehend wieder in den ökonomischen Kreislauf
zurück. Er finanzierte also damit andererseits Sozialausgaben und
Infrastruktur-Investitionen und schuf so eine im kapitalistischen Sinne
künstliche, weil durch keinerlei produktive Arbeitsverausgabung gedeckte
Nachfrage. Der fordistische Boom wurde so über seine eigentliche Reichweite
hinaus verlängert, indem die Arbeitsgesellschaft ihre eigene Zukunft
anzapfte.
Dieses simulative Moment schon des scheinbar noch intakten Verwertungsprozesses
fand seine Grenzen zusammen mit der Staatsverschuldung. Die staatlichen
"Schuldenkrisen" nicht nur in der 3. Welt, sondern auch in den Zentren
ließen eine weitere Expansion auf diesem Wege nicht mehr zu. Das
war die objektive Grundlage für den Siegeszug der neoliberalen Deregulierung,
die laut Ideologie mit einer drastischen Senkung der Staatsquote am Sozialprodukt
einhergehen sollte. In Wirklichkeit werden Deregulierung und Abbau der
Staatsaufgaben kompensiert durch die Kosten der Krise, und sei es in Form
der staatlichen Repressions- und Simulationskosten. In vielen Staaten steigt
die Staatsquote auf diese Weise sogar noch an.
Aber die weitere Akkumulation des Kapitals ist durch die Staatsverschuldung
nicht mehr zu simulieren. Deshalb verlagerte sich seit den 80er Jahren
die zusätzliche Kreation des fiktiven Kapitals auf die Aktienmärkte.
Dort geht es längst nicht mehr um die Dividende, den Gewinnanteil
an der realen Produktion, sondern nur noch um den Kursgewinn, die spekulative
Wertsteigerung der Eigentumstitel bis in astronomische Größenordnungen.
Das Verhältnis von Realökonomie und spekulativer Finanzmarktbewegung
hat sich auf den Kopf gestellt. Die spekulative Kurssteigerung nimmt nicht
mehr die realökonomische Expansion vorweg, sondern umgekehrt simuliert
die Hausse fiktiver Wertschöpfung eine Realakkumulation, die es schon
gar nicht mehr gibt.
Der Arbeitsgötze ist klinisch tot, aber er wird künstlich
beatmet durch die scheinbar verselbständigte Expansion der Finanzmärkte.
Industrielle Unternehmen machen Gewinne, die gar nicht mehr aus der längst
zum Verlustgeschäft gewordenen Produktion und dem Verkauf von realen
Gütern stammen, sondern aus der Beteiligung einer "cleveren" Finanzabteilung
an der Aktien- und Devisenspekulation. Öffentliche Haushalte weisen
Einnahmen aus, die gar nicht mehr durch Steuern oder Kreditaufnahme zustande
kommen, sondern durch eifriges Mitgehen der Finanzverwaltung an den Zockermärkten.
Und private Haushalte, deren reelle Einnahmen aus Löhnen und Gehältern
dramatisch zurückgehen, leisten sich ein weiterhin hohes Konsumniveau,
indem sie Aktiengewinne beleihen. Es entsteht also eine neue Form von künstlicher
Nachfrage, die dann wiederum reale Produktion und reale staatliche Steuereinnahmen
"ohne Boden unter den Füßen" nach sich zieht.
Auf diese Weise wird die Weltwirtschaftskrise durch den spekulativen
Prozeß hinausgeschoben. Aber da die fiktive Wertsteigerung der Eigentumstitel
nur die Vorwegnahme zukünftiger realer Arbeitsvernutzung (in einem
entsprechend astronomischen Ausmaß) sein kann, die nie mehr kommen
wird, muß der objektivierte Schwindel nach einer gewissen Inkubationszeit
auffliegen. Der Zusammenbruch der "emerging markets" in Asien, Lateinamerika
und Osteuropa hat einen ersten Vorgeschmack geliefert. Es ist nur eine
Frage der Zeit, bis auch die Finanzmärkte der kapitalistischen Zentren
in den USA, der EU und Japan kollabieren.
Dieser Zusammenhang wird im arbeitsgesellschaftlichen Fetisch-Bewußtsein
und gerade auch bei den herkömmlichen linken und rechten "Kapitalismuskritikern"
völlig verzerrt wahrgenommen. Fixiert auf das zur überhistorischen
und positiven Existenzbedingung geadelte Phantom der Arbeit verwechseln
sie systematisch Ursache und Wirkung. Der vorübergehende Krisenaufschub
durch die spekulative Expansion der Finanzmärkte erscheint dann genau
umgekehrt als vermeintliche Ursache der Krise. Die "bösen Spekulanten",
so heißt es mehr oder weniger panisch, würden die ganze schöne
Arbeitsgesellschaft kaputtmachen, weil sie das "gute Geld", von dem "genug
da" sei, aus Jux und Tollerei verzocken, statt es brav und solide in wunderbare
"Arbeitsplätze" zu investieren, auf daß eine arbeitswahnsinnige
Heloten-Menschheit weiterhin "vollbeschäftigt" sein könne.
Es will in diese Köpfe einfach nicht hinein, daß keineswegs
die Spekulation die Realinvestitionen zum Stehen gebracht hat, sondern
diese schon durch die 3. industrielle Revolution unrentabel geworden sind
und das spekulative Abheben nur ein Symptom dafür sein kann. Das Geld,
das da in scheinbar unerschöpflicher Menge zirkuliert, ist selbst
im kapitalistischen Sinne längst kein "gutes" mehr, sondern bloß
noch "heiße Luft", mit der die spekulative Blase aufgetrieben wurde.
Jeder Versuch, diese Blase durch Projekte einer wie auch immer gearteten
Besteuerung anzupieksen ("Tobinsteuer" usw.), um das Geldkapital wieder
auf die vermeintlich "richtigen" und realen arbeitsgesellschaftlichen Mühlen
zu lenken, könnte nur mit dem umso schnelleren Platzen der Blase enden.
