Erfahrungsbericht „Krebs"
Mein Name ist Alexander Remmele. Ich bin 29
Jahre und seit 4 Jahren an Lymphknotenkrebs (hochmalignes
Non-Hodgin-Lymphom) erkrankt. Bis zum Auftreten meiner Erkrankung
habe ich 8 Semester Humanmedizin studiert. Inzwischen bin ich zu 100% erwerbsunfähig
und lebe von Sozialhilfe.
Seit knapp 2 Jahren setze ich Cannabis gezielt gegen die
Nebenwirkungen der Chemotherapie wie Übelkeit, Appetitlosigkeit und
Erbrechen ein und um meine psychische Verfassung zu stabilisieren bzw.
zu verbessern. Doch habe ich schon vor Ausbruch meiner Erkrankung über
10 Jahre lang regelmäßig Cannabis konsumiert. In dieser Zeit
habe ich Haschisch und Marihuana allerdings ausschließlich als Rausch-
und Genußmittel betrachtet.
Daran änderte sich zunächst auch nichts, nachdem ich von meiner
Erkrankung erfahren hatte. D. h. ich habe auch weiterhin gelegentlich gekifft
und mich wohl dabei gefühlt. Im Unterschied zu früher machte
ich mir jetzt allerdings mehr Gedanken über die potentiellen gesundheitlichen
Risiken meines Drogenkonsums. So hatte ich immer ein ungutes Gefühl
angesichts der Tatsache, meine durch die Tumorerkrankung und Chemotherapie
ohnehin schon stark in Mitleidenschaft gezogene Gesundheit möglicherweise
zusätzlich zu beeinträchtigen. Und das, obwohl ich persönlich
niemals negative Erfahrungen mit Cannabis gemacht hatte. Aus heutiger Sicht
fällt es mir selbst schwer, meine damalige Einstellung nachzuvollziehen.
Offensichtlich hatte die jahrzehntelange Diffamierungskampagne gegen Cannabis,
also die Darstellung von Cannabis als gefährliche, suchterzeugende
und wegbereitende Einstiegsdroge - trotz gegenteiliger eigener Erfahrungen
- auch bei mir ihre Spuren hinterlassen.
Diese Bedenken wurden erst durch die Veröffentlichung des Buches „Marihuana
- die verbotene Medizin" von Grinspoon/Bakalar (Verlag 2001) zerstreut.
Seither weiß ich, daß Cannabis ein seit Jahrtausenden bekanntes
und bewährtes Arzneimittel ist, dessen einzige, sicher belegte schädliche
Wirkung in der durch Rauchen verursachten Beeinträchtigung der Atemwege
besteht.
Nachdem mir nun also klar war, daß nicht nur meine Befürchtungen
hinsichtlich der Risiken unbegründet waren, sondern daß Cannabis
darüber hinaus sogar therapeutisch eingesetzt werden kann, ging ich
daran eben dieses systematisch zu erproben. Dabei bin ich bewußt
sehr selbstkritisch vorgegangen, vor allem habe ich sehr genau getestet,
ob unabhängig von der seit Jahren von mir geschätzten berauschenden
Wirkung tatsächlich eine Linderung der körperlichen Symptomatik
eintreten würde. Ich habe mir sozusagen immer wieder die Frage gestellt,
ob ich mir durch das neu erworbene Wissen über die medizinischen Anwendungsmöglichkeiten
von Hanf nicht nur eine Rechtfertigung für meinen Rauschmittelkonsum
zu schaffen versuche.
Zu dieser kritischen Haltung hat sicherlich auch die Reaktion in meiner
nächsten Umgebung beigetragen, wo ich schon lange als Freund der Hanfpflanze
bekannt war. Die fiel zwar überwiegend wohlwollend aus, doch glaubte
ich nicht selten zwischen den Zeilen ein gewisses Maß an Skepsis
hinsichtlich der medizinischen Wirksamkeit rauszuhören. Mein Eindruck
war, daß man mir angesichts meiner schweren Erkrankung Kiffen gerne
zugestehen wollte, an einem therapeutischen Effekt jedoch Zweifel hatte.
Inzwischen haben sich sogar meine Eltern von kompromißlosen Drogengegnern
zu Befürwortern einer Versachlichung der Cannabisdiskussion gemausert,
da auch ihnen nicht entgangen ist, daß der Konsum von Marihuana zu
einer deutlichen Steigerung meiner Lebensqualität führt.
Mein empirischer Selbstversuch brachte aber auch für mich überraschende
Ergebnisse: So mußte ich beispielsweise feststellen, daß keine
Gefahr für mich bestand in zügelloses Kiffen zu verfallen. Ganz
im Gegenteil: Ich merkte, daß ich nur äußerst selten Spaß
daran hatte, schon morgens für den Rest des Tages „stoned" zu sein.
Um Mißverständnissen vorzubeugen will ich an dieser Stelle ausdrücklich
betonen, daß ich Cannabis stets nur als nebenwirkungsärmere
Alternative oder Ergänzung zu schulmedizinischen Präparaten betrachtet
habe, daß ich also keineswegs gänzlich darauf verzichte einzunehmen,
was mir mein Arzt verschreiben darf.
Ich hatte also in Hanf ein Medikament gefunden, das mir wie kein anderes
schulmedizinisches Präparat nicht nur die körperlichen Beschwerden
lindern half, sondern darüber hinaus noch zur Verbesserung meiner
psychischen Allgemeinverfassung beitrug und für das ich bis heute
- unter Berücksichtigung dieses komplexen Wirkspektrums - keine Alternativen
kenne.
Das Dumme daran war und ist leider nur, daß die Anwendung dieses
Arzneimittels in der Bundesrepublik unter Strafandrohung verboten ist,
was natürlich erhebliche Probleme mit sich bringt. Zwar hatte ich
schon früher Kontakt zur „Drogenszene", so daß die Beschaffung
kein grundsätzliches Problem für mich darstellt. Doch während
ich früher verzichtete, wenn mir die angebotene Qualität zu schlecht
oder zu teuer erschien, war ich jetzt doch in gewisser Weise darauf angewiesen.
So wurde ich immer wieder von unzuverlässigen, geldgierigen Dealern
versetzt, beschissen und verkohlt. Ich war gezwungen mich mit Menschen
abzugeben, die mir persönlich regelrecht zuwider waren, nur um an
meine Arznei ranzukommen. Das hat mich letztendlich so wütend gemacht,
daß ich schon mit dem Gedanken spielte, mich spektakulär zu
outen, selbst anzuzeigen o.ä. Davon habe ich glücklicherweise
aber wieder Abstand genommen.
In dieser Zeit, das war im Frühjahr ´95, sah ich dann zufällig
ein Interview im Fernsehen mit Dr. Gorter vom Institut für immunologische
und onkologische Forschung im Krankenhaus Moabit, