diplom

Die Unmöglichkeit

sich als Süchtiger

in diese Gesellschaft

zu integrieren


Diplomarbeit von Andreas Rühling, Lehrte


Inhaltsverzeichnis


-°° Einleitung
- 1. Drogenkontrolle ein kurzer historischer Überblick

- 2. Definition der Sucht - wie aus Menschen Objekte werden
2.1. Die Schwierigkeit das "Drogenproblem" definitorisch zu erfassen
2.2. Sucht und Abhängigkeit in traditioneller Sichtweise
2.2.1. Abhängigkeit als Krankheit
2.2.2. Die Definition, die Macht und die Folgen

- 3. Drogenpolitik
3.1. Der Politische Wert von Gesundheit
3.1.1. Legale versus illegale Drogen
3.1.2. Schadstoffe und Grenzwerte
3.2. Kriminalisierung als Disziplinierungsinstrument
3.3. Der "politische" Drogenmißbrauch
3.3.1. Die Notwendigkeit der Verelendung
3.3.2. Die Creation des Feindbildes

- 4. Der gesellschaftliche Umgang mit abweichendem Verhalten
4.1. Die Notwendigkeit von Sündenböcken
4.2. Normen im Sog gesellschaftlicher Veränderungen
4.2.1. Definition
4.2.2. Die Auflösung normativer Strukturen und die Folgen
4.3. Drogenkonsum als abweichendes Verhalten

- 5. Die Sozialisationsbedingungen Jugendlicher
5.1. Jugend, Drogen und Gesellschaft - Ein Überblick
5.2. Sozialisation und Identitätsbildung bei Jugendlichen
5.2.1. Sozialisation
5.2.2. Identität
5.3. Drogenkonsum als subjektiv sinnvolles Handeln
5.3.1. Legale Drogen
5.3.2. Illegale Drogen
5.4. Die Folgen der Desinformation

- 6. Konsequenzen für die Drogenarbeit
6.1. Grenzen der Drogenhilfe
6.2. Modell einer akzeptierenden Prävention
6.2.1. Die Zielgruppen
6.2.2. Die Zielsetzung
6.2.3. Perspektiven

- 7. Fazit
- °° Literaturverzeichnis











Vorwort

Das bürgerlich kapitalistische Denken, zeichnet sich dadurch aus,
daß es gesellschaftliche Konflikte, von Menschen gemacht,xxrx>
von vielen Menschen massenhaft gemacht,xxxxxxxxxxxxxxrxx>
nur begreifen kann in der Gestalt von Personen.xxxxxxxxixxxy>
Rudi Dutschke 1968



Einleitung

Es gab und gibt in der Geschichte der Bundesrepublik kaum eine gesellschaftliche Gruppe, die sich so hartnäckig strafrechtlicher Verfolgung und sozialer Ausgrenzung ausgesetzt sieht wie die der Drogenkonsumenten.

Besonders auffällig ist nicht nur, daß dabei ein nicht fremdschädigendes Verhalten mit ähnlichem Strafmaß bedacht wird, wie manches Kapitalverbrechen, sondern daß der Gesetzgeber offensichtlich gegen jegliche, noch so plausibel erscheinenden Zweifel genauso immun ist wie gegen die sichtbaren Folgen seiner Drogenpolitik. Unter dem Vorwand, die „Volksgesundheit" und das „ungestörte soziale Zusammenleben" zu schützen, wird, unter dem Motto „Krieg den Drogen" sowohl weiter an der Lückenlosigkeit des BtMG gefeilt, als auch munter am Sarg rechtsstaatlicher Errungenschaften gezimmert.

Eine durch Desinformation und Jahrzehnte währende Anti-Drogenpropaganda verklärte Öffentlichkeit hat derweil andere Sorgen: Die „anhaltende Zerstörung der inneren und äußeren Natur, Systemwandel der Arbeit, Brüchigwerden der Geschlechtsständeordnung, Enttraditionalisierung der Klassen und Verschärfung sozialer Ungleichheiten, neue Technologien, die in Katastrophennähe balancieren"1, sowie die zunehmende Individualisierung bei gleichzeitiger Zunahme der Handlungsmöglichkeiten und -Zwänge konfrontieren den einzelnen mit einer Wirklichkeit, die das „Drogenproblem" und seine Folgen auf „Szene"-Größe schrumpfen läßt.

Die gesellschaftliche Dimension des Themas wird übersehen; die „Junkies" vor dem Bahnhof nicht.In Zeiten gesellschaftlicher Umbrüche, sozialer Unsicherheiten und eigener Zukunftsängste sind sie dort unerträglich und notwendig zugleich: man will das Elend nicht sehen und braucht es doch als Projektionsobjekt für die eigene, innere Bedrohung; sie wird dadurch zu einer äußerlichen und kann somit bearbeitet werden.

Die Drogenpolitik, die institutionelle Behandlung und der gesellschaftliche Umgang mit dem Thema haben gemeinsam, daß sie den Gebraucher illegaler Drogen nicht als Subjekt sondern unter den verschiedensten Gesichtspunkten als Objekt wahrnehmen. Es geht in dieser Arbeit vor allem um die Frage vor welchem Hintergrund das einen Sinn ergibt, welche Folgen es für die Betroffenen hinsichtlich ihrer individuellen und sozialen Möglichkeiten hat, letztendlich darum, wozu deren Ausgrenzung so rigide praktiziert wird.

Zunächst wird anhand einer kurzen historischen übersicht dargestellt, daß Drogen die Menschheit schon seit Urzeiten beschäftigen und immer wieder Gegenstand sowohl heftiger Fürsprache als auch energischer Ablehnung waren. Seit der Kolonialzeit wird dieser Konflikt mehr und mehr von wirtschaftlichen Interessen dominiert. Kritiker der praktizierten Drogenpolitik sehen in der Handhabung der Begriffe „Sucht" und „Abhängigkeit" den ersten Schritt in die falsche Richtung; dieser Problematik wird daher im anschließenden Kapitel besondere Beachtung zukommen. Dabei geht es weniger um die Definitionen an sich, als vielmehr um die Frage, ob sich menschliches Handeln definieren läßt und wer davon möglicherweise profitiert bezw. darunter leidet.

Die Drogenpolitik sieht sich selbst offiziell durch die Aufgabe gerechtfertigt, „die Volksgesundheit und die drogenfreie Entwicklung der Jugend zu schützen"2. Anhand der Auseinandersetzung mit anderen, gesellschaftlich relevanten Gesundheitsaspekten, soll deutlich gemacht werden, daß die tatsächlichen Zusammenhänge andere sein müssen. Die offensichtlich ausschlaggebenden Hintergründe und die Frage, warum gerade Drogenkonsumenten eine so große Rolle dabei spielen, soll in den nächsten beiden Kapiteln, 3 und 4, erörtert werden. Dabei wird sichtbar, daß die Möglichkeit gesellschaftlicher Integration für Drogenabhängige faktisch nicht besteht und auch in Zukunft keine Aussicht auf eine Veränderung gegeben ist.

Bis hierher stehen die politischen und gesellschaftlichen Einflußnahmen und deren Wechselwirkungen im Vordergrund der Auseinandersetzung. Dem Umstand, daß der Erstkontakt zu Drogen in den allermeisten Fällen im jugendlichen Alter stattfindet, wird in den folgenden Kapiteln Rechnung getragen. Nach einer groben Skizzierung der gesellschaftlichen Stellung Jugendlicher während der letzten drei Jahrzehnte, werden den aktuellen Sozialisationsbedingungen und ihren Folgen besondere Aufmerksamkeit gewidmet. In diesem Zusammenhang werden die Hintergründe abweichenden Verhaltens, insbesondere des Konsums illegaler Drogen, einer eingehenden Betrachtung unterzogen, dabei werden bereits die Konturen des o.a. Ausgrenzungsprozesses sichtbar. Die Drogenhilfe kann indessen kaum etwas zur tatsächlichen Lösung des Drogenproblems beitragen. Das liegt nicht an konzeptionellen Schwachpunkten, sondern am gesetzlichen Rahmen, der einer effektiven Drogenarbeit enge und überflüssige Grenzen setzt.

Anhand eines Kooperationsmodells von Jugend- und Drogenarbeit soll deutlich gemacht werden, daß, zumindest in der Theorie, durchaus Lösungsmöglichkeiten denkbar sind; ob sie letztendlich Fiktion bleiben oder die Chance einer Realisierung haben werden, müßte eingehender diskutiert werden. Ein kurzes Fazit unter besonderer Berücksichtigung der Lage der Betroffenen bildet den Abschluß dieser Arbeit.

Es erscheint mir notwendig, noch etwas in eigener Sache hinzuzufügen. Ich erlebe seit annähernd einem Jahr bei der Arbeit mit Klienten einer Drogenberatungsstelle hautnah die nachhaltigen Auswirkungen der Drogenpolitik. Daß ich mich, im Hinblick auf die vorliegende Arbeit, bemühe unparteiisch zu sein, wird niemand von mir erwarten. Ich muß allerdings zugeben, daß ich, oft unter dem Eindruck aktueller Ereignisse, zuweilen Mühe hatte, die notwendige Sachlichkeit zu wahren. Sollte es mir nicht immer gelungen sein, ist es vor diesem Hintergrund zwar nicht zu entschuldigen, aber, wie ich hoffe, immerhin verständlich.


1. Drogenkontrolle

Ein kurzer historischer Überblick

Drogen sind der Menschheit seit Jahrtausenden als bewußtseins- und gefühlsverändernde Substanzen bekannt. Sie haben die Menschen seither in ihren Kulturen, ihren religiösen Riten und Zeremonien begleitet, die kulturelle Einbindung der Drogen in sakrale Gebräuche verhinderte deren Mißbrauch
3.

Während der Kolonialzeit begannen wirtschaftliche und politische Interessen den Gebrauch von Drogen zu beeinflussen, im Verlauf dieser Entwicklung gelangten nach und nach Tee, Kaffee, Tabak und Opium nach Europa und trafen dort auf die bereits etablierte Droge Alkohol 4. Bereits damals, d.h. im 16. und 17. Jahrhundert, wurde vor der sich verbreitenden Trunksucht gewarnt. Historiker sprechen in diesem Zusammenhang bereits von einer Drogenkrise, wahrscheinlich bedingt dadurch, daß durch das neue Druckereiwesen eine breitere Kenntnisnahme der allgemeinen Trinksitten 5 möglich wurde.

Die Einfuhr neuer Drogen stieß in vielen Kreisen auf Widerstand und führte zeitweise zu drastischen Verbotsmaßnahmen, die ihre Etablierung allerdings nicht verhindern konnten. Lediglich der Opiumgebrauch, für dessen Verbreitung die Kolonialmächte, vor allem England, erbitterte Kriege 6 geführt hatten, wurde am Anfang dieses Jahrhunderts durch die Opiumkonvention international unter restriktive staatliche Kontrolle gestellt.

Dafür werden u.a. zwei Gründe als ausschlaggebend angeführt, zum einen lohnte sich der Opiumhandel für England nicht mehr, zum anderen spielten die moralischen Vorbehalte der USA eine große Rolle, wie auch deren Versuche, die Handelsdominanz der Europäer 7einzuschränken.

Etwa zur gleichen Zeit gab es Bemühungen, auch den Alkohol in internationale Abkommen einzubinden, was allerdings an der Halbherzigkeit der Bemühungen des damit betrauten Völkerbundausschusses scheiterte. Ein Verbot von Alkohol hatte daher niemals auch nur die entfernteste Aussicht auf Erfolg. Dies machte deutlich, daß die Frage der Kontrolle einer Substanz nicht durch deren (Aus)Wirkungen, sondern durch die wirtschaftlichen und politischen Kräfteverhältnisse entschieden wurde.

Im Rahmen des Völkerbundes, später der Vereinten Nationen (UN), gab es weitere Resolutionen, die 1961, mit der Verabschiedung der „Single Convention" ihren vorläufigen Höhepunkt fanden. Ziel war die Zusammenfassung und Vereinheitlichung aller bisherigen Resolutionen; auch sollten erstmals alle Drogen nach Wirkung und Zugänglichkeit klassifiziert und tabellarisch erfaßt werden.

Dabei wurden Heroin und Cannabis, letzteres gegen erheblichen Widerstand einiger Erzeugerländer, die zudem den übergang zum wesentlich gefährlicheren Alkohol fürchteten, unter Totalverbot gestellt. Schon damals war die relative Ungefährlichkeit von Cannabis 8 bekannt, die Erfahrungen der Erzeugerländer wurde allerdings völlig ignoriert, denn"Die Entscheidung, ob eine bestimmte Droge gefährlich oder harmlos sei, mindert oder steigert deren Exportchancen, vermehrt oder verringert die staatlichen Einnahmen. Ein Genußmittel für schädlich zu erklären und seine Einfuhr zu verbieten oder zu erschweren, ist oft nichts anderes als eine Form des verdeckten Protektionismus." 9

Nach dem zweiten Weltkrieg kamen immer mehr Medikamente auf den Markt, deren übermäßiger Gebrauch sich in einigen Ländern zunehmend als problematisch erwies. Eine Initiative unter schwedischer Führung, Amphetamin und Schlafmittel in das Abkommen von 1961 aufzunehmen, scheiterte am Widerstand der internationalen Kontrollorgane einschließlich der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Amphetamine wurden seit 1948 in den USA hergestellt und als Schlankheitsmittel auch nach Europa verkauft.Dies änderte sich erst, als LSD für die wichtigsten Industrieländer zum Problem wurde, es kam 1971 zur „Wiener Konvention" über psychotrope Substanzen. Hierdurch waren vor allem pharmazeutische Produkte betroffen, allerdings war das Kontrollsystem wesentlich weniger rigoros ausgelegt als das Abkommen von 1961.

Deutlich wird daß der internationale Umgang mit Drogen seit der Kolonialzeit von den westlichen Ländern dominiert wird. Dabei steht immer wieder der aktuelle wirtschaftliche Nutzen der fraglichen Substanzen im Vordergrund. Ketil Bruun hat in seiner 1975 als „Der Gentleman-Club" veröffentlichten Untersuchung nachgewiesen, daß in den Kontrollausschüssen der UN es ebenfalls die Industrieländer sind, die den größten Einfluß haben.10

Doch nicht nur in den Kontrollinstanzen machen die Industrieländer ihre Interessen geltend. Vor allen Dingen die USA versuchen durch wirtschaftliche oder militärische Interventionen Druck auf die Erzeugerländer auszuüben; dies geschieht mit dem Hinweis, nur so könne den internationalen Drogenkartellen das Handwerk gelegt werden. Was aber unterscheidet ein sogenanntes Drogenkartell von der konzentrierten Macht der Pharmakonzerne, der Alkohol- und der Tabakindustrie? Der Unterschied liegt in den ungleich verteilten Machtverhältnissen, sie begründet die Definitionsmacht derer, die festlegen, was erlaubt ist und was nicht. Seit dem dem „Schengener Abkommen" bemühen sich auch die Europäer verstärkt um den Aufbau einer international operierenden polizeilichen Organisation nach amerikanischem Vorbild. 11

Festzuhalten bleibt, daß Drogenkontrolle, gestern wie heute, immer vor dem Hintergrund wirtschaftlicher Interessen und politischer Machtausübung gesehen werden muß. Solange es wirtschaftlich und politisch opportun war, spielten weder pharmakologische Wirkungen noch moralische Bedenken eine größere Rolle, die Bewertung von Drogen erfolgte stets nach deren ökonomischem Gebrauchswert für die Industrienationen.


2. Definition der Sucht - wie aus Menschen Objekte werden

2.1 Die Schwierigkeit, das „Drogenproblem" definitorisch zu erfassen

Normalerweise gehört es in einer Arbeit wie der vorliegenden, zur Selbstverständlich, für ihren Gegenstand, hier also den „Süchtigen" oder zumindest ein Verhalten, das ihn als solchen kennzeichnet, eine Definition vorzulegen. Dies erschien mir aus mehreren Gründen problematisch. Zum einen konnte ich in Gesprächen mit substituierten, langjährigen Drogengebrauchern keinerlei Hinweise darauf finden, daß ein isoliertes „Suchtproblem" bestand. Vielmehr handelte es sich um ein ganzes Bündel von Problemen, bei der die Droge nur eines unter vielen darstellte. Der Sucht ging in aller Regel ein konfliktreicher Sozialisationsverlauf voraus; der Drogenkonsum als solcher wurde für die meisten erst zum Problem, als er von außen (durch Eltern, Schule, Arbeitgeber oder Behörden) „entdeckt" wurde. 12

Die Folgen, die sich im Verlauf des Konsums ergaben, wie „typisches Suchtverhalten" desolater Gesundheitszustand, langes Vorstrafenregister, enorme Schulden geben durch die Verzahnung von Drogenwirkung, Kriminalisierung, sozialen Begleitumständen, eigener Disposition etc. keinerlei Aufschluß darüber, was Ursache und was Wirkung ist. Selbst wenn es gelänge, dieses Knäuel zu entwirren, blieben einige Fragen offen, die bezüglich einer Definition von nicht unerheblicher Bedeutung sind:

-hinsichtlich der Objektivität; denn wenn Menschen menschliches Verhalten standardisiert erfassen müssen; kann dabei die eigene Einstellung zu diesem Verhalten m.E. nicht ohne Einfluß auf die Bewertung bleiben. Außerdem ist ungeklärt, ob und inwieweit die Selbstwahrnehmung der Betroffenen eine Rolle spielt oder nicht, und letztlich, ob durch die Etikettierung nicht ein Verhalten gefördert wird, das ursprünglich nur beschrieben werden sollte. 13

-hinsichtlich der Definitionsmacht; da dieses Thema über ungeheure politische Dimensionen verfügt, kann kaum erwartet werden, daß die existierenden Definitionen der Wahrheit näher stehen als den politischen Interessen: „Wo die Wirklichkeit als Korrektiv sich verabschiedet, beginnt die gesellschaftliche Verwendung (mit)zubestimmen, was als Erkenntnis gilt und was nicht." 14

-hinsichtlich ihres Nutzens für die Betroffenen; da die bisherige Praxis zeigt, daß die Etikettierung „Süchtig" bezw. „Abhängig" Ausgangspunkt vielfältiger Diskriminierung und Ausgrenzung war und immer noch ist. Demgegenüber steht die weitaus größere Zahl von (Illegal)- Drogenkonsumierenden, die sozial völlig unauffällig lebt 15 und trotz Drogenkonsum offensichtlich ohne eine Definition dieses Verhaltens gut leben kann. Die übliche Schematisierung, Drogenkonsum gleich süchtig gleich auffällig ist nicht nur falsch, sondern stellt für sich selbst ein soziales Problem dar.(vgl. 2.2.2)

-hinsichtlich seiner Notwendigkeit; da der einer Definition zugrunde liegende Anspruch -Schutz der Volksgesundheit- als Vorwand interpretiert werden muß (vgl. 3.1);und Drogenkonsum ein seit Jahrhunderten praktiziertes menschliches Handeln ist, ohne daß es jemals die heute befürchteten bzw. unterstellten Folgen gehabt hätte. „Die Geschichte des Sucht- und des Abhängigkeitsbegiffs zeigt jedoch, daß diese Begriffe angesichts der langen Tradition exzessiven, nicht-eingebundenen, übermäßigen Drogengebrauchs relativ jung sind. Dieses Verhalten gab es lange vor der Begrifflichkeit, ohne sofort medizinische, therapeutische Hilfe oder gar eine Problemdefinition hervorzurufen". 16

Angesichts der vielen Ungereimtheiten könnte man zu der Auffassung gelangen, daß eine Definition des fraglichen Verhaltens überflüssig, weil kontraproduktiv, ist. Dies mag im Idealfall zutreffen; dieser Idealfall würde allerdings voraussetzen, daß die Betroffenen beispielsweise den Wechsel von „süchtig" nach „selbstverantwortlich" tatsächlich mit allen Konsequenzen vollziehen wollen, denn ein Teil (über die Größenordnung kann ich keine Angaben machen) hat sich mittlerweile, trotz allem damit verbundenen Leidens, in der Abhängigkeit „eingerichtet", das heißt, sie lehnen persönliche Verantwortung ab und sind nicht zu gesellschaftlicher Partizipation bereit, selbst wenn die Möglichkeit dazu bestünde. Dies liegt zum einen Teil in der enttäuschten Abwendung von der Gesellschaft, die ihnen jahrelang nur mit Verfolgung und Ausgrenzung begegnet ist, zum Teil aber auch daran, daß sie die Zuschreibungen von Merkmalen per Definition verinnerlicht haben.(vgl. 2.2.2)

Im übrigen dürfte eine Gesellschaft, in der dieser Fall denkbar wäre, eine andere sein als die hiesige, denn eine weitere Voraussetzung wäre, daß auf politischer sowie gesellschaftlicher Ebene ein Umdenken stattfände und zwar nicht nur hinsichtlich des o.a. Problems, sondern in Hinblick auf jedes alternative, nicht fremdschädigende Verhalten. Da sich die Politik aber, nicht nur hinsichtlich des Themenbereichs Drogen, auf die Repressionslinie versteift hat, und sich ansonsten in Handlungsabstinenz übt, Drogenpolitik sogar an die Gerichte delegiert wird 17 , kann man getrost davon ausgehen, daß eine politische Entspannung oder gar Lösung des Problems in der nächsten Zukunft nicht zu erwarten ist.


2.2 Sucht und Abhängigkeit in traditioneller Sichtweise

2.2.1 Abhängigkeit als Krankheit

Ähnlich wie beim Alkoholismus hat sich auch im Bereich der Drogenabhängigkeit (bei allen damit verbundenen Widersprüchlichkeiten), der Krankheitsbegriff durchgesetzt. Zunächst eröffnet der Krankenstatus den Konsumenten sowohl Inanspruchnahme als auch Finanzierung externer Hilfen wie Therapie oder Substitution. Außerdem sind sie durch die Titulierung „Krank", in einem gewissen Rahmen vor staatlichen Übergriffen 18 geschützt.

Die Aufrechterhaltung der Krankheitshypothese erscheint daher unter den gegebenen Umständen zunächst sinnvoll. Dennoch sollte nicht unberücksichtigt bleiben, daß sich dadurch auch für die Betroffenen nachteilige Auswirkungen ergeben:

-Es wird eine psychische Störung und damit Behandlungsnotwendigkeit unterstellt

-Es erfolgt eine Ausblendung der sozialen Hintergründe, Drogenabhängigkeit als Krankheit wird als Folge einer individuellen Störung vermutet. (siehe unten), eine gesellschaftliche Bearbeitung des Problems wird dadurch be- und verhindert.

-Es erfolgt eine faktische Entmündigung, da als Begleiterscheinung der Abhängigkeit Kontrollverlust unterstellt wird.

-Es kommt zu einer Identifikation mit den unterstellten Verhaltensweisen; Abhängige nehmen die Erklärungsmuster an, und verhalten sich auch so, wie man es von Abhängigen erwartet. 19

2.2.2 Die Definition, die Macht und die Folgen

Anhand der Definitionen von Sucht bezw. Abhängigkeit und Drogen, wie sie derzeit für die klassische Psychiatrie und Psychotherapie sowie der Allgemeinmedizin von Bedeutung sind, soll die Definitionsproblematik noch einmal vertieft werden, außerdem werde ich versuchen darzustellen, das mit der Festlegung dieser Begriffe bereits ein Ausgrenzungsprozeß gegeben ist.

Trotz aller Umstrittenheit, die mit der Definitionsproblematik einhergeht, gibt es sowohl Definitionsbedarf als auch deren Deckung. Die Begriffsbestimmung von„Drogenabhängigkeit" ist indes auch für die Fachwelt nicht unproblematisch, da es einerseits objektiven Kriterien (sofern es solche überhaupt irgendwo gibt) nicht genügen kann und außerdem so umfassend ist, daß es nicht ausreichen würde, nur eine bestimmte Fachrichtung mit der Klärung des Problems zu betrauen:
"Der Leser muß sich über die Notwendigkeit im klaren sei, Variablen aus verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen zu integrieren, um den Prozeß der Drogenabhängigkeit in der Gesamtheit seiner vielfältigen Facettierung zu erklären und zu verstehen. Keine Theorie ist also in der Lage, alle Aspekte des Drogenkonsums zu erklären und alle der in diesem Zusammenhang aufgeworfenen Fragen zu beantworten". 20

Daraus folgt, daß ein bestehendes Erklärungsmodell nur Teilaspekte des Problems ausleuchtet, und ferner, daß es lediglich ein Modell ist, um die Wirklichkeit zu beschreiben. Die Beschreibung dieser Wirklichkeit (hier Drogenabhängigkeit) geht von der Grundannahme eines Beobachters aus, daß die von ihm beobachteten Verhaltensweisen (Gebrauchsmuster des Drogenkonsums) keinen Sinn machen. 21

Aus einer Liste von „Verhaltensauffälligkeiten", die der jeweilige Beobachter für wesentlich hält, wird ein Erklärungskonzept konstruiert und als konkretes System definiert. Was dabei als wesentlich erachtet wird, hängt davon ab, wer wofür eine Erklärung benötigt und zum anderen, wer die „Macht hat, eine Definition durch zusetzen". 22

Zunächst soll die derzeit gültige Definition vorgestellt und anschließend die praktischen Auswirkungen skizziert werden.

Ausgangspunkt ist die 1964 oder 1968? 23 von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) verfügte Revision ihrer bis dahin gültigen Suchtdefinition. Bis dahin war Sucht „ein Zustand periodischer oder chronischer Intoxikation, der durch die wiederholte Einnahme einer (natürlichen oder synthetischen) Droge hervorgerufen wird. Ihre Charakteristika sind
(1) ein überwältigendes Verlangen oder Bedürfnis (zwanghafter Art), die Drogeneinnahme fortzusetzen und sich diese mit allen Mitteln zu verschaffen;
(2) eine Tendenz zur Dosissteigerung;
(3) eine psychische (psychologische) und allgemein eine physische Abhängigkeit von den Drogenwirkungen;
(4) zerstörerische Wirkung auf das Individuum und die Gesellschaft".
24

Diese Definition wurde allgemein als zu unscharf gewertet, soll aber hier nicht weiter problematisiert werden. Im folgenden wurde der Begriff „Sucht" durch den der „Abhängigkeit" ersetzt.

Die erste Definition sieht folgendermaßen aus:
Abhängigkeit ist „ein Zustand, der sich aus der wiederholten Einnahme einer Droge ergibt, wobei die Einnahme periodisch oder kontinuierlich erfolgen kann. Ihre Charakteristika variieren in Abhängigkeit von der benutzten Droge..." 25

Die dafür in Frage kommenden Drogen werden aufgelistet in einer Drogentypologie: (Morphin-Typ, Kokain-Typ etc.), die eine Ergänzung durch ständig neue Substanzen ermöglicht. 26

Die zweite Fassung, die den ebenfalls Anspruch erhebt die erste mit dem neuen Abhängigkeitsbegriff zu sein, soll demnach die aktuelle, derzeit noch gültige sein: Abhängigkeit ist „ein psychisches und manchmal auch körperliches Zustandsbild als Folge der Einnahme einer psychotropen Substanz. Es ist charakterisiert durch Verhaltensstörungen und andere Störungen, die den Drang einschließen, die Substanz ständig oder periodisch zu sich zu nehmen, um deren psychischen Effekt zu erleben, und manchmal, um das Mißbehagen beim Fehlen dieser Substanz zu vermeiden." 27

Diese Definition wird ergänzt durch Revisionen der ICD (International Classifications of Diseases); der o.a. Definition sollte (laut Kisker u.a. 1991) die 10. Revision folgen, die eine Verbesserung der klinischen Beschreibung zur Klassifizierung von Störungen durch psychotrope Substanzen beinhalten soll.

Eine Definition dient dazu, einen Gegenstand zu umgrenzen, sein Wesen genau zu bestimmen. Bei Betrachtung der o.a. Definitionen werden aber mehr Fragen aufgeworfen, als sie beantworten. Warum werden unter dem Abhängigkeitsbegriff nur pychotrope Substanzen erwähnt, wissen wir doch, daß es eine ganze Reihe von Abhängigkeiten gibt, die durchaus psychische und körperliche Folgen haben, die allerdings nicht nur toleriert werden, sondern für die massiv geworben wird (Fernsehen, Auto etc.)? Außerdem stellt sich die Frage, ob Abhängigkeitsverhalten nicht möglicherweise zur menschlichen Grundstruktur gehört. Die orthodoxe Psychiatrie löst das Problem, indem sie derlei Fragen einfach wegdiktiert:
„Es gilt: Abhängigkeit ist immer gleichzusetzen mit Substanzabhängigkeit". 28 Wenn das so ist, Abhängigkeit also nur von einer Substanz bedingt sein kann, als was sind dann die anderen „Abhängigkeiten" zu bezeichnen? Sind es am Ende gar keine?

Auch wenn es sich hierbei um die Begehung eines Plagiats handelt, erscheint mir doch passend, an dieser Stelle einen kleinen Ausschnitt aus einer Geschichte einfließen zu lassen:
„Ich verstehe nicht, was sie mit ’Glocke’ meinen", sagte Alice. Goggelmoggel lächelte verächtlich. „Wie solltest du auch -ich muß es dir doch zuerst sagen. Ich meinte: ‘Wenn das kein einmalig schlagender Beweis ist!’" „Aber ‘Glocke’ heißt doch gar nicht ‘einmalig schlagender Beweis’", wandte Alice ein. „Wenn ich ein Wort gebrauche", sagte Goggelmoggel in recht hochmütigem Ton, „dann heißt es genau, was ich für richtig halte -nicht mehr und nicht weniger". „Es fragt sich nur"; sagte Alice, „ob man Wörter einfach etwas anderes heißen lassen kann". „Es fragt sich nur", sagte Goggelmoggel, „wer der Stärkere ist, weiter nichts". 29

Ich habe in der Literatur keine eindeutigere, einleuchtendere Beschreibung für das Wesen der Definitionsmacht finden können, als diese. Wer die Definitionsmacht hat, hat damit gleichzeitig die Befugnis, festzulegen, was richtig und was falsch ist, wer krank und wer gesund ist. Am untersten Ende der Definitionshierarchie steht der Konsument. Dort erfährt er, was unter Verhaltensstörung zu verstehen ist:
„Im Verlauf der Abhängigkeitsentwicklung schwindet das Selbstwertgefühl durch das wiederholte Erleben, weder dem Beschaffungsdrang, noch dem Gebrauch psychotroper Substanzen widerstehen zu können. Schulgefühl und Verheimlichungstendenzen gehen Hand in Hand, und die pathologische Bindung an eine oder mehrere psychotrope Substanzen führt zur Isolierung und Interesseneinschränkung auf den ‘Stoff’. Es kommt zu Stimmungsschwankungen. Bei Verknappung des Stoffs sind Abhängige im allgemeinen dysphorisch, elend oder stimmungslabil, Bei ‘ausreichender Intoxikation’ sind sie dagegen manchmal ’übernormal’, nicht aus der Ruhe zu bringen oder scheinbar selbstsicher, überaktiv oder von unrealistischem Optimismus. Beschaffungsschwierigkeiten lösen Hektik, ängstlichkeit oder gereiztes Agieren aus." 30

Da diese Beschreibung auf viele Alltagssituationen „ganz normaler" Menschen zutrifft, drängt sich die Frage auf, wieviel Normalität es überhaupt, auch ohne psychotrope Substanzen, gibt. Wie sieht der Mensch aus, der die Bedingungen psychischer Normalität und Gesundheit erfüllt? Andererseits, was ist „übernormal", „scheinbar selbstsicher", „unrealistischer Optimismus". Das, was für die einen als erstrebenswert gilt, wird dem Drogenkonsumenten als pathologisch ausgelegt. Wie anmaßend ist es, zu bestimmen, auf welche Weise sich jemand ein Gefühl von Wohlbefinden und Zufriedenheit mit sich selbst verschafft. Aber es gehört zur Tradition der Drogendiskussion, daß nicht sein kann, was nicht sein darf. Positive Aspekte des Drogenkonsums zu berücksichtigen hieße auch, die öffentliche Diskussion in andere Richtungen zuzulassen.