Statt zu begreifen, daß wir alle unaufhaltsam unrentabel werden
und deshalb das Kriterium der Rentabilität selber samt seinen arbeitsgesellschaftlichen
Grundlagen als obsolet anzugreifen ist, dämonisiert man lieber "die
Spekulanten" - dieses billige Feindbild pflegen einhellig Rechtsradikale
und Autonome, biedere Gewerkschaftsfunktionäre und keynesianische
Nostalgiker, Sozialtheologen und Talkmaster, überhaupt alle Apostel
der "ehrlichen Arbeit". Die wenigsten sind sich bewußt, daß
es von da bis zur Remobilisierung des antisemitischen Wahns nur noch ein
kleiner Schritt ist. Das "schaffende" nationalblütige Realkapital
gegen das "raffende" international-"jüdische" Geldkapital zu beschwören,
droht das letzte Wort der geistig verwahrlosten Arbeitsplatz-Linken zu
werden. Das letzte Wort der von Haus aus rassistischen, antisemitischen
und antiamerikanischen Arbeitsplatz-Rechten ist es sowieso.
Sobald die Arbeit in unmittelbarer Form aufgehört hat, die große
Quelle des Reichtums zu sein, hört und muß aufhören die
Arbeitszeit sein Maß zu sein und daher der Tauschwert [das Maß]
des Gebrauchswerts. [...] Damit bricht die auf dem Tauschwert ruhnde Produktion
zusammen und der unmittelbare materielle Produktionsprozeß erhält
selbst die Form der Notdürftigkeit und Gegensätzlichkeit abgestreift.
(Karl Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie,
1857/58)
Nach Jahrhunderten der Zurichtung kann sich der moderne Mensch ein Leben
jenseits der Arbeit schlechterdings nicht mehr vorstellen. Als imperiales
Prinzip beherrscht die Arbeit nicht nur die Sphäre der Ökonomie
im engeren Sinne, sondern durchdringt das gesamte soziale Dasein bis in
die Poren des Alltags und der privaten Existenz. Die "Freizeit", schon
dem Wortsinne nach ein Gefängnisbegriff, dient längst selber
dazu, Waren "aufzuarbeiten", um so für den nötigen Absatz zu
sorgen.
Aber sogar jenseits der verinnerlichten Pflicht zum Warenkonsum als
Selbstzweck legt sich der Schatten der Arbeit auch außerhalb von
Büro und Fabrik auf das moderne Individuum. Sobald es sich aus dem
Fernsehsessel erhebt und aktiv wird, verwandelt sich jedes Tun sofort in
ein arbeitsähnliches. Der Jogger ersetzt die Stechuhr durch die Stoppuhr,
im chromblanken Fitneßstudio erlebt die Tretmühle ihre postmoderne
Wiedergeburt und die Urlauber schrubben in ihrem Auto Kilometer herunter,
als müßten sie die Jahresleistung eines Fernfahrers erbringen.
Selbst noch das Vögeln orientiert sich an DIN-Normen der Sexualforschung
und an Konkurrenzmaßstäben der Talk-Show-Prahlereien.
Erlebte König Midas es immerhin noch als Fluch, daß alles,
was er berührte, sich in Gold verwandelte, so ist sein moderner Leidensgenosse
über dieses Stadium bereits hinaus. Der Arbeitsmensch merkt nicht
einmal mehr, daß durch die Angleichung an das Muster der Arbeit jedes
Tun seine besondere sinnliche Qualität verliert und gleichgültig
wird. Im Gegenteil: nur durch diese Angleichung an die Gleichgültigkeit
der Warenwelt mißt er einer Tätigkeit überhaupt erst Sinn,
Berechtigung und soziale Bedeutung zu. Mit einem Gefühl wie Trauer
etwa kann das Arbeitssubjekt nicht viel anfangen; die Verwandlung von Trauer
in "Trauerarbeit" indes macht diesen emotionalen Fremdkörper zu einer
bekannten Größe, über die man sich mit seinesgleichen austauschen
kann. Selbst noch das Träumen wird so zur "Traumarbeit", die Auseinandersetzung
mit einem geliebten Menschen zur "Beziehungsarbeit" und der Umgang mit
Kindern zur "Erziehungsarbeit" entwirklicht und vergleichgültigt.
Wo immer der moderne Mensch auf der Ernsthaftigkeit seines Tuns beharren
will, hat er auch schon das Wort "Arbeit" auf den Lippen.
Der Imperialismus der Arbeit schlägt sich also im alltäglichen
Sprachgebrauch nieder. Wir sind nicht nur gewohnt, das Wort "Arbeit" inflationär
zu verwenden, sondern auch auf zwei ganz verschiedenen Bedeutungsebenen.
"Arbeit" bezeichnet längst nicht mehr nur (wie es zutreffend wäre)
die kapitalistische Tätigkeitsform in der Selbstzweck-Mühle,
sondern dieser Begriff ist zum Synonym für jede zielgerichtete Anstrengung
überhaupt geworden und hat damit seine Spuren verwischt.
Diese begriffliche Unschärfe bereitet den Boden für eine
ebenso halbseidene wie gängige Kritik der Arbeitsgesellschaft, die
genau verkehrt herum operiert, nämlich vom positiv gedeuteten Imperialismus
der Arbeit aus. Der Arbeitsgesellschaft wird ausgerechnet vorgeworfen,
daß sie das Leben noch nicht genug mit ihrer Tätigkeitsform
beherrscht, weil sie den Begriff der Arbeit angeblich "zu eng" faßt,
nämlich "Eigenarbeit" oder "unbezahlte Selbsthilfe" (Hausarbeit, Nachbarschaftshilfe
usw.) daraus moralisch exkommuniziert und nur marktgängige Erwerbsarbeit
als "wirkliche" Arbeit gelten läßt. Eine Neubewertung und Erweiterung
des Arbeitsbegriffs soll diese einseitige Fixierung und die damit verbundenen
Hierarchisierungen beseitigen.
Es geht diesem Denken also gar nicht um die Emanzipation von den herrschenden
Zwängen, sondern lediglich um eine semantische Reparatur. Die unübersehbare
Krise der Arbeitsgesellschaft soll dadurch gelöst werden, daß
das gesellschaftliche Bewußtsein bislang inferiore Tätigkeitsformen
neben der kapitalistischen Produktionssphäre "wirklich" in den Adelsstand
der Arbeit erhebt. Aber die Inferiorität dieser Tätigkeiten ist
eben nicht bloß das Ergebnis einer bestimmten ideologischen Betrachtungsweise,
sondern gehört zur Grundstruktur des warenproduzierenden Systems und
ist durch nette moralische Umdefinitionen nicht aufzuheben.
