Max Stirner

 

Egoist oder Anarchist?

Max Stirner


Zu Beginn der vierziger Jahre des vorigen Jahrhunderts versammelte sich in einer Weinstube der nördlichen Friedrichstraße in Berlin —sie lag dem jetzigen Zentralhotel gegenüber und ihr Wirt hieß Hippel— all abendlich ein Kreis von Männern, die sich die "Freien" nannten oder doch in der Öffentlichkeit so genannt wurden. Die "Freien" deshalb, weil seine Glieder der äußersten Linken in der geistigen und politische Bewegung jener Tage angehörten.

Der Kreis schloß sich, was auch über ihn gefabelt werden mochte, nie zu einem Verein zusammen. Er war und blieb eine zwanglose Gesellschaft, zu der jeder Zutritt hatte, der mit den bestehenden Zuständen mehr oder weniger unzufrieden war, ihre Besserung, Umgestaltung oder ihren—Umsturz anstrebte und vor keinem, noch so scharfen Wort der Kritik an ihnen zurückschreckte. Gäste kamen und gingen, kamen wieder und blieben fort. Aber der Stamm der merkwürdigen Gesellschaft war, wohl ein Jahrzehnt lang und über 1848 hinaus, fast unverändert der selbe, bis er sich in der trüben Zeit einer mehr und mehr wachsenden Reaktion löste, um endlich unter ihrem unerträglich gewordenen Druck in sich zu zerfallen.

Die, welche diesen Stamm bildeten, waren in ihren Hauptvertretern oft und laut genannte Persönlichkeiten, deren unerschrockene und unerbittliche Kritik an ihrer Zeit immer wieder die Aufmerksamkeit der weiten Öffentlichkeit auf sich zog. Da war vor allem das anerkannte Haupt: Bruno Bauer, der seiner Stellung als Privat-dozent entsetzte Bibelkritiker und rastlos tätige Publizist, Gegner und "Entlarver" Hegels, Verleger und Herausgeber der "Allgemeinen Literaturzeitung", dem Heerlager der ganzen jungen Bewegung der "Kritik" an der "Masse", unter welchem Schlagwort allmählich alle dem "Geiste" feindlichen Bestrebungen zusammengefaßt wurden.

Neben ihm, aber ganz unter seinem Einfluß stand sein Bruder Edgar, der dem Kreise allerdings durch seine Verurteilung zu mehrjähriger Festungshaft wegen einer all zu scharfen Schrift gegen Kirche und Staat entzogen wurde. Eng befreundet mit den beiden Brüdern war Ludwig Buhl, der Übersetzer Blancs und Casanovas, der an Bissigkeit der Kritik die Bauers noch übertraf. —Wenn aus der Reihe der heute völlig verschollenen Namen noch der Gymnasiallehrer Köppen, der Literat Friedrich Saß und der Tagesschriftsteller Dr. Eduard Meyen, vielleicht auch noch der vielgenannte Dr. Adolf Rutenberg und Arthur Müller der Herausgeber der "Ewigen Lampe", genannt sind, erscheint der innere Kreis der Freien so ziemlich umschlossen.— Zu seinem weiteren gehörte, wie gesagt, fast alles, was in die hoffnungsschwangeren Tage jener Zeit mitgerissen wurde und sich mitreißen ließ, und es sind der Namen viel zu viele, als daß hier auch nur einige weitere aufgezählt werden könnten. Doch sei wenigstens dreier dieser Gäste gedacht, die die Gesellschaft mit einem flüchtigen Besuch beehrten, weil ihre Namen zu uns herüberklingen: Georg Herwegh, Arnold Ruge und Hoffmann von Fallersleben.

Der Ton des Kreises war frei, laut und, trotz der gelegentlichen Anwesenheit von Frauen, oft zynisch. Jeder sprach aus, was er dachte. Die Fragen des Tages, wie die noch in den Kinderschuhen steckende Bewegung des Sozialismus, die Zensur, die studentische und die religiöse Bewegung, die Juden—und die Frauenfrage gaben unerschöpflichen Stoff zu langen Gesprächen und hitzigen Debatten, und immer befand man sich im schroffsten Gegensatz zu den herrschenden Autoritäten. Das Jahr 1848 warf auch hier seine Schatten voraus.