In der Psychiatrie werden nicht mehr, wie früher üblich, alle außer dem Konsum in Betracht kommenden Faktoren ausgeschlossen, sondern es wird daraufhingewiesen, daß sich mittlerweile ein „Synthesemodell" durchsetzt (Mensch-Droge-Umwelt) aber die Therapieansprüche machen deutlich, daß das Hauptübel weiterhin in der Droge zu suchen ist:
„Am Beginn der Behandlung von Abhängigen steht eine Abstinenzforderung. Am Ende sollte freiwillige Abstinenz als Begleiterscheinung bzw. Basis für die weitere Entwicklung stehen". 31

Völlig ausgeblendet bleibt die Frage, wieviel Einfluß die sozialen Bedingungen, ein zerrüttetes Familienleben, ständiger Druck am Arbeitsplatz oder Arbeitslosigkeit, die Angst vor juristischer Verfolgung, Angst, als „Rauschgiftsüchtiger" entlarvt zu werden, auf die Art und Weise des Umgang mit Drogen haben.

Vielmehr dient die Fixierung auf den Drogenkonsum dazu, den Betroffenen zu entmündigen, ihn also zum Objekt zu machen, indem der Arzt die alleinige Befugnis zur Problemerkennung erhält und sich gegen den Willen des „Patienten"? für entsprechende Schritte stark machen soll.
"Beschönigung, geringe Einsicht und sogar aggressives Leugnen der Problematik -selbst bei handfesten Indizien- sind krankheitstypische Verhaltensweisen. Beim Arztkontakt müssen diese Verhaltensweisen richtig bewertet werden, und es sollte trotz dieser Abwehr zu geeigneten Maßnahmen kommen". 32

Zum „Krieg gegen Drogen" die passenden, strategischen Anweisungen an den Arzt. Der Paradoxie, daß der als Krankheit verstandenen Abhängigkeit, das Symptom, (Drogenkonsum), zu Beginn einer Behandlung „weggefordert" wird, gesellt sich ein Jargon, der eher an Vorgaben zu polizeilichen Verhörmethoden erinnert als an ärztliches Diagnoseverhalten.

Es stellt sich die Frage nach dem Sinn des Ganzen. Die Definitionen werden weder der Beschreibung eines Krankheitsbildes gerecht noch läßt sich eine politische motivierte Kriminalisierungstendenz direkt nachweisen. Die klinischen Anweisungen würdigen den Abhängigen weder als echten Kranken aber noch weniger als Gesunden, dennoch gelingt beiden, der Definition als auch der Psychiatrie, eines: beide schreiben dem Drogenkonsumenten vor, ein Besonderer zu sein. Sie sind damit Bestandteil einer Kampagne, die ihn ständig als Verdrehten, Unnormalen, Gestörten im Blickpunkt der öffentlichkeit halten. Denn was beinhalten diese Definitionen nach Bereinigung der Ungereimtheiten noch anderes als die Aussage, daß ein Mensch der wiederholt Drogen konsumiert, ein Mensch ist, der dies offensichtlich wiederholt tun will? 33

Ich möchte an dieser Stelle darauf hinweisen, daß es mir nicht darum geht, das zweifellos vorhandene Gefahrenpotential von Drogen zu verharmlosen, noch möchte ich unterstellen, daß es Drogenabhängigkeit nicht gibt. Aber ich bin der Meinung, daß eine einseitige Fixierung auf die Drogenabhängigkeit in dieser Form, einer Klärung der wahren Dimensionen des Problems zuwiderläuft.

Süchte und Abhängigkeiten, nicht nur von Substanzen, sind integraler Bestandteil dieser Gesellschaft und bedingen darüber hinaus einen Großteil ihrer Dynamik:
„Die Struktur einer Konsumgesellschaft, deren einziger Sinn die Durchsetzung des Leistungsprinzips ist, um Güter ohne Rücksicht auf deren gesellschaftlichen Nutzen herstellen zu können, ist identisch mit der Struktur einer Sucht. Konsumismus ist ein Kreislauf von nicht stillbaren Bedürfnissen, die nach einer ständigen Dosissteigerung verlangen. Ständige Dosissteigerung, ohne je befriedigt zu sein, das ist Sucht". 34

Darüber hinaus ist die medizinische und therapeutische Betreuung des Problems halbherzig, indem sie psychische und körperliche Folgeerscheinungen einseitig der Substanzwirkung unterstellt. Daß dabei die gesellschaftlichen Bedingungen manche geradezu in die Betäubung treibt, wird ebenso vernachlässigt wie die Möglichkeit, daß (illegaler) Drogengenuß auch ohne Not das Ergebnis einer selbstverantwortlichen Entscheidung sein kann, denn „das Mißbrauchsmuster", und illegaler Drogenkonsum ist nach herrschender Auffassung immer Mißbrauch, „wird von der zugrunde liegenden Persönlichkeitsstörung geprägt". 35

Indessen kann die Verantwortung hierfür nicht allein bei den behandelnden Institutionen gesehen werden. Die Einbindung in das medizinische Kassensystem zwingt sowohl zur Standardisierung als auch zur Ausblendung von Faktoren, für die im Krankheitskatalog kein Platz vorgesehen ist. Die daraus entstehende Notwendigkeit jedes Symptom einem eindeutigen Krankheitsbild zuzuordnen und diagnoseschlüsselgerecht zu behandeln und abzurechnen, mag zwar als Erklärung dienen, den Betroffenen dient es sicherlich nicht.

Festzuhalten bleibt, daß per Definition eine Einengung des Problems erfolgt, die durch die Krankheitshypothese unterstützt wird. Durch die Behandlung von Sucht als Krankheit ist außerdem die Delegation in einen Bereich erfolgt, der das Grundproblem durch individuelle Bearbeitung nicht wird lösen können, und zwar selbst dann nicht, wenn die Kriterien von Abhängigkeit „objektiv" erfüllt wären, denn damit werden nicht„...Strukturen tangiert, die am Zustandekommen von Verhaltensweisen beteiligt sind. Da diese in funktionalem Verhältnis zu Strukturen stehen und nicht in der freien Entscheidbarkeit der Individuen, besteht bei fehlenden sozialpolitischen Strukturmaßnahmen die Gefahr, daß die entsprechenden Verhaltensweisen sich stets neu entwickeln". 36

Weiterhin ist entscheidend, daß die Betroffenen dabei entmündigt, zum Objekt gemacht, und damit stigmatisiert werden. Die Behandlung des Themas durch die o.a. Institutionen muß daher als Teil der Ausgrenzung gewertet werden, da eine gesellschaftliche Partizipation nur als Subjekt gegeben ist.

Ich werde im weiteren Verlauf dieser Arbeit den Begriff „Drogenkonsument" wählen, wenn es mir um eine neutrale Betrachtungsweise geht. Bei der Verwendung des Begriffs „Abhängiger" oder „Süchtiger" gehe ich von der vorausgegangenen Einwirkung psychosozialer Faktoren sowie den individuell sich auswirkenden Folgen der Drogenpolitik aus. Auch wenn nicht ausdrücklich durch die Schreibweise daraufhingewiesen wird, handelt es sich dabei sowohl um weibliche als auch männliche Betroffene.


3. Drogenpolitik

Die Drogenpolitik bezieht die Rechtfertigung ihrer repressiven Grundhaltung aus der Forderung, die „Volksgesundheit" schützen zu müssen. Dabei zeigt der Umgang mit weitaus schwerwiegenderen Gefährdungspotentialen die Doppelmoral dieser Haltung auf. Wo eine Doppelmoral offenkundig wird, steht zu vermuten, daß die tatsächlichen Hintergründe andere, als die vorgegebenen sein müssen. Wie mit Gesundheit politisch umgegangen, und wie das Drogenproblem politisch mißbraucht wird, sind das Thema dieses Kapitels.

3.1 Der politische Wert von Gesundheit

3.1.1 Legale versus illegale Drogen

Es gibt in den westlichen Industrieländern eine Reihe von legalen Drogen (vgl. 1.1), die keiner besonderen staatlichen Kontrolle unterliegen. Als Beispiele seien hier Alkohol und Nikotin genannt. Die Qualität der gesundheitlichen Folgen, die beim übermäßigen Gebrauch dieser als „Genußmittel" bekannten Drogen auftreten können, sollen an dieser Stelle nicht diskutiert werden, interessant ist allein der politische Umgang mit ihnen.

Die Herstellung und der Vertrieb werden im Lebens- und Bedarfsmittelgesetz (LBMG) geregelt, die überwachung und Kontrolle obliegt dem Bundesgesundheitsamt. Ausdrückliche Beschränkungen hinsichtlich des Konsums gibt es lediglich in den Jugendschutzbestimmungen.

Die Tatsache, daß übermäßiger oder unsachgemäßer Gebrauch zu Gesundheitsschäden führen kann ist auch der Bundesregierung bekannt, sie steht auf dem erstaunlich liberalen Standpunkt, daß
„....eine Prohibition selbst dieses Mindestmaß an Produktkontrolle verhindern würde und die gesundheitlichen Schädigungen aufgrund dessen eher zunehmen würden".
37 Warum diese durchaus akzeptable Haltung nicht auf die illegalen Drogen ausgeweitet wird, bleibt vor diesem Hintergrund ein Rätsel.

Noch erstaunlicher ist, daß das im Vergleich zu Alkohol und Nikotin wesentlich unschädlichere Cannabis 38 der Prohibition unterliegt, während erstere sich nicht nur der Legalität erfreuen, sondern massive für den Konsum geworben wird (Mit leichten Einschränkungen bei Nikotin).

Das vielfach geäußerte Argument, Cannabis sei die Einstiegsdroge auf den Konsum „harter" Drogen (und damit indirekt doch sehr gesundheitsschädigend) ist, darüber besteht in der Literatur weitgehend Übereinstimmung, falsch, vielmehr handelt es sich bei den Einstiegsdrogen um Alkohol und Nikotin.

Nach dem aktuellen Stand der Forschung sind selbst bei Opiaten, im Gegensatz zu Nikotin und Alkohol, keine irreversiblen körperlichen Schäden zu beobachten, auch wenn deren Gebrauch chronisch erfolgt. 39

Es weist also alles daraufhin, daß die vielzitierte Sorge um die Gesundheit nicht als Erklärung dafür herhalten kann, daß das eine erlaubt und das andere verboten ist.

Die Gründe scheinen vielmehr wirtschaftlicher Natur zu sein, Christie und Bruun belegen, daß sowohl die Tabak- als auch die Alkoholindustrie massiven Einfluß auf die Politik ausüben:

-Der Alkoholindustrie gelang es 1983, die Veröffentlichung einer Studie der WHO zu Investitionstätigkeiten jener Industrie in den Entwicklungsländern zu unterbinden. Der Bericht wurde zur geheimen Verschlußsache erklärt.

-Die Tabakindustrie versuchte durch gezielte Beeinflussung FAO (Landwirtschaftsbehörde der UNO) und der UNCTAD (UNO-Konferenz über Handel und Entwicklung) einer Anti-tabak Entwicklung in der Dritten Welt gegenzusteuern. 40

Man wird, auch ohne Nachweis, davon ausgehen können, daß die Einflußnahme auf internationale Gremien ihre nationalen Entsprechungen hat. Dies böte zwar eine Erklärung für die Einäugigkeit bei der Wahrnehmung und Kontrolle gesundheitlicher Risiken der legalen Drogen, erklärt aber noch nicht die Prohibition der anderen. Eine Studie über Dauerkonsum von Cannabis auf Costa Rica, die belegt, daß der Konsum von Cannabis dort den von Alkohol weitgehend ersetzt 41 , erscheint mir aufgrund der kulturellen Unterschiede nicht geeignet, mögliche Konkurrenzbefürchtungen der hiesigen Industrie abzuleiten.

Gültigkeit hat dieser Aspekt auf jeden Fall für die Pharmaindustrie, die, obwohl Cannabis unter Totalverbot steht, munter an der Erforschung zur synthetischen Herstellung dieser Substanz arbeiten darf. 42 Es stellt sich die Frage warum, denn Cannabis ist doch angeblich von keinerlei medizinischer Bedeutung, macht abhängig und schädigt das soziale Zusammenleben.

Die Antwort scheint darin zu liegen, daß die Pharmaindustrie im Legalisierungsfall nicht hintenanstehen möchte 43 , oder gar, um eine Droge mit ähnlicher Wirkung, patentiert an natürlichem Cannabis vorbei, auf den Markt bringen zu können, wobei die lästige Konkurrenz der Erzeugerländer von vornherein ausgeschaltet wäre.

Es wird zumindest ersichtlich, daß die gesundheitlichen Bedenken des Gesetzgebers sehr stark durch wirtschaftliche Interessen relativiert werden.

3.1.2 Schadstoffe und Grenzwerte

Ein Beispiel aus einem anderen Bereich macht die Dominanz wirtschaftlicher Faktoren vor jedem gesundheitlich relevanten Einwand überdeutlich. Es geht um die zulässige Schadstoffkonzentration in der Luft, durch „Grenzwerte" festgelegt:
„Obwohl Untersuchungen gezeigt haben, daß bereits bei einer kurzfristigen Konzentration von 200 Mikrogramm Schwefeldioxid pro Kubikmeter Luft Kinder auffallend häufig an Pseudokrupp erkranken, ist nach geltenden Grenzwerten in der Bundesrepublik das doppelte erlaubt, viermalsoviel, wie die Weltgesundheitsorganisation für vertretbar hält". 44 Während die Jugend vor den Folgen des Drogenkonsums geschützt werden soll, scheint die Gefährdung von Kindern im Namen des Fortschritts kein allzu großes Problem darzustellen. Beck weiter:
„Es geht also bei dieser ‘Verordnung’ nicht um eine Verhinderung der Vergiftung, sondern um das zulässige Maß der Vergiftung. Daß Vergiftung zulässig ist, ist auf der Grundlage dieser Verordnung keine Frage mehr. Grenzwerte sind in diesem Sinne also Rückzugslinien einer sich selbst mit Schad- und Giftstoffen im überfluß eindeckenden Zivilisation. Die eigentlich naheliegende Forderung der Nichtvergiftung wird durch sie schon als utopisch zurückgewiesen". 45

Was soll angesichts dieser Diskrepanzen das politische Geschwafel um die Gesundheitsgefährdung durch Drogen? Wer soll hier für dumm verkauft werden? Und mit welcher Rechtfertigung glaubt der Gesetzgeber, bei Konsumenten irgendein Unrechtsbewußtsein voraussetzen zu können? Zum Schluß dieses Abschnitts noch ein Vergleich:
„Der Zufall(!?) will es, daß die Höchstmengen-Verordnung in der Bundesrepublik -auch im Vergleich zu anderen Industrieländern- riesengroße Löcher aufweist". 46 dem gegenüber steht im BtMG:
„...die Tendenz zur Lückenlosigkeit, die durch einen -verfassungsrechtlich problematischen-flexiblen sachlichen Geltungsbereich (...) verwirklicht wird".
47

Da der Gesundheitsaspekt offensichtlich untauglich ist, die staatliche Repressionspolitik auch nur im Ansatz glaubwürdig zu erklären, müssen andere Faktoren ausschlaggebend sein. Ihre Ursprünge können dabei bis in die späten sechziger Jahren zurückverfolgt werden.