In einer Gesellschaft, die von der Warenproduktion als Selbstzweck
beherrscht wird, kann als eigentlicher Reichtum nur gelten, was in monetarisierter
Gestalt darstellbar ist. Der davon bestimmte Arbeitsbegriff strahlt zwar
imperial auf alle anderen Sphären aus, aber nur negativ, indem er
diese als von sich abhängig kenntlich macht. Die Sphären außerhalb
der Warenproduktion bleiben so notwendigerweise im Schatten der kapitalistischen
Produktionssphäre, weil sie in der abstrakten betriebswirtschaftlichen
Zeitsparlogik nicht aufgehen - auch und gerade dann, wenn sie lebensnotwendig
sind wie der abgespaltene, als "weiblich" definierte Tätigkeitsbereich
des privaten Haushalts, der persönlichen Zuwendung usw.
Eine moralisierende Erweiterung des Arbeitsbegriffs statt seiner radikalen
Kritik verschleiert nicht nur den realen gesellschaftlichen Imperialismus
der warenproduzierenden Ökonomie, sondern fügt sich auch bestens
in die autoritären Strategien der staatlichen Krisenverwaltung ein.
Die seit den 70er Jahren erhobene Forderung, auch die "Hausarbeit" und
die Tätigkeiten im "Dritten Sektor" als vollgültige Arbeit gesellschaftlich
"anzuerkennen", spekulierte zunächst auf finanzielle staatliche Transferleistungen.
Der Krisenstaat allerdings dreht den Spieß um und mobilisiert den
moralischen Impetus dieser Forderung im Sinne des berüchtigten "Subsidiaritätsprinzips"
gerade gegen ihre materiellen Hoffnungen.
Das Hohelied auf "Ehrenamt" und "Bürgerarbeit" handelt nicht von
der Erlaubnis, in den ziemlich leeren staatlichen Finanztöpfen stochern
zu dürfen, sondern wird zum Alibi für den sozialen Rückzug
des Staates, für die anlaufenden Zwangsarbeitsprogramme und für
den schäbigen Versuch, die Krisenlast hauptsächlich auf die Frauen
abzuwälzen. Die offiziellen gesellschaftlichen Institutionen geben
ihre soziale Verpflichtung preis mit dem ebenso freundlichen wie kostenlosen
Appell an "uns alle", doch gefälligst fortan mit privater Eigeninitiative
eigenes wie fremdes Elend zu bekämpfen und keine materiellen Forderungen
mehr zu stellen. So öffnet die als Emanzipationsprogramm mißverstandene
Definitions-Akrobatik am weiterhin geheiligten Arbeitsbegriff dem staatlichen
Versuch Tür und Tor, die Aufhebung der Lohnarbeit als Beseitigung
des Lohns unter Beibehaltung der Arbeit auf der verbrannten Erde der Marktwirtschaft
zu vollziehen. Unfreiwillig wird damit bewiesen, daß soziale Emanzipation
heute nicht die Umwertung der Arbeit, sondern nur die bewußte Entwertung
der Arbeit zum Inhalt haben kann.
Neben den materiellen können einfache, personenbezogene Dienste
auch den immateriellen Wohlstand erhöhen. So kann das Wohlbefinden
der Kunden steigen, wenn ihnen Dienstleister belastende Eigenarbeit abnehmen.
Zugleich steigt das Wohlbefinden der Dienstleister, wenn sich ihr Selbstwertgefügl
durch die Tätigkeit erhöht. Einen einfachen, personenbezogenen
Dienst auszuüben ist für die Psyche besser als arbeitslos zu
sein.
(Bericht der Kommission für Zukunftsfragen der Freistaaten
Bayern und Sachsen, 1997)
Halte Dich fest an die Kenntnis, die sich beim Arbeiten bewährt,
denn die Natur selbst bestätigt diese und sagt Ja dazu. Eigentlich
hast Du gar keine andere Kenntnis, als die, welche Du durch das Arbeiten
erworben, das übrige ist alles nur eine Hypothese des Wissens.
(Thomas Carlyle, Arbeiten und nicht verzweifeln, 1843)
So sehr die fundamentale Krise der Arbeit auch verdrängt und tabuisiert
wird, sie prägt dennoch alle aktuellen sozialen Konflikte. Der Übergang
von einer Gesellschaft der Massenintegration zu einer Selektions- und Apartheids-Ordnung
hat nicht etwa zu einer neuen Runde des alten Klassenkampfs zwischen Kapital
und Arbeit geführt, sondern zu einer kategorialen Krise des systemimmanenten
Interessenkampfes selbst. Schon in der Epoche der Prosperität nach
dem Zweiten Weltkrieg war die alte Emphase des Klassenkampfes verblaßt.
Aber nicht etwa deswegen, weil das "an sich" revolutionäre Subjekt
durch manipulative Machenschaften und Bestechung mit fragwürdigem
Wohlstand "integriert" worden wäre, sondern weil sich umgekehrt auf
dem fordistischen Entwicklungsstand die logische Identität von Kapital
und Arbeit als soziale Funktions-Kategorien einer gemeinsamen gesellschaftlichen
Fetischform herausschälte. Der systemimmanente Wunsch, die Ware Arbeitskraft
zu möglichst guten Konditionen zu verkaufen, verlor jedes transzendierende
Moment.
Ging es dabei bis in die 70er Jahre hinein immerhin noch darum, eine
Beteiligung möglichst breiter Schichten der Bevölkerung an den
giftigen arbeitsgesellschaftlichen Früchten zu erstreiten, so ist
selbst dieser Impuls unter den neuen Krisenbedingungen der 3. industriellen
Revolution erloschen. Nur solange die Arbeitsgesellschaft expandierte,
war es möglich, den Interessenkampf ihrer sozialen Funktions-Kategorien
im großen Maßstab zu führen. In demselben Maße jedoch,
wie die gemeinsame Basis verfällt, können die systemimmanenten
Interessen nicht mehr auf gesamtgesellschaftlichem Niveau zusammengefaßt
werden. Eine allgemeine Entsolidarisierung setzt ein. Die Lohnarbeiter
desertieren aus den Gewerkschaften, die Managerinnen aus den Unternehmensverbänden.
Jeder für sich und der kapitalistische System-Gott gegen alle: Die
vielbeschworene Individualisierung ist nichts als ein weiteres Krisensymptom
der Arbeitsgesellschaft.
Soweit überhaupt noch Interessen aggregiert werden können,
geschieht dies nur im mikro-ökonomischen Maßstab. Denn in demselben
Maße, wie es sich als Hohn auf die soziale Befreiung geradezu zum
Privileg entwickelt hat, das eigene Leben betriebswirtschaftlich verwursten
zu lassen, degeneriert die Interessenvertretung der Ware Arbeitskraft zur
knallharten Lobby-Politik immer kleinerer sozialer Segmente. Wer die Logik
der Arbeit akzeptiert, muß jetzt auch die Logik der Apartheid akzeptieren.