Geraucht wurde viel, getrunken nur mäßig. Hippel, der Wirt, pumpte. Tat er es einmal nicht mehr, konnte es geschehen, daß man unter die Linden zog, um zu "fechten". War man mehr unter sich, wurden die Abende oft auch bei den langen Pfeifen mit einem harmlosen Kartenspiel beschlossen.

Ein Kreis, immer anregend und von unzweifelhafter Bedeutung für die Geschichte des Vormärz; anziehend und auch wieder abstoßend, je nach Art und Auftreten seiner Besucher; und unvergeßlich durch Einen, der ihm wahrscheinlich von seinen ersten Anfängen an, sicher aber bis zu seinem Ende angehörte.

Dieser Eine war ein schlanker, stets sorgfältig gekleideter Mann von Mittelgröße. Der kurze blonde Backenbart ließ das Kinn frei; hinter einer Stahlbrille blickten blaue Augen ruhig und freundlich auf Menschen und Dinge; und den feinen Mund umspielte gern ein zu leiser Ironie geneigtes Lächeln.

Einfach und unauffällig wie seine äußere Erscheinung waren auch sein Benehmen und seine Lebensweise. Fast ohne Bedürfnisse, auch ohne das nach intimerer Freundschaft, hielt er sich in der lauten Gesellschaft mit innerlicher Vornehmheit zurück und blieb daher bei stärker besuchten Zusammenkünften meist unbeachtet.

Seiner auffallend hohen Stirn wegen wurde er von allen Max Stirner genannt, und es hieß, er arbeite an einem umfangreichen Werke, in dem er sein "Ich" niederzulegen gedachte.

In Wirklichkeit hieß er Johann Caspar Schmidt, war am 25. Oktober 1806 in Bayreuth als Sohn des "blasenden Instrumentenmachers" Albert Christian Heinrich Schmidt und seiner Ehefrau Sophia Eleonora, geb. Reinlein, geboren; hatte den Vater früh verloren; war nach der Wiederverheiratung der Mutter mit dem Apotheker Ballerstedt nach Kulm in Westpreußen und von dort wieder nach Bayreuth zurück gekommen, wo er im Hause seines Paten Sticht aufwuchs und das berühmte Gymnasium seiner Vaterstadt besuchte—"ein fleißiger und guter Schüler". Nach dessen Absolvierung hatte er, unterbrochen durch einen aber maligen einjährigen Besuch in Kulm, die Universitäten in Erlangen, Königsberg und Berlin besucht, dann das Lehramtsexamen bestanden, das ihm die bedingte facultas docendi eintrug, indessen zu keiner festen Stellung an einer staatlichen Schule verhalf, und war nun, Anfang bis Mitte der vierziger Jahre, nach einer kurzen Probezeit in einer Realschule, Lehrer an einer privaten Erziehungsanstalt für höherer Töchter.

Bereits einmal verheiratet und bald verwitwet, schloß er zum zweitenmal eine Ehe mit einer nicht unbegüterten jungen Mecklenburgerin, die nach Berlin gekommen war, "um sich auszuleben", und die bei den "Freien" verkehrte, mit Marie Dähnhardt. Vielfach auch literarisch beschäftigt, galt seine Hauptmitarbeiterschaft der neugegründeten radikalen "Rheinischen Zeitung", für welche er unter anderem die grundlegenden Arbeiten über "das unwahre Prinzip unserer Erziehung" und über "Kunst und Religion" schrieb, während in aller Stille sein Lebenswerk wuchs und wuchs.

Es erschien Ende 1844 im Verlage von Otto Wigand in Leipzig und trug den Titel Der Einzige und sein Eigentum.

Es erregte Aufsehen, wurde in Sachsen verboten und erfuhr eingehende Besprechungen, auf welche sein Verfasser teilweise selbst ebenso gründlich antwortete.