3.2 Kriminalisierung als Disziplinierungsinstrument

Wer sich die Stimmungslage zwischen den Generationen, die im Zuge der Studentenunruhen mit krasser Deutlichkeit zutagetrat, vor Augen führt, erhält einen Eindruck von Tiefe der Kluft, die sich zwischen den Jüngeren und den älteren bestand.

Dabei ist zu berücksichtigen, das sich die Unruhen vor dem Hintergrund des „kalten Krieges" abspielten, linkes agieren war schon aus diesem Grunde besonders verdächtig. Dazu kamen sexuelle Freizügigkeit, Kommunen, und auch Drogenkonsum. Die Hetzkampagnen vor, allen Dingen der Springerpresse, beflügelten die Zersetzungs- und Unterwanderungsphantasien der anständigen Bundesbürger. Das System war in Gefahr, vor allen Dingen die „Freiheitlich Demokratische Grundordnung". In ihrem Namen wurde von jetzt an nicht nur eine „subversive", unangepaßte Jugend kriminalisiert, kritische Schriftsteller der Demokratiefeindlichkeit bezichtigt, die Anti-Atomkraft- und die Friedensbewegung verunglimpft bzw. kriminalisiert, sondern war Rechtfertigung für jeden Eingriff in den Rechtsstaat. Jedes industrielle Großprojekt konnte, mit Hilfe der Kriminalisierung des Widerstand, dem man die Gegnerschaft zur Demokratie andichtete, gegen den Willen der Bürger durchgesetzt werden. 48

Das BtmG , das 1971 das alte Opiumgesetz ablöste, muß als Teil der Disziplinierung einer Jugend angesehen werden, die nicht die Eckpfeiler der Freiheitlich-Demokratischen-Grund-Ordnung (FDGO) anzweifelte, wohl aber deren wirtschaftliche äquivalente, Konsum und blinden Fortschrittsglauben. 49

Darüber hinaus forderte die Jugend das Recht auf einen eigenen Lebensstil, wen wundert es da, wenn dazu auch alternative Drogen gehörten und sich nicht mit denen begnügte wurde, die von der Erwachsenenwelt zur Verfügung gestellt wurden. 50 Die relative Ungefährlichkeit von Cannabis war schon damals durch verschiedene Studien belegt worden (vgl. 3.1.1), bereits 1962 forderte die bedeutende englische Ärztezeitschrift „The Lancet" eine Aufhebung des Cannabisverbots. 51

Doch ein Charakteristikum der Drogenpolitik ist ihre Resistenz gegen jedes bessere Wissen; warum sich das noch heute so verhält und kein Ende in Sicht ist, wird im nächsten Abschnitt behandelt werden.

3.3 Der politische „Drogenmißbrauch"

Der folgende Abschnitt erhärtet die These, daß es sich bei dem „Drogenproblem" um ein hausgemachtes handelt, das einerseits zu verheerenden Auswirkungen bei einem Teil der Konsumenten führt und andererseits ein Feindbild schafft, das sich auf mannigfaltige Weise politisch und gesellschaftlich ausbeuten läßt. Es ist bereits gesagt worden, daß ein überwiegender Teil der Drogenkonsumenten gesellschaftlich unauffällig bleibt (vgl. 2.1). Allein diese Tatsache straft alle Phantasien einer alles unterspülenden „Drogenwelle" Lügen. Auch die Vorstellung, das Drogenkonsum gleich Abhängigkeit gleich Kontrollverlust ins gesellschaftliche Abseits führen muß, ist vor diesem Hintergrund nicht haltbar. Dennoch ist es gerade die für alle sichtbare Minderheit derjenigen, die durch die verschiedensten Umstände auf der „Szene" gelandet sind, die das öffentlichen Bewußtsein prägen. Durch sie „weiß" jeder über Drogenkonsum und die Folgen Bescheid. Doch es ist kein Zufall, das dieses Bild nicht geradegerückt wird, vielmehr wird sehr viel dafür getan, daß sich daran so schnell nichts ändert.

3.3.1 Die Notwendigkeit der Verelendung

Die Verelendung der Szene ist eine logische Konsequenz aus Stigmatisierung und Kriminalisierung. Der körperliche und seelische Zustand der Abhängigen ist nicht, wie eine sensationslüsterne Boulevardpresse uns seit Jahren vorgaukelt, auf die Wirkung der Drogen zurückzuführen, sondern eine Folge dieser falschen Politik. 52 Sie ergibt sich zum einen aus der Tatsache, daß Drogenkonsum und Abhängigkeit gleichgesetzt werden und damit eine Verhaltenserwartung impliziert wird, mit der sich die Betroffenen identifizieren.(vgl. 2.2.2) „Haben die Klienten die Definition der Professionellen endlich übernommen, sind sie in der Situation der sich selbst erfüllenden Prophezeiung: Sie erleben sich selbst als süchtig und abhängig, sie sehen selbst keine andere Wahl mehr, sie empfinden keine Kontrolle mehr über sich selbst. Da sie der überzeugung sind, abhängig zu sein und dieser Abhängigkeit ausgeliefert zu sein, werden sie selbst keine Versuche mehr unternehmen, selbst Kontrolle über ihr Konsumverhalten auszuüben. Jeder Versuch, den Konsum zu verringern, der auch nur ansatzweise scheitert, wird als Bestätigung der Diagnose ‘Abhängigkeit gewertet". 53

Ich vermute, daß die Identifikation sich dabei nicht nur auf das Verhalten bezieht, sondern auch auf die sowohl kurz- als auch langfristig erwartete Wirkung der Droge. Ein Experiment mit Studenten, die auf einer Party, ohne es zu wissen, nur alkoholfreies Bier ausgeschenkt bekamen und dennoch überwiegend ein berauschtes Verhalten zeigten, 54 läßt dies zumindest nicht gänzlich abwegig erscheinen. Allerdings gibt hierzu noch keine schlüssigen Beweise. 55

Eine weitere, direkte Folge der Verbotspolitik ist die Unkalkulierbarkeit des Stoffes. Da für Ware, die nur auf dem Schwarzmarkt erhältlich ist, keinerlei Kontrolle über Reinheit und Wirkstoffgehalt möglich ist (vgl. 3.1.1), bleibt es dem Zufall überlassen, welche Qualität der Konsument erhält. Dies bedingt ein erhebliches, gesundheitliches Risiko mit zum Teil tödlichem Ausgang aufgrund von Überdosierungen. 56 Ein weiteres gesundheitsgefährdendes Moment liegt in den durch die Illegalisierung erzwungenen, riskanten Konsumpraktiken: 57 Zum einen nötigt der Beschaffungsdruck bei relativ hohen Schwarzmarktpreisen zur möglichst effektivsten Konsumvariante, der intravenösen Injektion. Die wesentlich weniger problematische Inhalation kommt daher für viele aufgrund der geringeren Wirkstoffausbeute kaum in Frage. Die Folge sind langfristig zerstörte Venen, Entzündungen und Abszesse durch verunreinigten Stoff, sowie ein erhebliches Infektionsrisiko (Hepathitis, HIV etc.) durch verunreinigtes oder getauschtes Spritzbesteck.

Außerdem sind viele zu einem „setting" 58 unter äußerst ungünstigen Bedingungen (öffentliche Toiletten, Parkgaragen etc.) gezwungen, wo weder ausreichende hygienische Bedingungen noch ein als angenehm empfundenes Rauscherlebnis zu erwarten sind.

Die Kriminalisierung führt weiterhin zur Szenebildung; da viele nicht auf Vorrat kaufen können und für den Erwerb ihrer Tagesration auf einen zentralen Anlaufpunkt angewiesen sind. Darüber hinaus ist die „Szene" für manchen der einzige Ort für, wenn auch sehr oberflächliche, soziale Kontakte. Einmal in der Verelendung gelandet, besteht meist keinerlei Möglichkeit mehr, das Geld für den Stoff auf legalem Wege bereitzustellen, Beschaffungskriminalität und Prostitution unter oft entwürdigenden Bedingungen sind dann die einzig noch verbliebenen Möglichkeiten.

Bei zusammenfassender Betrachtung besteht kein Zweifel, daß die Verelendung als Folge der repressiven Drogenpolitik gesehen werden muß. Das allein stellt meiner überzeugung nach schon einen klaren Verstoß gegen die in Artikel 2 verbrieften Grundrechte dar.

3.3.2 Die Creation des Feindbildes

Die öffentliche Meinung bildet sich indessen nicht auf der Grundlage des o.a. Sachverhalts, sondern richtet sich nach dem, was für den Einzelnen wahrnehmbar ist. Wahrnehmbar ist für viele eben diese verelendete Szene; apathische, herunter gekommene Junkies, herumliegende Bierdosen und anderer Müll, gebrauchte Spritzbestecke, offene Wunden, herumlungernde Gestalten, die jeden anschnorren etc., kurz, für das durch bunte Werbung verwöhnte Auge des Duchschnittsbürgers ein grauenhafter Anblick.

Daß Drogenkonsum zwangsläufig zu körperlicher und seelischer Verwahrlosung führt, ist somit keine Frage. Der hierdurch gewonnene Eindruck wird ergänzt durch die seit Jahrzehnten unveränderte, aufmacherische Berichterstattung eines großen Teils der Medien (vgl. 3.2). Jede Straftat, die von Drogenkonsumenten begangen wird, ist der Presse eine Meldung wert, mit ausdrücklichem Hinweis darauf, daß es sich bei dem Täter um einen „Drogenabhängigen" handele, und zwar unabhängig davon, ob die Tat mit Drogen in Verbindung stand oder nicht.

In der Öffentlichkeit wird damit ein kausaler Zusammenhang zwischen Drogenkonsum und krimineller Neigung hergestellt, der für die, durch eine enorme Informationsflut ohnehin auf einfache Erklärungsmuster angewiesene Bevölkerung, eine differenzierte Betrachtung überflüssig macht. Für die weitere Politik ist diese „öffentlichen Meinung" in mehrfacher Hinsicht brauchbar. Zum einen wird der politische Anspruch, die „Volksgesundheit" schützen zu müssen, vor dem Hintergrund der Verelendung allgemein nachvollziehbar und damit zu einem gesellschaftlichen Anliegen. Die Politik kann sich durch das „Vorführen" der Abhängigen der öffentlichen Gefolgschaft sicher sein. Zum anderen läßt sich durch die öffentliche Verknüpfung von Drogenkonsum und Kriminalität zweierlei erreichen. Der nicht per se logischen Einteilung von verfügbaren Drogen in „legale" und „illegale" wird jeder verbliebene Zweifel entzogen. Denn wenn im öffentlichen Bewußtsein illegale Drogen und kriminelles Verhalten zusammengehören, wird diesen Drogen das entsprechende Milieu zuerkannt und beides einer gemeinsamen Grundlage zugeordnet. Die illegalen Drogen sind also nicht in erster Linie illegal, weil das Gesetz es so will, sondern weil es einen natürlich erscheinenden Zusammenhang zwischen ihnen und kriminellem Verhalten gibt.

Der zweite Vorteil liegt in der Aufhebung des Widerspruchs von Krankheit und Kriminalität. Das Schema ist dabei denkbar einfach: Wer krank ist und nicht aus eigener Kraft gesundet, und das können Drogenabhängige ja schon per Definition nicht(vgl. 2.2.1 und 2.2.2), der braucht entsprechende Hilfe von außen. Es stehen dafür ärzte, Krankenhäuser und Therapieeinrichtungen zur Verfügung. Wer diese Hilfe nicht in Anspruch nimmt, tut dies offenbar deshalb nicht, weil er sich für die Drogenkarriere, mithin für die kriminelle Laufbahn entschieden hat. Denn „Um mit Erfolg die Krankenrolle beanspruchen zu können oder sie zugewiesen zu bekommen, müssen andere Menschen überzeugt werden, das der eigene Zustand die geläufigen Kriterien der entsprechenden Position erfüllt. (...) Gleichzeitig muß man andererseits ‘den Anordnungen des Arztes folgen’, ‘sich bemühen, bald gesund zu werden’, ‘ein guter Patient sein’, und man darf seine Krankheit nicht dahingehend ausnutzen, daß man anderen ‘Unzumutbares’ abverlangt". 59

Und genau diese Kriterien erfüllen die Abhängigen, deutlich sichtbar, nicht. Dabei wird außer Acht gelassen, daß Drogen ihrer subjektiv als positiv erlebten Wirkung wegen genommen und daher zunächst als Bereicherung erlebt werden. Von einer Selbstdefinition „krank" darf also gar nicht ausgegangen werden. Hinzu kommt, daß bedingt durch Kriminalisierung und Verfolgungsintensität, ein Bekennen zum problematisch erlebten Konsum oder gar zur Abhängigkeit, je nach aktueller sozialer Lage des Betroffenen, erschwert oder ganz unmöglich gemacht wird. 60

Dem Staat gelingt hiermit das Husarenstück, sich die Grundlagen seiner Politik mit eben dieser Politik überhaupt erst zu schaffen und dadurch gleichzeitig für deren Rechtfertigung zu sorgen. Damit wird garantiert, daß das Drogenproblem zum Dauerbrenner wird, mit der sich jederzeit Eingriffe in rechtsstaatliche Errungenschaften begründen lassen, von der nicht nur Drogenkonsumenten betroffen sind, sondern auch normale Bürger nicht verschont bleiben. 61 Mit Rasterfahndung, V-Leuten und "Großem Lauschangriff" kann, in letzter Konsequenz beim bloßen (unterstellten?) Verdacht auf ein Drogendelikt auf jede politisch unerwünschte, abweichende Regung reagiert werden. Währenddessen sorgt die Gleichschaltung von Politik, Berichterstattung und öffentlicher Meinung dafür, daß das Thema nicht durch ein Zuviel an Informationen unbeliebt wird.

Bedenkt man, welcher Nutzen sich aus dem "Drogenproblem" ziehen läßt, dann ist unschwer zu verstehen warum es sich politisch scheinbar nicht lösen läßt und warum diese Politik so hartnäckig gegen jeden noch so fundierten Einwand aufrechterhalten wird; denn jedes Feindbild läßt sich nur solange erfolgreich ausschlachten, wie es in der öffentlichkeit als Bedrohung Bestand hat.

Die Notwendigkeit neuer Feindbilder ergab sich umso dringlicher, je mehr der Zusammenbruch der östlichen Machthemisphere den Blick auf inneren Zustände im eigenen Land freigab. Wie wir wissen, sind Drogenabhängige nicht als einzige Gruppe davon betroffen, aber der Umgang mit ihnen macht, auch im Hinblick auf mögliche Reaktionen des Auslands, politisch weniger Umstände als beispielsweise der mit Asylbewerbern.