Es geht nur noch darum, der eigenen eng umrissenen Klientel auf Kosten
aller anderen die Verkäuflichkeit ihrer Haut zu sichern. Belegschaften
und Betriebsräte finden ihren wahren Gegner längst nicht mehr
im Management ihres Unternehmens, sondern in den Lohnabhängigen konkurrierender
Betriebe und "Standorte", egal ob in der nächsten Ortschaft oder im
Fernen Osten. Und wenn sich die Frage stellt, wer beim nächsten Schub
betriebswirtschaftlicher Rationalisierung über die Klinge springen
muß, werden auch die Nachbarabteilung und der unmittelbare Kollege
zum Feind.
Die radikale Entsolidarisierung betrifft keineswegs nur die betriebliche
und gewerkschaftliche Auseinandersetzung. Da gerade in der Krise der Arbeitsgesellschaft
alle Funktionskategorien umso fanatischer auf deren inhärenter Logik
beharren, daß jedes menschliche Wohlergehen bloßes Abfallprodukt
rentabler Verwertung sein kann, beherrscht das Sankt-Florians-Prinzip alle
Interessenkonflikte. Sämtliche Lobbys kennen die Spielregeln und handeln
danach. Jede Mark, die eine andere Klientel erhält, ist für die
eigene verloren. Jeder Einschnitt am anderen Ende des sozialen Netzes erhöht
die Chance, selber noch eine Galgenfrist herauszuschinden. Der Rentner
wird zum natürlichen Gegner aller Beitragszahler, der Kranke zum Feind
aller Versicherten und der Immigrant zum Haßobjekt aller wildgewordenen
Inländer.
Irreversibel erschöpft sich so das Unterfangen, den systemimmanenten
Interessenkampf als Hebel sozialer Emanzipation einsetzen zu wollen. Damit
ist die klassische Linke am Ende. Eine Wiedergeburt radikaler Kapitalismuskritik
setzt den kategorialen Bruch mit der Arbeit voraus. Erst wenn ein neues
Ziel der sozialen Emanzipation jenseits der Arbeit und ihrer abgeleiteten
Fetisch-Kategorien (Wert, Ware, Geld, Staat, Rechtsform, Nation, Demokratie
usw.) gesetzt wird, ist eine Re-Solidarisierung auf hohem Niveau und im
gesamtgesellschaftlichen Maßstab möglich. Und erst in dieser
Perspektive können auch systemimmanente Abwehrkämpfe gegen die
Logik der Lobbysierung und Individualisierung re-aggregiert werden; jetzt
allerdings nicht mehr im positiven, sondern im negatorischen strategischen
Bezug auf die herrschenden Kategorien.
Bis jetzt drückt sich die Linke vor dem kategorialen Bruch mit
der Arbeitsgesellschaft. Sie verharmlost die Systemzwänge zur bloßen
Ideologie und die Logik der Krise zum bloßen politischen Projekt
der "Herrschenden". An die Stelle des kategorialen Bruchs tritt die sozialdemokratische
und keynesianische Nostalgie. Nicht eine neue konkrete Allgemeinheit sozialer
Formierung jenseits von abstrakter Arbeit und Geldform wird angestrebt,
sondern die Linke versucht die alte abstrakte Allgemeinheit des systemimmanenten
Interesses krampfhaft festzuhalten. Aber diese Versuche bleiben selber
abstrakt und können keine soziale Massenbewegung mehr integrieren,
weil sie sich an den realen Krisenverhältnissen vorbeimogeln.
Das gilt besonders für die Forderung nach einem garantierten Existenzgeld
oder Mindesteinkommen. Statt konkrete soziale Abwehrkämpfe gegen bestimmte
Maßnahmen des Apartheid-Regimes mit einem allgemeinen Programm gegen
die Arbeit zu verbinden, will diese Forderung eine falsche Allgemeinheit
der sozialen Kritik herstellen, die in jeder Hinsicht abstrakt, systemimmanent
und hilflos bleibt. Die soziale Krisenkonkurrenz kann damit nicht überwunden
werden. Ignorant wird das ewige Weiterfunktionieren der globalen Arbeitsgesellschaft
vorausgesetzt, denn woher sonst sollte das Geld kommen, um dieses staatlich
garantierte Grundeinkommen zu finanzieren, wenn nicht aus gelingenden Verwertungsprozessen?
Wer auf eine solche "Sozialdividende" baut (schon der Name spricht Bände),
muß gleichzeitig klammheimlich auf eine privilegierte Position des
"eigenen" Landes in der globalen Konkurrenz setzen. Denn nur der Sieg im
Weltkrieg der Märkte würde es vorübergehend erlauben, einige
Millionen kapitalistisch "überflüssiger" Mitesser zuhause durchzufüttern
- unter Ausschluß aller Menschen ohne inländischen Paß,
versteht sich.
Die Reform-Heimwerker der Existenzgeldforderung ignorieren die kapitalistische
Verfaßtheit der Geldform in jeder Hinsicht. Letztlich geht es ihnen
nur darum, vom kapitalistischen Arbeits- und Warenkonsum-Subjekt das letztere
zu retten. Statt die kapitalistische Lebensweise überhaupt in Frage
zu stellen, soll die Welt trotz Krise der Arbeit weiterhin unter Lawinen
stinkender Blechhaufen, häßlicher Betonklötze und minderwertigen
Warenschrotts begraben werden, damit den Menschen die einzige klägliche
Freiheit erhalten bleibt, die sie sich noch vorstellen können: die
Wahlfreiheit vor den Regalen des Supermarkts.
Aber selbst diese traurige und beschränkte Perspektive ist völlig
illusionär. Ihre linken Protagonisten und theoretischen Analphabeten
haben vergessen, daß der kapitalistische Warenkonsum niemals schlicht
der Befriedigung von Bedürfnissen dient, sondern immer nur eine Funktion
der Verwertungsbewegung sein kann. Wenn die Arbeitskraft nicht mehr zu
verkaufen ist, gelten selbst elementare Bedürfnisse als unverschämte
luxurierende Ansprüche, die auf ein Minimum herabgedrückt werden
müssen. Und genau dafür wird das Existenzgeld-Programm ein Vehikel
sein, nämlich als Instrument staatlicher Kostenreduktion und als Elendsversion
der Sozialtransfers, die an die Stelle der kollabierenden Sozialversicherungen
tritt. In diesem Sinne hat der Vordenker des Neoliberalismus, Milton Friedman,
das Konzept des Grundeinkommens ursprünglich entworfen, bevor eine
abgerüstete Linke es als vermeintlichen Rettungsanker entdeckte. Und
mit diesem Inhalt wird es auch Wirklichkeit werden - oder gar nicht.
