Massenintoxikation in München
Offene Drogenszene
Heute beginnt auf der
Theresienwiese der bayrischen Hauptstadt der weltweit größte
Rauschmittelexzeß. Polizei rechnet mit Toten und Schwerverletzten.
Rotes Kreuz errichtet Ausnüchterungszelle direkt auf dem Festplatz
München,
1997 (taz) - Schwerste Exzesse von voraussichtlich mehr als sechs Millionen
Drogengebrauchern werden beim heute beginnenden sogenannten Oktoberfest
in München erwartet. 16 Tage und Nächte lang trifft sich auf
der Theresienwiese eine internationale Drogenszene zur weltweit größten
Orgie mit Suchtmitteln. Die Polizei rechnet mit täglich Zehntausenden
von berauschten Probierern und Dauerkonsumenten aller Altersstufen. Die
Rettungsdienste halten rund um die Uhr ein massives Aufgebot an Hilfskräften
in Bereitschaff. Allein das Bayerische Rote Kreuz (BRK)
hat nach Auskunft von Sprecherin Helge Walz 73 Ärzte und 831 Sanitäter
und Schwestern im Einsatz. In den Kliniken stehen Notfallbetten zur Behandlung
akuter Intoxikationen, rauschbedingter Psychosen und Verletzungen bereit,
Chillout-Räume mit "Ausnüchterungsliegen" wurden beim "Schottenhammelzelt"
auf dem Festgelände eingerichtet.
Die
stark ritualisierte Drogenaufnahme der Abhängigen beginnt heute um
12 Uhr mit dem gewaltsamen Öffnen eines riesigen Holzzubers, in dem
sich große Mengen der psychoaktiven Substanzen befinden. Unter Aufsagen
kultischer Formeln ("O'zapft is!") beginnt der Mißbrauch.
Als Location dienen vorübergehend installierte Zelte, in denen das
Rauschgift aufgenommen wird. Zur Applikation werden gläserne Rundbehältnisse
benutzt, die exakt 1.000 Kubikzentimeter Flüssigkeit fassen -"Maß"
genannt. In ihnen befindet sich das Rauschmittel: ein durch Vergärung
von Gerste entstandenes, leicht bitter bis süßlich schmeckendes
Substanzgemisch mit durchschnittlich 3,5 bis 6 Prozent Alkohol, dem pharmakologischen
Hauptwirkstoff. Die Drogenaufnahme wird meist von dröhnenden Blechinstrumenten
und Schlagwerken begleitet. Eigens von den Rauschgiftherstellern —"Brauereien"—
engagierte Vorsänger stacheln den Konsum an: "Oans, zwoa, g'suffa!"
Auf Kommando werden die Glasbehältnisse kollektiv zum Mund geführt
und die Drogen oral eingenommen.
Der
aktuelle Preis für 1.000 Gramm Flüssigdroge soll dieses Jahr
bei 10,20 Mark bis 10,90 Mark liegen. Der Stoff wird meist von tief dekolletierten
Frauen in sexuell aufreizender Tracht ("Dirndl") angeboten.
Abgestellte Eichwächter des staatlichen Ordnungsamts achten darauf,
daß die Drogengebraucher nicht durch den Dealer "gelinkt" werden.
Stichprobebenartig kontrollieren sie, ob sich in den Behältnissen
die bezahlte Menge an Drogen befindet, und gewährleisten so eine standardisierte
Rauschtiefe.
Schon wenige Minuten nach dem Mißbrauch der suchterzeugenden Substanz
kann eine Euphorie und Bewußtseinsveränderung beobachtet werden.
Danach setzt ein Gefühl des Wohlbefindens, der Enthemmung und des
verminderten Antriebs ein. Chronische Mißbraucher sind an aufgedunsenen
Gesichtern sowie der typischen kugelförmigen Ausstülpung im abdominalen
Bereich mit der Ausbildung von Fettschürzen erkennbar.
Weitere Symptome sind überlautes Sprechen und Singen, eine verschwommene,
nicht selten repetitive Artikulation, ein unsicheres Gleichgewichtsgefühl
und Störungen der Bewegungskoordination. Bei den häufig auftretenden,
schweren Überdosierungen kommt es zu lähmenden Wirkungen auf
das Zentralnervensystem. Entsprechend ist die Alkoholvergiftung durch eine
schwere Bewußtseinseintrübung und häufigen Übergang
zur Schnappatmung gekennzeichnet. Der Tod tritt durch Atemlähmung
ein. Im vergangenen Jahr mußten ambulante Mediziner auf der Theresienwiese
nach BRK-Angaben 265 schwer Überdosierte notärztlich versorgen.
1996 hat allein in der Bundesrepublik das Rauschgift 40.000 Drogentote
gefordert. Die Zahl der Abhängigen wird auf drei Millionen geschätzt.
Bei
Ausschreitungen der Berauschten muß mit Toten und Schwerverletzten
gerechnet werden. In den vergangenen beiden Jahren registrierte die Münchner
Polizei in ihrer "Wies'n-Bilanz" drei Todesfälle, 905 Körperverletzungen,
13.952 Verwarnungen. 1.121 mal mußten die Beamten wegen Raufereien,
Messerstechereien und anderen rauschbedingten Straftaten ausrücken.
Besonders häufig schlagen die User mit ihren kaum geleerten Drogenbehältnissen
aufeinander ein. 964 Maßkrüge wurden dabei sichergestellt. Bei
mehr als 2.200 Einsätzen des Roten Kreuzes standen "chirurgische Weichteilverletzungen,
Schnittwunden und Knochenbrüche" im Vordergrund, so BRK-Wiesenexpene
Volker Ruland.
Die Beschaffungskriminalität ist groß: 490 Diebstähle und
22 Fälle von Raub wurden in den letzten beiden Jahren aktenkundig.
Die von der bayerischen Landesregierung geförderte Massenintoxikation
endet am Sonntag, 5. Oktober um 23.30 Uhr.
Manfred Kriener, Walter Saller
aus: tageszeitung, 20. September 1997
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