Entstanden ist es zweifellos aus der Opposition zu den Ansichten heraus, denen dieser in seiner Zeit und in den täglichen Debatten unter den "Freien" begegnete, und ganze Teile beschäftigen sich mit ihren Widerlegungen. In diesem Sinne ist es auch als "der letzte Ausläufer der Hegelschen Philosophie" genannt worden.

Sehr mit Unrecht. Denn wie es weit über die radikalsten Anschauungen seiner Zeitgenossen hinausgeht, schafft es zugleich den Boden für eine ganz neue, allen bisherigen entgegengesetzte Weltanschauung: die des bewußten Egoismus (als der alleinigen Triebfeder und Richtschnur aller menschlichen Handlungen).

Es postuliert damit nicht mehr und nicht weniger als die Souveränität des Individuums gegenüber allen Versuchen zu seiner Schwächung und Unterdrückung: dem Spuk und den Sparren in den menschlichen Gehirnen ebenso, wie allen äußeren Mächten die dieses Individuum unter dem Deckmantel des "Rechtes" unterwerfen wollen.

Nach der kurzen Betrachtung eines Menschenlebens: des realistischen Kindes, des idealistischen Jünglings und des zum Egoisten gewordenen Mannes, und einem geistesgeschichtlichen Rückblick auf die auf Weltüberwindung hinarbeitenden Alten, und einem solchen auf die Neuen, ihre Besessenheit und ihre Hierarchie (ihre Geistesherrschaft), rechnet er mit seiner Zeit, den Freien, ab und entlarvt ihren politischen Liberalismus als den Staat der auf der Sklaverei der Arbeit beruht und mit deren Freiheit verioren ist; ihren sozialen Liberalismus als die Gesellschaft mit einer neuen Sklaverei (der "Lumpengesellschaft des Kommunismus"); und ihren humanen Liberalismus mit seinem Begriff des Menschen in dem er zeigt, daß man nicht weniger als ein Mensch sein kann (während man glaubt, nicht mehr sein zu können).

Diesem ersten, negativen Teile, der Kritik am Menschen, stellt er in dem zweiten, mehr positiven, sein "Ich" entgegen und räumt hier zunächst mit dem falsch verstandenen Begriff der Freiheit auf, die nicht gegeben werden kann, sondern genommen werden muß um dann den "Eigner" zu beschreiben: seine Macht gegenüber dem Staate und der Gesellschaft, diese Macht, die das Recht, einen Sparren, verlacht; seinen Verkehr mit der Welt, der darin besteht, daß er sie "verbraucht"; und seinen Selbstgenuß, der zu der Einzigkeit führt, zu der sich das Ich als Ich entwickelt.

Der "Einzige" aber erkennt kein Gesetz mehr über sich an, weder ein göttliches, noch ein menschliches, stellt seine Sache allein auf sich und jeder Gewalt seine Eigenheit gegenüber.

So, in einer Sprache voll Klarheit und Überlegenheit, voll Spott und Verachtung, geißelt Max Stirner die Taten der Menschen, entkleidet die Ideen ihrer Heiligkeit und zeigt sie als "fixe" auf in dem großen Narrenhaus der Welt: die der Menschheit und die des Vaterlandes; die Gottes und die des Staates; die der Tugend und die der Sittlichkeit; die der Freiheit und die der Wahrheit; die des Rechtes und die der Pflicht. Recht—und pflichtenlos steht von nun an das eine Individuum dem anderen gegenüber, und was sie allein noch aneinander bindet, ist der freiwillig geschlossene Kontrakt ("ein Vertrauen, das ich freiwillig hervorgerufen habe, werde ich nicht mißbrauchen").

Daß ein solches Werk von seinen Zeitgenossen in seiner Tragweite nicht verstanden werden konnte, darf nicht wundernehmen. Man war verblüfft und wußte nichts mit ihm anzufangen. Von den einen für eine Satire gehalten, sahen die anderen in ihm nur eine Ausgeburt des Teufels, bis in den Stürmen der kommenden Jahre auch seine Blätter verwehten.