Es hat sich gezeigt, daß infolge der unvermeidlichen Gesetze
der Menschennatur manche menschliche Wesen der Not ausgesetzt sein werden.
Diese sind die unglücklichen Personen, die in der großen Lebenslotterie
eine Niete gezogen haben.
(Thomas Robert Malthus)
Der kategoriale Bruch mit der Arbeit findet keine fertigen und objektiv
bestimmten gesellschaftlichen Lager vor wie der systemimmanent beschränkte
Interessenkampf. Er ist ein Bruch mit der falschen Sachgesetzlichkeit einer
"zweiten Natur", also nicht selber wieder ein quasi-automatischer Vollzug,
sondern negatorische Bewußtheit - Verweigerung und Rebellion ohne
irgendein "Gesetz der Geschichte" im Rücken. Ausgangspunkt kann kein
neues abstrakt-allgemeines Prinzip sein, sondern nur der Ekel vor dem eigenen
Dasein als Arbeits- und Konkurrenzsubjekt und die kategorische Weigerung,
auf immer elenderem Niveau weiter so funktionieren zu müssen.
Trotz ihrer absoluten Vorherrschaft ist es der Arbeit nie gelungen,
den Widerwillen gegen die von ihr gesetzten Zwänge ganz auszulöschen.
Neben allen regressiven Fundamentalismen und allem Konkurrenzwahn der sozialen
Selektion gibt es auch ein Protest- und Widerstandspotential. Das Unbehagen
im Kapitalismus ist massenhaft vorhanden, aber in den soziopsychischen
Untergrund abgedrängt. Es wird nicht abgerufen. Deshalb bedarf es
eines neuen geistigen Freiraums, damit das Undenkbare denkbar gemacht werden
kann. Das Weltdeutungsmonopol des Arbeits-Lagers ist aufzubrechen. Der
theoretischen Kritik der Arbeit kommt dabei die Rolle eines Katalysators
zu. Sie hat die Pflicht, die herrschenden Denkverbote frontal anzugreifen
und ebenso offen wie klar auszusprechen, was sich niemand zu wissen traut
und viele doch spüren: Die Arbeitsgesellschaft ist definitiv am Ende.
Und es gibt nicht den geringsten Grund, ihr Hinscheiden zu bedauern.
Erst die ausdrücklich formulierte Kritik der Arbeit und eine entsprechende
theoretische Debatte können jene neue Gegenöffentlichkeit schaffen,
die unabdingbare Voraussetzung dafür ist, daß sich eine praktische
soziale Bewegung gegen die Arbeit konstituiert. Die Binnenstreitereien
innerhalb des Arbeits-Lagers haben sich erschöpft und werden immer
absurder. Umso dringender ist es, die gesellschaftlichen Konfliktlinien
neu zu bestimmen, entlang derer sich ein Bündnis gegen die Arbeit
formieren kann.
Es gilt also in groben Zügen zu skizzieren, welche Zielsetzungen
für eine Welt jenseits der Arbeit möglich sind. Das Programm
gegen die Arbeit speist sich nicht aus einem Kanon positiver Prinzipien,
sondern aus der Kraft der Negation. Ging die Durchsetzung der Arbeit mit
der umfassenden Enteignung der Menschen von den Bedingungen ihres eigenen
Lebens einher, so kann die Negation der Arbeitsgesellschaft nur darin bestehen,
daß sich die Menschen ihren gesellschaftlichen Zusammenhang auf höherem
historischen Niveau wieder aneignen. Die Gegner der Arbeit werden deshalb
die Bildung weltweiter Verbünde frei assoziierter Individuen anstreben,
die der leerlaufenden Arbeits- und Verwertungsmaschine die Produktions-
und Existenzmittel entreißen und sie in die eigene Hand nehmen. Nur
im Kampf gegen die Monopolisierung aller gesellschaftlichen Ressourcen
und Reichtumspotentiale durch die Entfremdungsmächte von Markt und
Staat lassen sich soziale Räume der Emanzipation erobern.
Dabei ist auch das Privateigentum auf eine neue und andere Weise anzugreifen.
Für die bisherige Linke war das Privateigentum nicht die juristische
Form des warenproduzierenden Systems, sondern lediglich eine ominöse
subjektive "Verfügungsgewalt" der Kapitalisten über die Ressourcen.
So konnte der absurde Gedanke entstehen, das Privateigentum auf dem Boden
der Warenproduktion überwinden zu wollen. Als Gegensatz zum Privateigentum
erschien daher in der Regel das Staatseigentum ("Verstaatlichung"). Der
Staat aber ist nichts als die äußerliche Zwangsgemeinschaft
oder abstrakte Allgemeinheit der sozial atomisierten Warenproduzenten,
das Staatseigentum somit nur eine abgeleitete Form des Privateigentums
- egal, ob es mit dem Adjektiv "sozialistisch" versehen wird oder nicht.
In der Krise der Arbeitsgesellschaft wird das Privateigentum ebenso
wie das Staatseigentum obsolet, weil beide Eigentumsformen gleichermaßen
den Verwertungsprozeß voraussetzen. Eben deshalb liegen die entsprechenden
sachlichen Mittel zunehmend brach und bleiben verschlossen. Und eifersüchtig
wachen die staatlichen, betrieblichen und juristischen Funktionäre
darüber, daß dies so bleibt und die Produktionsmittel eher verrotten
als für einen anderen Zweck eingesetzt zu werden. Die Eroberung der
Produktionsmittel durch freie Assoziationen gegen die staatliche und juristische
Zwangsverwaltung kann daher nur bedeuten, daß diese Produktionsmittel
nicht mehr in der Form der Warenproduktion für anonyme Märkte
mobilisiert werden.