4. Der gesellschaftliche Umgang mit abweichendem Verhalten

Die ganze Phänomenologie der Feindbild Strategie erschließt sich erst, wenn man nicht nur die politische Rechtfertigung ergriffener Maßnahmen betrachtet, sondern gleichzeitig deren Funktion als „gesellschaftlicher Blitzableiter" mitberücksichtigt. Diese Doppelfunktion ist durch das aktuelle Drogenproblem nicht erfunden worden: „In der Geschichte des Kapitalismus hatten Rauschmittel (Alkohol und Opium) immer einen doppelten Gebrauchswert. Sie halfen den unterdrückten Massen, ihr Los zu ertragen, und der herrschenden Klasse, die gesellschaftlichen Bedingungen der Ausbeutung zu sichern". 62

Nun haben sich zwar die gesellschaftlichen Bedingungen insofern verändert, als von Klassengesellschaft im "klassischen" Sinne nicht mehr ausgegangen werden kann, denn die „Relationen sozialer Ungleichheiten" sind zwar seit Kriegsende relativ konstant geblieben; allerdings hat sich das Niveau hinsichtlich des Einkommens und der damit verbundenen Möglichkeiten durch den „Fahrstuhl-Effekt" verschoben, das heißt, die Klassengesellschaft wurde insgesamt eine Etage höher gefahren". 63 Variablen, wie Existenzminimum, Armutsgrenze, soziale Standards etc. müssen also unter der Prämisse dieser Verschiebung gesehen werden.

In einer gesellschaftlichen Umbruchsituation, in der durch den Strukturwandel der Arbeit das Ausbildungs- und Arbeitsplatzangebot immer mehr abnimmt (die weiter steigende Zahl der Arbeitslosen belegt dies eindringlich), und gleichzeitig soziale Sicherungen abgebaut werden, läßt die Möglichkeit sozialen Abstiegs oder gar Armut für viele in greifbare Nähe rücken.

Für die hiervon Betroffenen wiegt dies unter den vorgenannten Bedingungen um so schwerer,„da sie nicht mit den Abschirmmöglichkeiten und Umgangsformen einer Kultur vertraut sind, die mit Armut zu leben weiß". 64

Mit der Aussicht auf den Verlust der materiellen Grundlagen verknüpft sich gleichzeitig die Angst vor dem Ausschluß von der gesellschaftlichen Partizipation. Diese durch den fortschreitenden Modernisierungsschub als immer realer erlebte Bedrohung hat einen erheblichen Einfluß auf die Toleranzschwelle gegenüber Randgruppen im allgemeinen, und gegenüber den Drogenabhängigen im besonderen. Denn je mehr man das eigene soziale Abrutschen befürchtet, um so größer wird die Notwendigkeit, sich von bereits „Abgerutschten" zu unterscheiden: „Wer seine eigene Schwäche nicht tragen kann, der muß sie anderen zuteilen, die ihm als äußeres vorführen, was er an sich oder in sich um keinen Preis wahrnehmen will. Eine Gesellschaft, die einseitig auf das Ideal von Größe und Stärke fixiert ist, kann sich nur dadurch stabil halten, daß sie den Gegenaspekt von Dürftigkeit und Ohnmacht durch soziale Spaltungsmanöver ausgrenzt". 65

Daß Drogenabhängige in ihrem sichtbaren Elend hierfür besonders geeignet sind, liegt auf der Hand, die Dimension ihrer Ausgrenzung unterscheidet sich allerdings in mancherlei Hinsicht von der anderer Randgruppen und soll nachfolgend entwickelt werden.

4.1 Die Notwendigkeit von Sündenböcken

Ausgangspunkt dieser überlegung ist, daß eine dauerhafte Sündenbockfunktion nur dann gewährleistet ist, wenn sich zur Projektionsfläche der eigenen Ohnmachtsgefühle die moralische Verwerflichkeit der bereits Ausgegrenzten, also deren, das gemeinschaftliche Zusammenleben beeinträchtigender, störender Charakter, in das Gesamtbild einfügt. Das erfordert zunächst die Bereitschaft, zumindest eines Teils der Bevölkerung, ein vermeintliches Feindbild auch als solches zu akzeptieren, die Grenze eigener Zumutbarkeit muß entsprechender Belastung ausgesetzt sein, um die seelischen Dispositionen für die Akzeptanz zu schaffen. Ein Feindbild wird um so glaubhafter, je mehr Merkmale es aufweist, die eine Unterscheidung vom eigenen, „normalen" Denken und Handeln gewährleisten. Die Abweichung von der Norm, also Regeln, die sich allgemeiner Gültigkeit erfreuen, wird dabei als ein entscheidendes „Ausgrenzungskriterium betrachtet. Zunächst wird, nach einer Begriffsbestimmung von Normen, dargestellt, daß es im Verlauf der gesellschaftlichen Veränderungen zum Verlust sozial gewachsener, normativer Strukturen kommt, der in seinen Auswirkungen die Feindbildakzeptanz begünstigt.

4.2 Normen im Sog gesellschaftlicher Veränderungen

4.2.1 Definition

Allgemein werden unter Normen Regeln und Maßstäbe begriffen, an denen sich das Verhalten von Einzelnen und Gruppen ausrichtet; sie bilden dabei gleichzeitig den Bezugsrahmen für die Beurteilung des Verhaltens. Als „soziale Normen" werden diejenigen bezeichnet, die als allgemeingültige Verhaltensvorschriften das Verhalten von Mitgliedern bestimmter Gruppen untereinander regeln. Damit eng verknüpft sind „soziale Rollen" (Geschlechterrollen, Berufsrollen, etc.), die eine Orientierung darüber geben, welches Verhalten des jeweiligen Rollenträgers in einer spezifischen Situation gefordert oder erwartet wird.

Die Aneignung sozialer Rollen bzw. von Normen allgemein geschieht durch Lernprozesse, dabei ist Lernen als dynamischer Prozeß der Verhaltensänderung, übernahme und Befolgung von Normen zu verstehen. Dieser wiederum wird durch positive oder negative Sanktionen überwacht, allerdings gilt dies nicht für alle Normen, denn bei sehr vielen erfolgt die Aneignung durch das Nachahmen oder die Identifikation. Die Normen sind somit verinnerlicht (internalisiert). Die Notwendigkeit der Internalisierung liegt in ihrer entlastenden Funktion: Menschliches Verhalten unterliegt dadurch nicht einem ständigen Entscheidungszwang.

Unabhängig von der Art ihrer Aneignung ist der Anpassungsprozeß nicht problemlos, je mehr die Normen natürliche Bedürfnisse oder deren Befriedigung einschränken, also erzwungen werden müssen, um so konfliktträchtiger ist der Anpassungsprozeß (Eltern kleiner Kinder wissen ein Lied davon zu singen).

Die triebunterdrückende Wirkung von Normen bleibt indes nicht folgenlos, selbst beim Nichterkennen dieser Funktion entwickeln sich beim Menschen seelische Prozesse, um dem Normendruck auszuweichen. Dies kann durch Verlagerung, Verdrängung, Aggressionen u.ä. erfolgen. Die allgemeingültige Verbindlichkeit bestimmter Verhaltensweisen wird darüber hinaus durch Rechtsnormen (Gesetze) festgelegt. Sie stehen zwar oft in enger Beziehung zu sozialen Normen, können aber ihrem Ursprung nach auch lediglich dem Schutz bestimmter Machtinteressen dienen. 66

4.2.2 Die Auflösung normativer Strukturen und die Folgen

Durch die sich verändernden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen verlieren traditionelle Rollenmuster (soziale Rollen) mehr und mehr an Bedeutung. Damit verliert sich auch deren sicherheitsstiftende Funktion, da die Individuen in verstärktem Maße vor Entscheidungszwänge gestellt werden. Wenn allerdings davon ausgegangen werden muß, das ein großer Teil der verinnerlichten Rollenerwartungen von den einzelnen als solche gar nicht wahrgenommen werden, dann folgt daraus zweierlei:

1.)XXXXZum einen verdoppelt sich der Rollendruck, denn, wie oben bereits dargestellt, muß die Anpassung an soziale Rollen oft gegen erheblichen inneren Widerstand durchgesetzt werden. Wenn in einer sich verändernden Gesellschaft mit sich neu entwickelnden Strukturen neue Anforderungen entstehen, wird dies von den Individuen nur dann erfolgreich mitvollzogen werden können, wenn alte Rollenmuster als Grundlage weiterhin Bestand haben, oder die Möglichkeit der bewußten Rollenveränderung vorausgesetzt werden kann. Nun wissen wir aber, daß die „Freisetzung" aus traditionellen Rollen zur „Individualisierung" führt 67 ,mit anderen Worten, die Auflösung traditioneller Rollen beinhaltet auch die ihrer Institutionen, (Familie, Ehe, bestimmte Berufszweige u.a.) entwertet also alte Rollenmuster und macht sie überflüssig.

Mit der Individualisierung geht gleichzeitig ein „Standardisierunsgsprozeß" 68 einher, das heißt, die Auflösung bisheriger Strukturen führt zu einer Gleichheit der Zwänge und Anforderungen, die nicht mehr rollenspezifisch, sondern „durch und durch (Arbeits)marktabhängig" 69 sind. Woraus zu folgern ist, daß bei der derzeit bestehenden Beschäftigungslage ein langsamer Anpassungsprozeß auszuschließen ist.

Der Freisetzung der Individuen aus alten, verinnerlichten Rollenerwartungen entspricht somit nicht der gleichzeitigen Entlassung aus deren Zwängen, sondern setzt sie durch die neu erwachsenen Anforderungen der Individualisierung nur noch mehr unter Druck. Das nicht vorhandene Angebot neuer, allgemein verbindlicher Strukturen, verstärkt darüber hinaus die ohnehin mit der Veränderung einhergehende Orientierungslosigkeit.

2.)XXXXDaraus und aus der sich verschlechternden wirtschaftlichen und sozialen Lage erwächst die Notwendigkeit den als immer unerträglicher empfundene Druck los zu werden. Dabei wird erstaunlicherweise immer noch so getan, als würden wir uns in einer Zeit bewegen, in der für jeden alles möglich ist. Die Werbung vermittelt in verstärktem Maße eine „heile Konsumwelt, der anzugehören, als erstrebenswertes Ziel herausgestellt wird". 70

Gerade diese bereits zur Norm gewordene Erwartung läßt sich aber für immer mehr Menschen immer weniger erfüllen, ohne das sich hier für eine konkrete Ursache auffinden ließe. Als Folge der Modernisierung sind die gesellschaftlichen Problemlagen derart angewachsen, daß die Gründe ihrer Entstehung kaum noch auszumachen sind. Die früher personifizier- oder institutionalisierbaren Verursacher sind heute zu Sachzwängen geworden, die für den einzelnen kaum nachvollziehbar sind und außerdem in ihrer Tragweite eine individuelle Bearbeitung unmöglich machen.

Wenn der Druck auf den Einzelnen immer mehr zunimmt, sich kein Schuldiger finden läßt, und sich gleichzeitig die bisherigen „Formen der Angst- und Unsicherheitsbewältigung". 71 immer mehr auflösen, kann Entlastung nur noch durch Aggressionen oder Projektion auf einen gedachten Sündenbock erfolgen.

Für ein Feindbild ist bereits auf politischer Ebene gesorgt worden (vgl. 3.3.2), der gesellschaftliche Bedarf zur Weiterverwendung als Sündenbock kann, wie oben dargestellt, vorausgesetzt werden.

Im weiteren Verlauf wird nun dargestellt, was gerade Drogenabhängige als dafür besonders brauchbar erscheinen läßt. Nach einer kurzen nochmaligen Würdigung des Verdienstes der Drogenpolitik zu diesem Thema geht es in erster Linie um den Aspekt des „abweichenden Verhaltens" im Zusammenhang mit Drogenkonsum.

4.3 Drogenkonsum als abweichendes Verhalten

Es ist der Drogenpolitik gelungen, durch bedeutungsschwere Begriffsschöpfungen wie „Krieg gegen die Drogen", „Nationaler Rauschgiftbekämpfungsplan", den Eindruck einer akuten, inneren Bedrohung zu erzeugen. Unterstrichen wird die Schwere dieser Bedrohung durch die Betonung der Kriminalität einerseits und das Hervorheben der gesundheitlichen Folgen andererseits. Unterstützung erfährt die Politik durch die medizinische Definition des Drogenkonsums als „nicht normal" und die „Zelebrierung" 72 jedes einzelnen Drogentoten durch die Medien. Für die öffentliche Bewertung der (illegal) Drogenkosumierenden, im Vergleich zu anderen Randgruppen, hat dies einen erheblichen Einfluß, wie an folgendem Beispiel dargestellt wird.

Es herrscht in der Literatur Einigkeit darüber, daß chronischer, übermäßiger Alkoholkonsum zu irreversiblen körperlichen Schäden führt. Auch sein hohes Suchtpotential ist unbestritten, die Zahl der Abhängigen wird mit ca. 2 Millionen beziffert und in der Medizin wird er als Droge definiert. Der pro Kopf Verbrauch reinen Alkohols lag 1989 bei 11,8 Litern. 73

Trotz dieser Fakten gilt der Konsum von Alkohol solange nicht als anstößig, wie nicht gegen mit dem Konsum verbundene „Trinknormen" verstoßen wird. Diese Trinknormen regeln die zeitlichen, örtlichen und situativen Gepflogenheiten des Konsums. Allerdings sind diese Normen nicht einheitlich festgelegt. „Normen sind situationsspezifisch, d.h. es werden vor allem jene Situationen mit strengeren Normen belegt, die in die Nähe zu Leistungsanforderungen der Gesellschaft stehen. Es werden zwar Trinkmengen nicht einheitlich beschränkt, doch es bestehen je nach Situation konkrete Vorstellungen über adäquates Rollenverhalten, d.h. es werden nicht Trinkmengen, sondern nur Auswirkungen kontrolliert". 74 Mit anderen Worten: Solange jemand, je nach Situation, nicht „über die Stränge schlägt" bewegt er sich innerhalb der durch die Norm festgelegten Grenzen. Alkoholkonsum kann daher grundsätzlich als „normal" angesehen werden.