Diese Stürme zerspalteten den Stamm der "Freien" zwar nicht völlig, ließen aber doch nur wenige Zweige an ihm mehr übrig. Hippel war von der Friedrich—nach der Dorotheenstraße gezogen und sein Lokal war während der Revolution eine Art Hauptquartier für alle nur möglichen Linksparteien. Nach dem Siege der Reaktion wurde es in ihm stiller und stiller und nur die alten Freunde hielten noch eine Zeitlang zusammen. Mit ihnen war Max Stirner.

Seine Stellung an der Töchterschule hatte er schon vor Erscheinen seines Buches aufgegeben und bald darauf war auch sein Verhältnis zu Marie Dähnhardt in gegenseitigem Einverständnis gelöst worden, nachdem das Vermögen der jungen Frau verbraucht und verschiedene literarische und andere Versuche, unter anderem einer Milchwirtschaft, fehlgeschlagen waren. Sie ging erst nach Australien, lernte Not und Elend kennen und kam dann nach London. Dort ist sie in hohem Alter, 1902, völlig in den Armen der "alleinseligmachenden Kirche", verbittert und geistig nicht mehr ganz klar, gestorben.
 
Der Mann fuhr fort in gewohnter Bedürfnislosigkeit —eine gute Zigarre war sein einziger Luxus— dahinzuleben. Auch ihm ging es schlecht. Er zog von Wohnung zu Wohnung, geriet zeitweilig in äußerste Not, so daß er zweimal das Schuldgefängnis kennenlernte, fand dann aber, durch Abmachungen über den Verkauf des stiefväterlichen Hauses in Kulm vor dem Äußersten geschützt, bei einer Madame Weiß in der Philippstraße zwei freundliche Zimmer und gute Pflege.

Der Tod erreichte ihn schnell und unerwartet. Max Stirner starb am 25. Juni 1856 an einem durch ein Karbunkel im Nacken hervorgerufenen Nervenfieber (und wohl auch infolge falscher ärztlicher Behandlung) im Alter von 50 Jahren.

Nur wenige alte Freunde folgten seinem Sarge, als er am 28. Juni auf dem Sophienkirchhof beigesetzt wurde. Erbin seiner geringen Habseligkeiten wurde seine betagte Mutter, die seit langen Jahren, sicher seit 1835, an einer "fixen Idee" leidend, in der Berliner Charité Aufnahme gefunden hatte. Max Stirners literarischer Nachlaß ist bis auf das letzte Blatt verlorengegangen.

Sein Buch, und er mit ihm, waren schon damals vergessen. Bei der Wiedergeburt begann erst, als ich, nachdem ich es gelesen und seine wahre Bedeutung erkannt, 1889 meine mühseligen, an unerwarteten Zwischenfällen so reichen und doch so unendlich interessanten Nachforschungen nach dem verschollenen Leben begann, die ich dann, acht Jahre später, ohne Hoffnung auf weitere Funde mehr, in meiner Biographie niederlegte.2 Auf sie muß ich jeden verweisen, der mehr über den "Einzigen" zu wissens wünscht, als ich hier in dieser kurzen Einleitung zusammenzudrängen vermochte.

Heute ist der Name Max Stirner keinem Gebildeten mehr fremd. Geburts- und Sterbehaus wie Grab tragen Zeichen der Erinnerung an ihn, und sein Werk, in alle Kultursprachen übersetzt, steht da "nach einer langen Nacht des Denkens und Glaubens", am Anfang einer neuen und hoffentlich besseren Zeit, überstrahlt von dem Ruhme der Unvergänglichkeit.

John Henry Mackay (1927)
 
Anarchismus:
http://www.hanfnet.org/philosophie/anarchie.html
http://www.hanfnet.org/philosophie/max-stirner.html

http://www.weltkreis.com/mauthner/anar1.html
http://www.weltkreis.com/mauthner/anar2.html
http://www.weltkreis.com/mauthner/anar3.html

http://www.weltkreis.com/mauthner/stirner.html
http://www.skepsis.ch/anarchy/stirner.htm

http://www.comlink.de/graswurzel/reader/individuell.html
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