An die Stelle der Warenproduktion tritt die direkte Diskussion, Absprache
und gemeinsame Entscheidung der Gesellschaftsmitglieder über den sinnvollen
Einsatz der Ressourcen. Die unter dem Diktat des kapitalistischen Selbstzwecks
undenkbare gesellschaftlich-institutionelle Identität von Produzenten
und Konsumenten wird hergestellt. Die entfremdeten Institutionen von Markt
und Staat werden abgelöst durch ein gestaffeltes System von Räten,
in denen vom Stadtteil bis zur Weltebene die freien Assoziationen nach
Gesichtspunkten sinnlicher, sozialer und ökologischer Vernunft über
den Fluß der Ressourcen bestimmen.
Nicht mehr der Selbstzweck von Arbeit und "Beschäftigung" bestimmt
das Leben, sondern die Organisation des sinnvollen Einsatzes von gemeinsamen
Möglichkeiten, die durch keine automatische "unsichtbare Hand" gesteuert
werden, sondern durch bewußtes gesellschaftliches Handeln. Der produzierte
Reichtum wird direkt nach Bedürfnissen angeeignet, nicht nach "Zahlungsfähigkeit".
Zusammen mit der Arbeit verschwindet die abstrakte Allgemeinheit des Geldes
ebenso wie diejenige des Staates. An die Stelle der getrennten Nationen
tritt eine Weltgesellschaft, die keine Grenzen mehr benötigt, in der
sich jeder Mensch frei bewegen und an jedem beliebigen Ort das universelle
Gastrecht beanspruchen kann.
Die Kritik der Arbeit ist eine Kriegserklärung an die herrschende
Ordnung, keine friedliche Nischen-Koexistenz mit deren Zwängen. Die
Parole der sozialen Emanzipation kann nur lauten: Nehmen wir uns, was wir
brauchen! Kriechen wir nicht länger auf Knien unter das Joch der Arbeitsmärkte
und der demokratischen Krisenverwaltung! Die Voraussetzung dafür ist
die Kontrolle neuer sozialer Organisationsformen (freier Assoziationen,
Räte) über die gesamtgesellschaftlichen Bedingungen der Reproduktion.
Dieser Anspruch unterscheidet die Gegner der Arbeit grundsätzlich
von allen Nischenpolitikern und Kleingeistern eines Schrebergarten-Sozialismus.
Die Herrschaft der Arbeit spaltet das menschliche Individuum. Sie trennt
das Wirtschaftssubjekt vom Staatsbürger, das Arbeitstier vom Freizeitmenschen,
das abstrakt Öffentliche vom abstrakt Privaten, die produzierte Männlichkeit
von der produzierten Weiblichkeit und sie stellt den vereinzelten Einzelnen
ihren eigenen gesellschaftlichen Zusammenhang als eine fremde, sie beherrschende
Macht gegenüber. Die Gegner der Arbeit streben die Aufhebung dieser
Schizophrenie in der konkreten Aneignung des gesellschaftlichen Zusammenhangs
durch bewußt und selbstreflexiv handelnde Menschen an.
Die "Arbeit" ist ihrem Wesen nach die unfreie, unmenschliche,
ungesellschaftliche, vom Privateigentum bedingte und das Privateigentum
schaffende Tätigkeit. Die Aufhebung des Privateigentums wird also
erst zu einer Wirklichkeit, wenn sie als Aufhebung der "Arbeit"
gefaßt wird .
(Karl Marx, Über Friedrich Lists Buch "Das nationale System
der politischen Ökonomie", 1845)
Man wird den Gegnern der Arbeit vorwerfen, sie seien nichts als Phantasten.
Die Geschichte habe erwiesen, daß eine Gesellschaft, die nicht auf
den Prinzipien der Arbeit, des Leistungszwangs, der marktwirtschaftlichen
Konkurrenz und des individuellen Eigennutzes basiere, nicht funktionieren
könne. Wollt ihr, Apologeten des herrschenden Zustands, also behaupten,
daß die kapitalistische Warenproduktion tatsächlich der Mehrheit
der Menschen ein auch nur im entferntesten annehmbares Leben beschert hat?
Nennt ihr es "funktionieren", wenn ausgerechnet das sprunghafte Wachstum
der Produktivkräfte Milliarden von Menschen aus der Menschheit stößt
und sie froh sein dürfen, auf Müllhalden zu überleben? Wenn
Milliarden andere das gehetzte Leben unter dem Diktat der Arbeit nur noch
ertragen, indem sie sich isolieren und vereinsamen, indem sie ihren Geist
genußlos betäuben und physisch wie psychisch erkranken? Wenn
die Welt in eine Wüste verwandelt wird, nur um aus Geld mehr Geld
zu machen? Nun gut. Das ist in der Tat die Art und Weise, wie euer grandioses
System der Arbeit "funktioniert". Solche Leistungen allerdings wollen wir
nicht vollbringen!
Eure Selbstzufriedenheit beruht auf eurer Ignoranz und auf der Schwäche
eures Gedächtnisses. Die einzige Rechtfertigung, die ihr für
eure gegenwärtigen und zukünftigen Verbrechen findet, ist der
Zustand der Welt, der auf euren vergangenen Verbrechen beruht. Ihr habt
vergessen und verdrängt, welcher Staatsmassaker es bedurfte, bis den
Menschen euer gelogenes "Naturgesetz" ins Hirn gefoltert war, daß
es geradezu ein Glück sei, fremdbestimmt "beschäftigt" zu werden
und sich die Lebensenergie für den abstrakten Selbstzweck eures Systemgötzen
aussaugen zu lassen.
Erst mußten alle Institutionen der Selbstorganisation und der
selbstbestimmten Kooperation in den alten Agrargesellschaften ausgerottet
werden, bis die Menschheit überhaupt in der Lage war, die Herrschaft
von Arbeit und Eigennutz zu verinnerlichen. Vielleicht wurde wirklich ganze
Arbeit geleistet. Wir sind keine übertriebenen Optimisten. Wir können
nicht wissen, ob die Befreiung aus diesem konditionierten Dasein gelingen
wird. Es ist offen, ob der Untergang der Arbeit zur Überwindung des
Arbeitswahns führt oder zum Ende der Zivilisation.
Ihr werdet einwenden, mit der Aufhebung des Privateigentums und des
Zwangs zum Geldverdienen werde alle Tätigkeit aufhören und eine
allgemeine Faulheit einreißen. Gebt ihr also zu, daß euer gesamtes
"natürliches" System auf purem Zwang beruht? Und daß ihr deshalb
die Faulheit als Todsünde wider den Geist des Arbeitsgötzen fürchtet?
Die Gegner der Arbeit jedoch haben überhaupt nichts gegen die Faulheit.