Das geschützte Terrain der Norm verläßt der Alkoholkonsument erst dann, wenn er nicht situationsangemessen, übermäßig viel oder gar ständig Alkohol zu sich nimmt. Er muß in diesem Fall mit Stigmatisierung, bei fortdauerndem Konsum gar mit Ausgrenzung rechnen. Allerdings erfolgt dieser Schritt nicht sofort, sondern erst nach häufigerer Auffälligkeit: „Die faktische Ausgliederung des Trinkers aus der Sozietät, die durch mehrmalige und kontinuierliche Verletzung sozialer Erwartungen verursacht wird, vollzieht sich nach dem Mechanismus eines typischen Labeling-Prozesses. Es bedarf einer Menge von sozialen Schritten, sowohl des Trinkers als auch der sanktionierenden Umgebung, bis sich die gegenseitigen Reaktionsweisen zwischen Trinker und Umwelt soweit verfestigt haben, daß die Umwelt das Label ‘Alkoholiker’ vergibt, und bis der davon Betroffene weiß, daß er stigmatisiert ist". 75

Zwischen dem Beginn der Auffälligkeit und der entgültigen Ausgrenzung liegt eine gewisse Zeitspanne; an ihrem Ende gleicht die Stereotypisierung des Alkoholikers der des Drogenabhängigen. 76

Ein grundlegender Unterschied zum Drogenabhängigen besteht nun darin, daß bereits beim ersten öffentlichen Bekanntwerden seines Konsums eine Stigmatisierung bei gleichzeitiger, faktischer Ausgliederung erfolgt, das heißt, es ist völlig unerheblich, ob er in Zukunft, in Zusammenhang mit seinem Drogenkonsum, soziale Erwartungen verletzen wird oder nicht. Dies wird schlichtweg vorausgesetzt und ist nicht, wie mit dem Argument der „Kulturfremdheit" dieser Drogen oft hervorgehoben wird, das Ergebnis einer kulturell gewachsenen Norm, sondern wurde durch die Rechtsnorm der Gesetzgebung erst künstlich geschaffen. Cohen verglich 1968 die Situation in England mit der in den USA: „In einem Land nun wie England, wo die Rauschgiftsucht nicht als Verbrechen gilt und eher als medizinisches statt als Problem der Strafverfolgung behandelt wird, wo die nötige Dosis auf Rezept eines Arztes billig erworben werden kann, gleicht die Situation des Süchtigen mehr der eines Diabetikers als der eines Süchtigen in den USA. Die Sucht selbst führt zu keinem Ausschluß aus der Welt der ‘anständigen Leute’ und die Beschaffung der Droge erfordert kein kompliziertes Geflecht von Handlungen, die illegal sind". 77

Die vermeintliche Normverletzung des Drogenkonsums ist also ein Retortenbaby der Drogenpolitik. Sind die Bedingungen für die zwangsläufige Deutung als abweichendes Verhalten nicht automatisch vorhanden, muß eben nachgeholfen werden. Die politische Notwendigkeit ergibt aus dem Umstand, daß abweichendes Verhalten in gesellschaftlichen Krisenzeiten die Sanktionsgewalt herrschender Kräfte stark beeinträchtigen kann. 78

Auch bei Beck findet sich eine Beschreibung, die sich in diesem Sinne interpretieren läßt: „Einer sich aus den Achsen der industriegesellschaftlichen Lebensführung -soziale Klassen, Kleinfamilie, Geschlechtsrollen und Beruf- herausentwickelnde Gesellschaft steht also ein System von Betreuungs-. Verwaltungs-, und Politik-Institutionen gegenüber, die nun mehr und mehr, eine Art ‘Statthalterfunktion’ der ausklingenden Industrieepoche übernehmen. Sie wirken auf das von den amtlichen Normalitätsstandards ‘abweichende’ Leben normativ pädagogisch disziplinierend ein". 79

Ein weiterer Unterschied zum Alkoholiker besteht in der „Doppelstigmatisierung": während der eine in der Regel „nur" ein Süchtiger ist, ist der Drogenkonsument sowohl süchtig (auch ohne die dafür notwendigen Voraussetzungen erfüllen zu müssen), als auch automatisch kriminell. Da ihm derartige Referenzen nicht selten (soweit vorhanden) Arbeitsplatz, Wohnung und/oder soziales Umfeld kosten, ist es nicht verwunderlich, daß sich mancher Konsument schneller „auf der Szene" wiederfindet, als er laufen kann , hat er doch hier bis zu einem gewissen Grade wenigstens eine Gemeinschaft, in der man sich zwar mißtraut, die dem Leben aber doch noch einen gewissen Status und einen Rest von Legitimität verleiht.

Die Szene schließlich ist die Konzentration der Normverletzungen schlechthin. Ihre Angehörigen entsprechen weder äußerlich noch in ihrem Habitus irgendwelchen gängigen Verhaltensstandards, frönen in der Phase ihrer höchsten Leistungsfähigkeit ganz öffentlich der Sucht, während anständige Menschen arbeiten (müssen), präsentieren aller Welt ihren körperlichen und seelischen Verfall; mit anderen Worten, die Szene bietet sich an als „gesamtgesellschaftliches Open-Air-Kino mit einer gigantischen Projektionsfläche, auf die der gesamte Seelenmüll, alle ängste, alles, was als ‘Manifestation des Bösen’ empfunden wird, projiziert werden kann". 80

Selbstverständlich wird dadurch keine wirkliche Entlastung bewirkt, da die tatsächlichen sozialen Probleme sich weder wegschieben noch wegprojizieren lassen. Es wird aber erreicht daß ein symbolisches Modell geschaffen wird, das in seiner Kraßheit alle eigenen Befürchtungen in den Schatten stellt; durch die fortwährende Präsenz seiner auf Affekte gerichteten Wirkung verhindert es außerdem eine vorurteilsfreie Auseinandersetzung mit dem Thema. Die andere Konsequenz ergibt sich aus dem Gutheißen staatlicher Maßnahmen, verbunden mit der Forderung nach rigoroserem Vorgehen gegen die Szene und deren Angehörige.

Die bereits oben beschriebene Wechselwirkung zwischen Ursache, Wirkung und Gegenmaßnahmen erhält auch hier durch den scheinbaren „Perpetuum Mobile Charakter" seine volle Gültigkeit.

Die Quintessenz besteht darin, daß sich die verschiedenen „Ausgrenzungsinstanzen" ihre Rechtfertigung aus den Vorgaben der jeweils anderen ableiten können und durch die eigenen Betrachtungsweisen, getroffene bzw. geforderte Maßnahmen etc.,diese gleichzeitig mitbedingen. Dieser Prozeß kann nur zur Verfestigung bestehender Zustände führen, so daß der Titel dieser Arbeit seine volle Berechtigung erhält.

Nun könnte man meinen, daß angesichts der Definitionsmacht orthodoxer Institutionen, der Starrheit staatlichen Handelns und der gesellschaftlichen Ohnmacht, eine Lösung des Problems unmöglich, die Ausgrenzung einiger Weniger als Folge des Modernisierungsschubs nicht zu verhindern ist.Sozialpädagogisches Handeln würde sich demnach in erster Linie auf die Nachsorge bzw. das Auffangen der Betroffenen beziehen. In der Regel ist dies für beide Seiten frustrierend, denn selbst akzeptierende Drogenarbeit, die Drogenkonsumenten als autonome Persönlichkeiten begreift, ändert nichts daran, daß vor ihren Türen weiterhin die Bedingungen vorherrschen, die die Abhängigen überhaupt erst in ihre Räume gebracht haben. Die hohe Rückfallquote legt außerdem den Schluß nahe, daß viele Betroffene wenig Aussicht oder vielleicht auch gar keine Lust mehr haben, sich in eine Maschinerie zu integrieren, aus der sie immer wieder mit Fußtritten hinaus befördert wurden. Das Grundproblem besteht darin, das diese Gesellschaft ihnen keine lebenswerte Alternative, und somit auch keine Perspektive anzubieten hat.

Dieses Grundproblem läßt unter verschiedenen Aspekten beschreiben:

-als psychologisches Problem, wenn man die Frage stellt, was Menschen veranlaßt, über Andere Macht ausüben zu wollen bzw. was führt bei Anderen zur Akzeptanz dessen,

-als zivilisatorisches Problem, wenn man die Frage stellt, warum scheinbar jede hochentwickelte Kultur in letzter Konsequenz immer wieder auf ihren eigenen Untergang hinarbeitet

-als gesellschaftliches Problem, wenn man die Frage stellt, warum eine Gesellschaft es zuläßt, daß ihr die eigene Entwicklung aus dem Ruder läuft,

-als generationsspezifisches Problem, wenn man die Frage stellt, warum Elterngenerationen immer wieder versuchen, ihrer Jugend den eigenen Stempel aufzudrücken und ihre Entwicklung dabei ständig behindert, und und und...
Wahrscheinlich kann all dieses einer gemeinsamen Grundursache zugeordnet werden, an dieser Stelle soll jedoch dem letzten Aspekt besondere Aufmerksamkeit zukommen.

Dabei muß in Kauf genommen werden, daß sich das eine und das andere wiederholen werden, allerdings läßt sich das im Hinblick auf eine zumindest annähernde Vollständigkeit nicht vermeiden. Betrachtet man die Entwicklung der letzten fünfundzwanzig bis dreißig Jahre, fällt auf, daß Modernisierungsschub, zunehmende Autonomiebestrebungen der Jugend und das Drogenproblem zeitgleich in Erscheinung traten. Das läßt auf einen Zusammenhang schließen, der im folgenden skizziert wird.

5. Die Sozialisationsbedingungen Jugendlicher-

Drogenkonsum als Handlungsalternative?

Ausgangspunkt ist die allgemein bekannte Tatsache, daß in aller Regel der Erstkontakt zu Drogen (im pharmakologischen Sinne) in der Jugend stattfindet. Ich war einigermaßen erstaunt darüber, daß sich in der gesichteten Literatur kaum Hinweise zu der Frage fanden, warum manche Jugendliche gerade illegale Drogen gebrauchen. Dies repräsentiert deutlich den öffentlichen Diskurs um Drogen; es wird viel zum Thema Drogen allgemein, zur Drogenpolitik, zur Abhängigkeit etc. gesagt, während die Gründe der Betroffenen selbst eine eher untergeordnete Rolle spielen. Die Diskussionen um die Gefährlichkeit oder Nichtgefährlichkeit von Drogen, um Verbot oder Legalisierung bleibt eine rein theoretische, wenn dabei die Jugendlichen außer Acht gelassen werden. In der Literatur besteht übereinstimmung darüber, daß es sich bei den sogenannten „Einstiegsdrogen um Alkohol und Zigaretten handelt. Dieser Umstand hat allerdings in der Vergangenheit nicht zur Proklamation einer Drogenwelle geführt, sondern dies vermochten erst die illegalen Drogen. Es stellt sich also die Frage, was illegale Drogen für einen Teil der Jugend attraktiv macht.

Die Thesen dazu sind folgende:

-Drogen sind als Teil der „Suchbewegung" eines Teils der Jugendlichen zu verstehen. In einer Gesellschaft, in der die Kultivierung bestimmter Drogen zum täglichen Leben gehören, kann es nicht verwundern, daß Jugendliche auf der Suche nach Eigenständigkeit und persönlichem Selbstverständnis ihre „eigenen" Drogen entdecken.

-Drogenkonsum stellt dabei eine adäquate Reaktion auf die jeweils bestehenden gesellschaftlichen Bedingungen dar, die sich in der Wahl der Drogen sowie deren Gebrauchsformen äußern. Andersartige Drogen und veränderte Gebrauchsmuster sind demnach als Anpassungsprozeß an eine sich wandelnde gesellschaftliche Wirklichkeit zu verstehen.

-Das Drogenproblem hat, da der Konsum in der Regel zu tiefen Spannungen zwischen Jugendlichen und ihren Eltern führt oder aber durch diese bedingt wird, auch eine generationsspezifische Dimension, die Reaktion der Staatsmacht stellt eine Verlagerung dieses Konfliktes auf die politische Ebene dar

5.1 Jugend, Drogen und Gesellschaft - Ein Überblick

Die späten 60er und die frühen 70er Jahre waren eine Epoche des Infragestellens politischer und wirtschaftlicher Rahmenbedingungen einerseits und der Suche nach individueller Neuorientierung andererseits.
81 Die Studentenbewegung, die zunächst die Beseitigung überkommener Strukturen an den Universitäten forderte, gelangte, mit dem Sozialistischen Studentenbund (SDS) als maßgeblicher Kraft, zu der Auffassung, daß die Kritik sich nicht auf die Hochschulen begrenzen könne, da deren Zustände gesellschaftlich bedingt seien. Die Universitäten sollten als Basis politischer Veränderungen dienen, die, aus den Universitäten heraus, in andere Institutionen, vor allem in die Betriebe getragen werden sollten.

Das Scheitern dieser Bemühungen wird hauptsächlich auf die Fehleinschätzung der tatsächlichen politisch-gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse zurückgeführt, die Hoffnung, daß der Protest auf die Arbeiterschaft übergreifen würde, erwies sich als falsch. 82

Gleichzeitig demonstrierte die Elterngeneration, daß sie nicht gewillt war, die von ihrer Jugend geforderte Aufarbeitung der eigenen Geschichte zu vollziehen. Stattdessen forderten manche ältere, diesen „Abschaum" zu vergasen, zu verbrennen etc. 83

Immerhin führte die Revolte zu Veränderungen, die sich im historischen Rückblick als Teil der beginnenden Individualisierngs- und Pluralisierungstendenzen interpretieren lassen, z.B. die Frauenbewegung, Umweltbewegung, sexuelle Freizügigkeit etc. Allerdings verschob sich die große Utopie der Veränderung von Politik und Gesellschaft in den Bereich der Selbstverwirklichung., Zur Systemkritik gesellte sich die Einsicht, selbst „Teilhaber einer universalen gemeinsamen Problematik, eines kranken Systems zu sein". 84 Auf der Suche nach neuen, alternativen Möglichkeiten entdeckte ein Teil der Jugend sein Interesse an fremden Kulturen, die auf ihre Identität und Lebenswelt einen entscheidenden Einfluß hatte.

Der Blick richtete sich nach innen und weckte den Wunsch nach Erweiterung. „Die Hippie-Bewegung war fasziniert vom östlichen Prinzip, die persönlichen materiellen Bedürfnisse auf ein Minimum zu reduzieren, um sich damit von Konsum- und Produktionszwängen zu befreien. Sie übernahm jene Hilfsmittel, die zum Erreichen der Meditations-, Verinnerlichungs- und Entsagungszustände zu gehören schienen- Drogen". 85

Meskalin, LSD, aber vor allen Dingen Cannabisprodukte wurden von einem großen Teil der Jugend in ihren Lebensstil integriert und rückten damit in den Blickpunkt öffentlichen Interesses.

Die Reaktion der Elterngeneration auf diese „langhaarigen Gammler" unterschied sich kaum von der auf die „linken Krawallmacher" vor einigen Jahren. Der eigene Drogenkonsum, vornehmlich der des Alkohols, stand dabei niemals zur Disposition, denn Alkohol war die Droge der Elterngeneration und damit auch Teil deren Lebensstils.

„Cannabis dagegen ist die Droge des Wilden, Eigensinnigen, Unangepaßten. Cannabis fördert das Antiautoritäre in den Subjekten. Cannabis motiviert zur Verweigerung. Cannabis ist ein Virus im Beton der Zeit". 86

Dies war, zumindest für die konservativen Kreise der älteren Generation,die Geburt der „Drogenwelle" und gleichzeitig, mit dem eigens dafür geschaffenen BtmG als Handgepäck, der Startschuß für eine beispiellose Kriminalisierungs- und Diskriminierungswelle. Mit dem Hinweis auf Drogenkonsum ließen sich unliebsame Autonomiebestrebungen der Jugendlichen stets unterbinden, erinnert sei hier nur an die behördlich verordneten Schließungen vieler autonomer Jugendzentren. Hinzu kam der „Radikalenerlaß", der, ursprünglich zur Aussondierung „linker" Lehrer gedacht, die Jugend vor „unliebsamen" Einflüssen schützen sollte.

Seit Anfang der achtziger Jahre bekamen die gesellschaftlichen Probleme eine neue Dimension. Die Forderungen der Jugend nach alternativen Lebensbedingungen sowie umweltverträglichen Produktionsweisen und Vermeidung lebensbedrohlicher Gefährdungspotentiale wurden gewaltsam abgewürgt.(vgl. 3.2) Die staatlichen Reaktionen auf jugendlichen Widerspruch blieben dem bisherigen Muster treu: auch in diesem Fall wurde wieder auf Kriminalisieren, Ausgrenzen und Uminterpretieren des Protests gesetzt. Allerdings gelang es vielen Jugendlichen erstmals, einen Teil der Eltern auf die entstandenen Gefahren aufmerksam zu machen, ohne daß dies freilich Einfluß auf politische Entscheidungen gehabt hätte.