Eines ihrer vorrangigen Ziele ist es, die Kultur der Muße wiederherzustellen,
die einst alle Gesellschaften kannten und die vernichtet wurde, um ein
rastloses und sinnvergessenes Produzieren durchzusetzen. Deshalb werden
die Gegner der Arbeit zuerst all die vielen Produktionszweige ersatzlos
stillegen, die überhaupt nur dazu dienen, ohne Rücksicht auf
Verluste den verrückten Selbstzweck des warenproduzierenden Systems
aufrechtzuerhalten.
Wir sprechen nicht nur von den offensichtlich gemeingefährlichen
Arbeitsbereichen wie der Auto-, der Rüstungs- und der Atomindustrie,
sondern auch von der Produktion jener zahlreichen Sinnprothesen und albernen
Belustigungsgegenstände, die den Arbeitsmenschen einen Ersatz für
ihr vergeudetes Leben vortäuschen sollen. Verschwinden wird auch die
ungeheure Menge jener Tätigkeiten, die überhaupt nur deswegen
anfallen, weil die Produktmassen durch das Nadelöhr der Geldform und
Marktvermittlung hindurchgepreßt werden müssen. Oder meint ihr,
daß noch Buchhalter und Kostenrechner, Marketingspezialisten und
Verkäufer, Vertreter und Werbetexter vonnöten sind, sobald die
Dinge nach Bedarf hergestellt werden und alle einfach nehmen, was sie brauchen?
Und wozu sollte es noch Finanzbeamte und Polizisten, Sozialarbeiter und
Armutsverwalter geben, wenn kein Privateigentum mehr geschützt, kein
soziales Elend verwaltet und niemand für entfremdete Systemzwänge
zugerichtet werden muß?
Wir hören schon den Aufschrei: Die vielen Arbeitsplätze!
Jawohl. Rechnet es ruhig einmal aus, wieviel Lebenszeit sich die Menschheit
täglich raubt, nur um "tote Arbeit" aufzuhäufen, Menschen zu
verwalten und das herrschende System zu schmieren. Wieviel Zeit wir alle
in der Sonne liegen könnten statt uns für Dinge zu schinden,
über deren grotesken, repressiven und zerstörerischen Charakter
schon ganze Bibliotheken geschrieben wurden. Doch keine Angst. Keinesfalls
wird alle Tätigkeit aufhören, wenn die Zwänge der Arbeit
verschwinden. Allerdings verändert alle Tätigkeit ihren Charakter,
wenn sie nicht mehr in eine selbstzweckhafte und entsinnlichte Sphäre
von abstrakten Fließzeiten gebannt wird, sondern ihrem eigenen, individuell
variablen Zeitmaß folgen kann und in persönliche Lebenszusammenhänge
integriert ist; wenn auch in großen Organisationsformen der Produktion
die Menschen selber den Ablauf bestimmen, statt vom Diktat der betriebswirtschaftlichen
Verwertung bestimmt zu werden. Warum sich hetzen lassen von den dreisten
Anforderungen einer aufgezwungenen Konkurrenz? Es gilt, die Langsamkeit
wiederzuentdecken.
Nicht verschwinden werden natürlich auch jene Tätigkeiten
der Hauswirtschaft und der Pflege von Menschen, die in der Arbeitsgesellschaft
unsichtbar gemacht, abgespalten und als "weiblich" definiert worden sind.
Das Kochen ist ebensowenig zu automatisieren wie das Wickeln von Kleinkindern.
Wenn zusammen mit der Arbeit die Trennung der sozialen Sphären überwunden
wird, können diese notwendigen Tätigkeiten ins Licht bewußter
sozialer Organisation jenseits der geschlechtlichen Zuschreibungen treten.
Sie verlieren ihren repressiven Charakter, sobald sie nicht mehr Menschen
unter sich subsumieren und je nach Umständen und Bedürfnissen
von Männern wie Frauen gleichermaßen verrichtet werden.
Wir sagen nicht, daß jede Tätigkeit dadurch zum Genuß
wird. Einige mehr, andere weniger. Natürlich gibt es immer Notwendiges,
das getan werden muß. Aber wen wollte das schrecken, wenn das Leben
nicht davon aufgefressen wird? Und es wird immer viel mehr geben, was aus
freier Entscheidung heraus getan werden kann. Denn die Tätigkeit ist
ja ebenso ein Bedürfnis wie die Muße. Nicht einmal die Arbeit
hat dieses Bedürfnis ganz auslöschen können, sondern es
für sich instrumentalisiert und vampirisch ausgesaugt.
Die Gegner der Arbeit sind weder Fanatiker eines blinden Aktivismus
noch eines ebenso blinden Nichtstuns. Muße, notwendige Tätigkeit
und freigewählte Aktivitäten müssen in ein sinnvolles Verhältnis
gebracht werden, das sich nach Bedürfnissen und Lebenszusammenhängen
richtet. Einmal den kapitalistischen Sachzwängen der Arbeit entwunden,
können die modernen Produktivkräfte die frei disponible Zeit
für alle ungeheuer ausdehnen. Warum Tag für Tag viele Stunden
in Fabrikhallen und Büros zubringen, wenn Automaten aller Art uns
den größten Teil dieser Tätigkeiten abnehmen können?
Warum hunderte menschlicher Körper schwitzen lassen, wenn einige Mähdrescher
genügen? Warum Geist auf eine Routine verschwenden, die auch ein Computer
ohne weiteres ausführt?
Allerdings kann für diese Zwecke nur der geringste Teil
der Technik in seiner kapitalistischen Form übernommen werden. Das
Gros der technischen Aggregate ist völlig umzuformen, wurden diese
doch nach den bornierten Maßstäben der abstrakten Rentabilität
gebaut. Viele technische Möglichkeiten sind andererseits aus demselben
Grund gar nicht erst entwickelt worden. Obwohl solare Energie an jeder
Ecke gewonnen werden kann, setzt die Arbeitsgesellschaft zentralisierte
und lebensgefährliche Kraftwerke in die Welt. Und obwohl schonende
Methoden der agrarischen Produktion längst bekannt sind, schüttet
das abstrakte Geldkalkül tausenderlei Gifte ins Wasser, zerstört
die Böden und verpestet die Luft. Aus rein betriebswirtschaftlichen
Gründen werden Bauteile und Lebensmittel dreimal um den Globus gejagt,
obwohl die meisten Dinge ohne große Transportwege leicht vor Ort
hergestellt werden können. Ein erheblicher Teil der kapitalistischen
Technik ist ebenso sinnlos und überflüssig wie der dazugehörige
Aufwand menschlicher Energie.