Die Risikogesellschaft gewann immer mehr an Konturen, und auch das „Drogenproblem" entspannte sich nicht, immer mehr Jugendliche griffen zu sogenannten „harten" Drogen. Das Motto der sich in den 80er Jahren enttäuscht und frustriert von Politik und Gesellschaft abwendenden Jugend hieß: „No Future". Sie hatten nicht mehr das Ziel der Identität sondern verneinten deren Inhalte oder machten sie lächerlich. 87 Die Gesellschaft und ihre Institutionen verloren für einen großen Teil der Jugend ihre identitätsstiftende Funktion. Dies ist nicht weiter verwunderlich, wurde ihnen doch in den vorangegangenen Jahren sowohl der Boden für eine eigenständige, von der Elterngeneration unabhängige Jugendkultur entzogen, als auch die Partizipation an wichtigen, gesellschaftlichen und politischen Entscheidungen verweigert. Parallel dazu wird der eigentliche Sinn von Jugend zukunftsbezogen zu leben, zunehmend durch die Produktion kaum noch kalkulierbarer ökologischer und ökonomischer Risiken, in Frage gestellt.

Horst Eberhard Richter beschreibt die Stimmung 1981 so: „Es breitet sich das Gefühl aus, in einem Zug zu sitzen, der geradewegs in die Irre fährt und den man kaum noch aufhalten zu können glaubt. Aus diesem düsteren Eindruck entwickeln sich manche moderne Fluchtbewegungen. Es wächst die Zahl derjenigen -insbesondere in der Jugend-, die auszusteigen versuchen und dem gesellschaftlichen Betrieb entrinnen zu können hoffen, in dem sie für sich keine Sinnerfüllung und auf die Dauer nicht einmal eine Gewähr zum einfachen überleben sehen". 88 Hinzu kam die sich immer weiter verschlechternde Arbeitsmarktsituation, die mit einer erhöhten Bildungs- und Ausbildungserwartung an die Jugendlichen herantrat. Für viele, die dem in sie gesetzten Bildungsanspruch nicht genügen konnten, bedeutete es den Weg ins gesellschaftliche Abseits, denn „daß erfolgreiche Absolvieren irgendeiner Berufsausbildung wird zunehmend zur Voraussetzung dafür, überhaupt ins Erwerbsleben einsteigen zu können (...), Hauptschulabsolventen werden zu Ungelernten, finden einen vernagelten Arbeitsmarkt vor. Der Gang durch die Hauptschule wird zur Einbahnstraße in die berufliche Chancenlosigkeit". 89

Der Unerträglichkeit dieser Situation zu entkommen, gelingt vielen nur über den Weg des exzessiven (Drogen-) Konsums. „Millionen betäuben ihre ängste und Depressionen mit Psychopharmaka. Es findet auch ein gewisser surrogativer Beschwichtigungseffekt statt, wenn man sich fortwährend in den Konsum von Waren stürzt, die uns eine gigantische Wirtschaftswerbung als die eigentlichen Vermittler von Lebensglück suggerieren". 90

Die Chancen der Jugendlichen auf eigenständige Lebensführung bei gleichzeitiger gesellschaftlicher Partizipation sind in den 90er Jahren so gut wie aussichtslos. Sozialisation verkommt zur Abrichtung auf die Erfordernisse des Marktes. Beim Scheitern dieser „Bemühungen" tragen sie indessen allein Folgen und Verantwortung: „Verschärfung und Individualisierung sozialer Ungleichheiten greifen ineinander. In der Konsequenz werden Systemprobleme in persönliches Versagen abgewandelt und politisch abgebaut. In den enttraditionalisierten Lebensformen entsteht eine neue Unmittelbarkeit von Individuum und Gesellschaft in dem Sinne, daß gesellschaftliche Krisen als individuelle erscheinen und in ihrer Gesellschaftlichkeit nur noch sehr bedingt und vermittelt wahrgenommen werden können". 91 Wobei zumindest fraglich erscheint, ob das kontinuierliche, von Verantwortlichen aus Staat und Gesellschaft praktizierte „Nicht-Wahrnehmen-Wollen" der gesellschaftlichen Ursachen von Verweigerung und Protest damit glaubhaft zu entschuldigen ist. Es gab seit Bestehen der Bundesrepublik nicht eine Protestbewegung Jugendlicher, die es vermocht hätte, sich mit ihrem Anliegen bei den Verantwortlichen gebührend Gehör zu verschaffen; lediglich der Gewalt rechter Jugendlicher gelang es, so etwas wie ein Gefühl „peinlicher Berührtheit" zu erzeugen. Trotz eilig inszenierter Ausländerliebe war die eigene Verstrickung dabei nur mit Mühe zu kaschieren.

Seit Ende der Achtziger Jahre werden Drogenabhängige immer mehr zum gesellschaftlichen Problem, da sie verstärkt durch „Szenebildung" auf sich aufmerksam machen, gleichzeitig sorgt eine neue „Drogenwelle" für Furore, gemeint ist der Ecstasy (MDMA) Gebrauch der jetzigen Generation Jugendlicher, der vor allen Dingen im Zusammenhang mit Dance-Sessions und Rave-Parties für öffentliches Aufsehen sorgt. Von den Jugendlichen wird dabei insbesondere die „emphatisierende" Wirkung der Droge geschätzt, die es ihnen nach eigenen Aussagen ermöglicht, Kommunikationsmauern zu überwinden und tiefe Zuneigung für ihre Mitmenschen zu empfinden 92 , ein Umstand, der in Zeiten zunehmender Anonymisierung nicht unbeachtet bleiben sollte. Was für bisherige Drogen galt, wurde auch hier wieder praktiziert, statt einer Auseinandersetzung wurde auch MDMA mit dem Totalverbot belegt.

Der Umgang dieser Gesellschaft mit ihren Jugendlichen läßt sich mit wenigen Worten charakterisieren: Disziplinieren statt zuhören, kriminalisieren statt verstehen, verbieten statt aufzuklären. Was international gilt, nämlich das Diktat der ökonomischen und politischen Macht der hochentwickelten Industrieländer gegenüber den anderen, findet hier seine Entsprechung. Was sich nicht in den reibungslosen Ablauf etablierter Machtverhältnisse von Politik und Wirtschaft integrieren läßt, wird Kraft Gesetzes oder Polizeigewalt vom Tisch gefegt.

Es wird nun im weiteren Verlauf darum gehen, die Sozialisationsbedingungen der heute Jugendlichen genauer unter die Lupe zu nehmen, da sich Grundzüge eines neuen Umgangs mit der Drogenproblematik nur unter Einbeziehung der Begleitumstände entwickeln lassen.

5.2 Sozialisation und Identitätsbildung bei Jugendlichen

Die Jugendzeit läßt sich beschreiben als der Lebensabschnitt zwischen Kindheit und Erwachsensein, der durch eine Vielzahl widersprüchlicher Anforderungen als äußerst krisenhaft erlebt wird. Die Folgen der Nichtbewältigung dieser Widersprüche sind Enttäuschung, Gefühle der Ohnmacht und Einflußlosigkeit, die in Resignation, Flucht oder Vandalismus und Gewalt umschlagen können. Die gegenwärtige gesellschaftliche Bedingungen machen eine erfolgreiche „Sozialisation" und die Entwicklung einer gesunden „Identität", die zur Auflösung dieser Widersprüche maßgeblich sind, zunehmend unmöglich. Zunächst wird es darum gehen, die Begriffe Sozialisation und Identität zu definieren und ihre Bedeutung hinsichtlich der gegenwärtigen Lage zu beurteilen.

5.2.1 Sozialisation

Darunter ist das hineinwachsen in die Gesellschaft zu verstehen, allerdings nicht als einseitige Leistung des Individuums, sondern als wechselseitiger Prozeß der Auseinandersetzung mit sowohl dauerhaften als auch wechselnden gesellschaftlichen Bedingungen. 93 Erich Fromm nennt das Ergebnis der Interaktion zwischen Individuum und Gesellschaft, also der individuellen psychischen und der sozio-ökonomischen Struktur den „Gesellschaftscharakter".

„Die sozio-ökonomische Struktur einer Gesellschaft formt den Gesellschaftscharakter ihrer Mitglieder dergestalt, daß sie tun wollen, was sie tun sollen. Gleichzeitig beeinflußt der Gesellschaftscharakter die sozio-ökonomische Struktur der Gesellschaft: In der Regel wirkt er als Zement, der der Gesellschaft zusätzliche Stabilität verleiht; unter besonderen Umständen liefert er den Sprengstoff zu ihrem Umbruch". 94

Da dieser Prozeß niemals ein statischer ist, sondern beide Elemente sich in ständiger Bewegung befinden, bedeutet die Veränderung der einen Variablen die Veränderung beider. Damit diese Wechselwirkung erfolgreich und identitätsstiftend wirken kann, ist die Einigung auf einen gesellschaftlichen Grundkonsens oder ein gemeinsames „Objekt der Hingabe" 95 erforderlich, das dem einzelnen die Orientierung ermöglicht. In der Vergangenheit bestand dieser Grundkonsens in der Ausbildung einer „Normalbiographie", d.h. der in festverankerte, soziale Bezüge eingebettete Prozeß des Erwachsenwerdens ziehlte auf die Reproduktion ebensolcher Bezüge.

Die seit dem Ende der 60er Jahre spürbaren Auswirkungen des Modernisierungsprozesses, also einer Veränderung der sozio-ökonmischen Struktur, haben vielfältige Veränderungen für den einzelnen und damit für das Gesamtbild der Gesellschaft zur Folge. Zunächst führt die Modernisierung zur Erhöhung der Produktivität bei gleichzeitiger Verbesserung der allgemeinen Einkommensverhältnisse; auch Arbeiter verlassen den Status des „proletarischen Habenichtes". 96

Durch sinkende Arbeitszeiten, mehr Freizeitmöglichkeiten und erhöhte Konsumchancen kommt es zu einer „Pluralisierung" der Lebensstile bei gleichzeitiger Tendenz zur „Individualisierung", d.h. der einzelne löst sich immer mehr aus seinen traditionellen Milieus. Gleichzeitig erfordert die Umstrukturierung der Arbeitswelt eine erhöhte „Mobilität", die auch Frauen aus traditionellen Rollen befreit und zunächst Chancengleichheit der Geschlechter verheißt. Die Erhöhung des Wohlstands ermöglicht außerdem eine Erhöhung der Bildungschancen quer durch die Schichtzugehörigkeiten und sprengt damit die Grenzen der Klassengesellschaft.

Es sieht zunächst so aus, als führe der Modernisierungsschub zu einer allgemeinen Emanzipation, doch dies ist keineswegs so, denn parallel dazu ist seit Beginn der 80er Jahre ein gnadenloser Umverteilungsprozeß der gesellschaftlichen Reichtümer angelaufen, der Produktivitätssteigerung fallen immer mehr Arbeitsplätze zum Opfer. Die neuen Entscheidungsspielräume werden durch Entscheidungszwänge überlagert, denn durch die Herauslösung der Individuen aus alten Strukturen haben diese ihre Bedeutung verloren und stehen als Recourcen traditioneller Sicherheiten nicht mehr zur Verfügung. Individualisierung bedeutet also gleichermaßen den Verlust bisheriger sozialer Gefüge und deren sicherheitsstiftender Funktionen. Dies zwingt viele zur „Zwangsrestaurierung" alter Strukturen, die am augenfälligsten durch den gesellschaftlichen Rechtsruck im allgemeinen, und durch die hohe Gewaltbereitschaft vieler Jugendlicher im besonderen sichtbar wird.

Demnach kann von erfolgreicher Sozialisation nur im Sinne einer erfolgreichen Anpassung des einzelnen an die anonymen Bedingungen gesellschaftlicher Institutionen ausgegangen werden, denn die Auflösung der alten sozialen Gefüge macht sie gesellschafts- und damit marktabhängig (vgl. 4.1.1.2)

5.2.2 Identität

Identität entwickelt sich als Resultat der Verarbeitung verschiedener sozialer Erfahrungen, „die durch die gesellschaftlich zugewiesene bzw. vorstrukturierte persönliche und soziale Identität vermittelt werden". 97 Der Sinn der „Identitätsarbeit" besteht darin, eine autonome Persönlichkeit zu gewinnen, die Handlungsfähigkeit und Handlungssicherheit in der Gesellschaft herstellen und gewährleisten soll. Eng verbunden ist damit die Fähigkeit, eigene Erfahrungen vor dem Hintergrund politischer, ökonomischer, psychischer und sozialer Prozesse und Strukturen einzuordnen und zu beurteilen. 98

Das Ergebnis einer gelungenen Identitätsausbildung könnte demnach so aussehen: „Identität läßt sich einfach verstehen als ein Gefühl von Einssein mit sich selbst und gleichzeitig ein Gefühl der Verbundenheit mit der das Individuum umgebenden Gemeinschaft". 99

Identität kann dabei nicht als stabiler Zustand gesehen werden, sondern bezeichnet das Streben nach einem Ideal, man könnte auch sagen, es bezeichnet sowohl den Motor als auch das Ziel, das Individuen durch gesellschaftliches Handeln anstreben. Dies setzt allerdings voraus, daß der einzelne an der sozialen Identität festhält, ohne sich in normativen Erwartungen selbst zu verlieren, und andererseits seine persönliche Identität wahrt, ohne dabei zu riskieren, aus der Gesellschaft ausgeschlossen zu werden. Daraus ergeben sich per se fortlaufend Spannungsursachen. 100 , die in der aktuellen Situation zudem dadurch verschärft werden,

-daß die politischen und ökonomischen Gegebenheiten für den einzelnen kaum zu überblicken sind,

-den Jugendlichen eine Partizipation an diesbezüglichen Prozessen verunmöglicht wird

-und eine Orientierung hinsichtlich eigener, angestrebter Lebensform quasi nicht mehr existiert.

Wenn sich traditionelle Strukturen im Verlauf des Modernisierungsprozesses der Gesellschaft von der industriellen in eine „nachindustrielle" auflösen, werden die Individuen zunächst „freigesetzt", das heißt, bisherige Strukturen verlieren ihre Sozialisationskraft 101 und damit ihre identitätsstiftende Funktion. Davon ist vor allem die Familie als erste Sozialisationsinstanz betroffen, immer mehr Jugendliche wachsen in „unvollständigen" Familien 102 auf, die zudem immer häufiger zum Austragungsort gesellschaftlich bedingter Konflikte werden. 103 . Die Infragestellung von Klassenzugehörigkeit, Geschlechterrollen, wechselnden Berufserfordernissen, Konsumzwängen etc. bei gleichzeitigem Schwinden der Einflußmöglichkeiten auf deren Bedingungen, machen die Familie zum Pulverfaß.

„Familie wird zu einem dauernden Jonglieren mit auseinanderstrebenden Mehrfachambitionen zwischen Berufserfordernissen, Bildungszwängen, Kinderverpflichtungen und dem hausarbeitlichen Einerlei. Es entsteht der Typus der ‘Verhandlungsfamilie auf Zeit’, in der sich verselbstständigende Individuallagen ein widerspruchsvolles Zweckbündnis zum geregelten Emotionalitätsaustausch auf Widerruf eingehen". 104 Das Familienleben zeichnet sich somit vor allem durch Strukturlosigkeit ohne konkretes Ziel aus, so daß es als Orientierungsmilieu für viele Jugendliche kaum noch Bedeutung hat. Vielmehr bietet es ihnen ausreichende Orientierung über die Orientierungslosigkeit der Erwachsenen.

Übrig bleibt am Ende die elterlichen Forderung nach Statuserhalt oder -verbesserung. Dem steht die eigene Erfahrung gegenüber, daß die individuelle Leistung immer mehr an Bedeutung verliert. Dieser Widerspruch fällt um so drastischer aus, je mehr den Eltern der Verlust der eigenen sozialen Sicherheit droht. 105 Durch die rabiate Umverteilungspolitik rückt dies für immer mehr Familien in die Nähe der Wahrscheinlichkeit.

Das knappe Angebot an Ausbildungs- und Arbeitsstellen führt zu einem verstärkten Leistungsdruck und wachsendem Konkurrenzkampf, ohne daß die persönliche Qualifikation ein Garant für den Einstieg oder Verbleib in einem gewählten Beruf wäre. Die daraus resultierenden Folgen für die Betroffenen sind in mehrfacher Hinsicht bitter: Zum einen ist die Abhängigkeit von Sozial- oder Arbeitslosenhilfe in einer konsumorientierten Gesellschaft in der der Erwerb und Besitz verschiedener „In-Güter" kultiviert und damit als gesellschaftlichen „Muß" verinnerlicht wird, besonders schwer zu tragen. Zum anderen ist die Etikettierung „Berufs- oder Arbeitslos" gleichzusetzen mit persönlicher Entwertung, denn „der Beruf dient zur wechselseitigen Identifikationsschablone, mit deren Hilfe wir die Menschen, die ihn „haben", einschätzen in ihren persönlichen Bedürfnissen, Fähigkeiten, ihrer ökonomischen und sozialen Stellung". 106

Der Wegfall der beruflichen Betätigung führt außerdem zu einer Art „Zwangsinfantilität" 107 , da die für den Erwachsenenstatus erforderliche ökonomische Grundlage fehlt. Dem Nicht-Mithalten-Können in finanzieller Hinsicht folgt oft die Infragestellung bisheriger Bezugsgruppenzugehörigkeit, bei gleichzeitigem, erzwungenen Rückzug in die Familie. Der ohnehin konfliktträchtige Ablösungsprozeß wird dadurch verzögert und stellt die Jugendlichen erneut unter bestehende elterliche Werte und Normen. Auch die Zeitperspektive verändert sich bei längerer Arbeitslosigkeit, denn die Berufstätigkeit stellt in der Zeiteinteilung eine strukturierende Größe dar, die mehr und mehr als überflüssig und sinnlos angesehen wird.

Für viele Jugendliche geht so jeglicher Bezug zur Ausübung eines Berufes verloren und reduziert sich auf den marginalen Faktor der finanziellen Absicherung. Hinzu kommt eine ständig lebensfeindlicher werdende Umgebung, angefangen bei der Verbauung und Zementierung des zur Erfahrungssammlung und Erprobung kindlicher und jugendlicher Fähigkeiten notwendigen Erlebnisspielraums, bis hin zu überlebensbedrohlichen Risikopotentialen, zu deren Vermeidung Jugendliche einst auf die Straße gegangen waren (vgl. 3.2 u. 5.1).

Die Unmöglichkeit, an der Gestaltung ihrer Lebenswelt kreativ mitzuwirken, denn wo sie auch hinkommen ist schon alles fertig, durchorganisiert und nicht mehr zu beeinflussen, macht sie in dieser Gesellschaft zu Fremdkörpern. Die ganze Perversion des Sachverhalts wird überdeutlich, wenn zum einen Marketingstrategen aller Branchen Jugendlichkeit als Götzenbild aller Konsumorientierungen anbieten, Jugendliche als Konsumenten hochwillkommen sind, der Ausdruck eigenen Lebensstils bereits vermarktet ist, bevor er von den Jugendlichen selbst als solcher erkannt werden kann, sie von der tatsächlichen Teilhabe am gesellschaftlichen Leben aber ausgeschlossen bleiben.

Zusammengefaßt läßt sich das bisher Gesagte auf folgenden Nenner bringen: Jugendliche sehen sich auf der einen Seite Ansprüchen der „klassischen" Sozialisationsinstanzen gegenüber, durch deren gleichzeitige Entwertung ihre Orientierungslosigkeit eher gefödert als behoben wird. Ihre Lebensfähigkeit wird dabei nicht sonderlich herausgefordert, vielmehr werden sie auffordert, sich zurück zunehmen und eigene Wünsche und Bedürfnisse hinten anstehen zulassen. Derweil suggeriert ihnen eine aufdringliche Werbung genau das Gegenteil. Im krassen Widerspruch dazu steht, daß durch die Individualisierung verstärkte Eigeninitiative zu einem unbedingten Muß wird. Dies erfordert ein hohes Maß an sozialen Fähigkeiten, wie z.B. Gemeinsinn, Solidaritätsgefühl, Orientierungs- und Urteilsvermögen. Doch gerade das Erlernen dieser Fähigkeiten wird Jugendlichen durch das oben Beschriebene quasi verunmöglicht. Es kann also nicht verwundern, wenn Jugendliche in „abweichendem" Verhalten eine kompensierende Handlungsstrategie suchen. Kriminelle Mutproben, die Sucht nach „Flow"-Erlebnissen 108 , gewaltfömige Lösungsmuster und Drogenkonsum erscheinen vor diesem Hintergrund als durchaus angemessene Antwort.

5.3 Drogenkonsum als subjektiv sinnhaftes Handeln

Durch das gesellschaftlich bedingte Versagen der traditionellen Sozialisationsinstanzen kann eine als zufriedenstellend erlebte Identitätsausbildung nicht erfolgen, Identitätssuche wird zu einem immer längerwährenden, wenn nicht gar lebenslangen Prozeß. Je weniger Jugendliche mit den Vorgaben der Erwachsenenwelt konform gehen können, um so größer wird die Neigung, deren Wertvorstellungen den Rücken zu kehren. Die Gruppe der Gleichaltrigen gewinnt dabei als prägender Faktor immer mehr an Bedeutung. Aber auch dort findet Selektion statt: „Ein Junge der ebenso wie andere Jungen danach strebt, dieselben grundlegenden Bedürfnisse nach Anerkennung, Kameradschaft und Achtung zu befriedigen, vermag dies in konventionellen Gruppen nicht erreichen, weil er die Bedingungen für die entsprechende ‘Belohnung’ nicht erfüllen kann; er wendet sich deshalb anderen Gruppen zu, deren Bedingungen -nämlich Teilnahme an ihrer abweichlerischen Lebensweise- er leichter erfüllen kann". 109 Dies gilt heute selbstverständlich nicht nur für Jungen, sondern auch für Mädchen. Außerdem muß hinzu gefügt werden, daß durch das Nachlassen der sozialen Kontrolle einerseits und die Individualisierung andererseits, die zur Verfügung stehende Handlungsmöglichkeiten weniger an Normen orientiert sein müssen als früher, so daß abweichlerisches Verhalten oft nicht zwangsläufig als solches erscheint, sondern nur noch in seinen Auswirkungen als abweichend beurteilt wird.

In einer erlebnisarmen Umgebung, die kaum Erfahrungsspielräume zur Verfügung stellt, kann die Suche nach alternativen Möglichkeiten als notgedrungen vorausgesetzt werden. Zum anderen erlebt ein immer größer werdender Teil der Jugendlichen sich von vornherein als ausgegrenzt. Das offen ausgelebte, subjektiv als abweichend verstandene Verhalten kann auch in dem Sinne interpretiert werden, daß es das einzige, als selbstbestimmt erlebte Verhaltensmuster ist, das Jugendlichen überhaupt noch verbleibt.

5.3.1 Legale Drogen

Die ersten Drogenerfahrungen machen Jugendliche mit Zigaretten und Alkohol. Dies entspricht sowohl der in der Literatur geäußerten Auffassung als auch den Aussagen der Betroffenen selbst. Immer früher beginnen Jugendliche, öffentlich zu rauchen oder zu trinken. Wenn der eigene Status keine befriedigende Selbstdefinition zuläßt, weil Jugendliche in der gesellschaftlichen Warteschlange ganz hinten stehen, bietet sich der Konsum legaler Drogen zunächst als Betonung der eigenen Reife, des „Cool-seins" und der Mißachtung öffentlicher Verbote zunächst an, zumal Erlebnisfähigkeit, Stärke, herausragende Lebensart und Cleverness von einer aggressiven Werbung in Verbindung mit Alkohol und Zigaretten ausdrücklich proklamiert werden. Das Vorbild der Erwachsenen im Nahbereich tut das Übrige.

Während die wahrnehmbare Wirkung von Nikotin schon nach mehrtägigem Genuß kaum noch eine Rolle spielt, da der „Kick" im Zigarettenrauchen an sich liegt, wird Alkohol seiner berauschenden Wirkung wegen konsumiert, denn er ermöglicht Verhaltensweisen, die aufgrund von normativen oder psychischen Dispositionen gehemmt, im nüchternen Zustand nicht oder in anderer Form aufgetreten wären. So erleichtert Alkohol die Kontaktaufnahme zu Fremden oder zum anderen Geschlecht, führt zu erhöhtem Selbstbewußtsein, hilft Stimmungen zu kanalisieren und auszuleben und kann Probleme verdrängen helfen. 110 Dabei können Leistungen, die unter Alkoholeinfluß erbracht werden, in der Bezugsgruppe durchaus statuserhöhend wirken und das Selbstwertgefühl steigern.

Dem Mangel an Erprobungsspielräumen begegnen manche Jugendlichen durch das ebenso wirkungsvolle wie berüchtigte „Kampftrinken", bei dem soviel getrunken wird, wie jeder „ab kann", und der Sieger derjenige ist, der sich am längsten auf den Beinen hält. Auch manch riskante Mutprobe steht in enger Beziehung zum Alkoholkonsum. Nicht vergessen werden darf aber auch, daß viele Jugendliche im Zusammenhang mit familiären Erlebnissen Alkohol automatisch mit Aggressionen in Verbindung bringen, und seinen exzessiven Gebrauch von vornherein ablehnen.

5.3.2 Illegale Drogen

Für viele haben indessen die „illegalen" Drogen eine besondere Anziehungskraft, nicht zuletzt, um sich von der Erwachsenengeneration abzugrenzen. Dabei sorgen die Eltern selbst für die Legitimation: „Wer als Kind mit Kaffee und Tee, Nikotin und Alkohol, Schlaf- und Aufputschmitteln groß wird, weil Eltern und ältere von einer dieser Drogen mehr oder weniger abhängig sind, wird wenig Motivation verspüren, Drogen prinzipiell abzulehnen, nur weil die von ihm bevorzugten Drogen nicht den Normen der Erwachsenenwelt entsprechen". 111 Illegale Drogen sind für manche Jugendliche vor allem deshalb interessant, weil sie verboten sind. Die Nichtakzeptanz dieser Drogen durch die Erwachsenengesellschaft bei gleichzeitiger Vermarktungsunmöglichkeit durch die Wirtschaft machen diese Drogen für Jugendliche exklusiv verfügbar. Es läßt sich hierdurch auch eine Anti-Haltung gegenüber der Gesellschaft ausdrücken.

Gleichzeitig sorgt der Nimbus des Verbotenen für einen erheblichen Statusgewinn der konsumierenden Jugendlichen. Die Erfahrungen eines Gruppenmitglieds üben dadurch eine beachtliche Sogwirkung auf die übrigen Mitglieder aus, so daß sich der Konsum schnell ausbreitet. Allerdings kann dies auch Druck in der Gruppe fördern, Drogengebrauch erscheint dann normativ geboten. Zum anderen realisieren manche Jugendliche sehr schnell die der Beschaffung innewohnende Verdienstmöglichkeit, so daß sich eine Vielzahl von Aktivitäten allein durch den Handel ergeben. Dabei steigt der ideelle Gewinn mit dem Risiko, die „Bullen verarscht" zu haben steigert nicht nur das Selbstbewußtsein sondern wirkt sich auch stärkend auf den Status in der Gruppe aus. Der aufgrund von Arbeitslosigkeit verordneten Untätigkeit steht also hier eine alternative Handlungsmöglichkeit gegenüber, die von Jugendlichen durchaus als Perspektive aufgefaßt wird, denn sie verheißt neue finanzielle Möglichkeiten und wirkt durch die Zementierung des eigenen Ansehens identitätsstiftend.

Auch die Handhabung unterscheidet sich von dem der legalen Drogen, denn mit Ausnahme der synthetischen Substanzen in Pillenform, müssen illegale Drogen zum Konsum vorbereitet werden. Dies wird in Gruppen oft zelebriert und vermittelt neben der rituellen Aura auch ein Gefühl gemeinsamer Verschworenheit, das sich stabilisierend auf das Gruppengefüge auswirkt. Dies kann durchaus als gegenläufige Antwort auf die allgemeine Desintegrationstendenz betrachtet werden, denn die Jugendlichen schaffen sich dadurch ein „Objekt gemeinsamer Hingabe"(vgl. 5.2.1), das ihnen ein Zusammenhörigkeitsgefühl vermittelt, und auch normative Züge aufweist. So gibt es Gruppen, die beispielsweise keinen Konsum sogenannter „harter" Drogen zulassen. Es findet also eine soziale Kontrolle statt, die von den Erwachsenen aus o.a. Gründen nicht wahrgenommen wird.(Und aufgrund ihrer ambivalenten Haltung gegenüber Drogen auch gar nicht erfolgreich wahrgenommen werden könnte.)

Durch die erlebte Wirkung der Drogen eröffnen sich Möglichkeiten ganz anderer Art. Die Unwirtlichkeit des zur Verfügung stehenden Lebensraums läßt kaum Erprobungsspielräume zu. Während die Wirkung des Alkohols als „affektiv emotional", nach außen gerichtet beschrieben wird 112 , richtet sich die Wirkung vieler illegaler Drogen nach innen. (Es soll an dieser Stelle nicht weiter interessieren, ob Wirkungen substanzbedingt sind oder durch kulturelle Erwartungen bedingt werden. 113 ) Dies verschafft die Möglichkeit, den äußerlich nicht vorhandenen oder nicht zugänglichen Erlebnisspielraum nach innen zu verlagern. Dabei wird zum einen eine andere Selbstwahrnehmung als auch eine veränderte Wahrnehmung der Außenwelt möglich. Viele Jugendlichen erleben die verschiedenen Rauschzustände zunächst als Bereicherung, da er ihnen hilft, Isolationsängste aufzubrechen, Gemeinschaftsgefühle zu erleben, das eigene Ego zu stärken, oder um einfach Urlaub vom Streß der Wirklichkeit zu nehmen.

Als Beispiel sei hier die Droge „Ecstasy" angeführt: „MDMA reißt die Kommunikationsmauern zwischen Individuen nieder. Plötzlich ihrer Isolation entkommen, reden Fremde in einem ungewohnt familiären Ton miteinander. Selbst Beziehungskisten werden geöffnet und Intimitäten bleiben keine gut gehüteten Geheimnisse. Persönliche Probleme können anscheinend ‘problemlos’ erörtert werden. Diese Prozesse setzen recht subtil ein, werden jedoch von der Mehrzahl der User erfahren". 114

5.4 Die Folgen der Desinformation

Es hat sich also heraus kristallisiert, daß Drogenkonsum als durchaus positiv im produktiven Sinne erlebt werden kann. Dadurch gelingt es manchen Jugendlichen, einen Teil der erlebten Sozialisationsdefizite aufzufangen. Gleichzeitig erlernen sie durch die Illegalität die Fähigkeiten, die den Individuen als Folge des Modernisierungsprozesses für eine gesellschaftliche Partizipation abverlangt werden (vgl. 5.1.2)