Wir sagen euch damit nichts Neues. Und doch werdet ihr niemals
Konsequenzen aus dem ziehen, was ihr auch selber sehr gut wißt. Denn
ihr verweigert euch jeder bewußten Entscheidung darüber, welche
Produktions-, Transport- und Kommunikationsmittel sinnvollerweise einzusetzen
und welche schädlich oder schlicht überflüssig sind. Je
hektischer ihr euer Mantra der demokratischen Freiheit abnudelt, desto
verbissener weist ihr die elementarste soziale Entscheidungsfreiheit zurück,
weil ihr weiterhin dem herrschenden Leichnam der Arbeit und seinen Pseudo-"Naturgesetzen"
dienen wollt.
Daß die Arbeit aber selbst nicht nur unter den jetzigen Bedingungen,
sondern insofern überhaupt ihr Zweck die bloße Vergrößerung
des Reichtums ist, ich sage, daß die Arbeit selbst schädlich,
unheilvoll ist, das folgt, ohne daß der Nationalökonom (Adam
Smith) es weiß, aus seinen eigenen Entwicklungen.
(Karl Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte, 1844)
Unser Leben ist der Mord durch Arbeit,
wir hängen 60 Jahre lang am Strick und zappeln,
aber wir werden uns losschneiden.
(Georg Büchner, Dantons Tod, 1835)
Die Überwindung der Arbeit ist alles andere als eine wolkige Utopie.
Die Weltgesellschaft kann in der bestehenden Form keine 50 oder 100 Jahre
mehr weitermachen. Daß die Gegner der Arbeit es mit dem bereits klinisch
toten Arbeitsgötzen zu tun haben, macht ihre Aufgabe freilich nicht
unbedingt leichter. Denn je mehr die Krise der Arbeitsgesellschaft sich
zuspitzt und alle Reparaturversuche als Fehlschläge enden, desto mehr
wächst auch die Kluft zwischen der Vereinzelung der hilflosen sozialen
Monaden und den Anforderungen einer gesamtgesellschaftlichen Aneignungsbewegung.
Die zunehmende Verwilderung der sozialen Verhältnisse in großen
Teilen der Welt zeigt, daß sich das alte Arbeits- und Konkurrenzbewußtsein
auf immer niedrigerem Niveau fortsetzt. Die schubweise Entzivilisierung
scheint trotz aller Impulse eines Unbehagens im Kapitalismus die naturwüchsige
Verlaufsform der Krise zu sein.
Gerade bei derart negativen Aussichten wäre es fatal, die praktische
Kritik der Arbeit als umfassendes gesamtgesellschaftliches Programm hintanzustellen
und sich darauf zu beschränken, eine prekäre Überlebenswirtschaft
in den Ruinen der Arbeitsgesellschaft zu errichten. Die Kritik der Arbeit
hat nur eine Chance, wenn sie gegen den Strom der Entgesellschaftung ankämpft,
statt sich davon mitreißen zu lassen. Aber zivilisatorische Standards
sind nicht mehr mit der demokratischen Politik zu verteidigen, sondern
nur noch gegen sie.
Wer die emanzipatorische Aneignung und Transformation des kompletten
gesellschaftlichen Zusammenhangs anstrebt, kann schwerlich die Instanz
ignorieren, die bislang dessen Rahmenbedingungen organisiert. Es ist unmöglich,
gegen die Enteignung der eigenen gesellschaftlichen Potenzen zu rebellieren,
ohne sich mit dem Staat zu konfrontieren. Denn der Staat verwaltet nicht
nur ungefähr die Hälfte des gesellschaftlichen Reichtums, er
sichert auch die zwanghafte Unterordnung aller gesellschaftlichen Potentiale
unter das Gebot der Verwertung. Sowenig die Gegner der Arbeit Staat und
Politik ignorieren können, ebensowenig ist mit ihnen Staat und Politik
zu machen.
Wenn das Ende der Arbeit auch das Ende der Politik ist, dann wäre
eine politische Bewegung für die Aufhebung der Arbeit ein Widerspruch
in sich. Die Gegner der Arbeit richten Forderungen an den Staat, aber sie
bilden keine politische Partei und sie werden auch keine bilden. Der Zweck
der Politik kann es nur sein, den Staatsapparat zu erobern, um mit der
Arbeitsgesellschaft weiterzumachen. Die Gegner der Arbeit wollen daher
nicht die Schaltzentralen der Macht besetzen, sondern sie ausschalten.
Ihr Kampf ist nicht politisch, sondern antipolitisch.
Untrennbar sind Staat und Politik der Moderne mit dem Zwangssystem
der Arbeit verquickt und deshalb müssen sie zusammen mit diesem verschwinden.
Das Gerede von einer Renaissance der Politik ist nur der Versuch, die Kritik
des ökonomischen Terrors auf ein positiv staatsbezogenes Handeln zurückzuzerren.
Selbstorganisation und Selbstbestimmung aber sind das genaue Gegenteil
von Staat und Politik. Die Eroberung sozial-ökonomischer und kultureller
Freiräume vollzieht sich nicht auf dem politischen Umweg, Dienstweg
und Irrweg, sondern als Konstitution einer Gegengesellschaft.
Freiheit heißt, sich weder vom Markt verwursten noch vom Staat
verwalten zu lassen, sondern den gesellschaftlichen Zusammenhang in eigener
Regie zu organisieren - ohne Dazwischenkunft entfremdeter Apparate. In
diesem Sinne geht es für die Gegner der Arbeit darum, neue Formen
sozialer Bewegung zu finden und Brückenköpfe einzunehmen für
eine Reproduktion des Lebens jenseits der Arbeit. Es gilt, die Formen einer
gegengesellschaftlichen Praxis mit der offensiven Verweigerung der Arbeit
zu verbinden.
Mögen die herrschenden Mächte uns für verrückt
erklären, weil wir den Bruch mit ihrem irrationalen Zwangssystem riskieren.
Wir haben nichts zu verlieren als die Aussicht auf die Katastrophe, in
die sie uns hineinsteuern. Wir haben eine Welt jenseits der Arbeit zu gewinnen.
Proletarier aller Länder, macht Schluß!
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Juni 1999
Herausgeberin: Zeitschrift Krisis - Beiträge zur Kritik der Warengesellschaft,
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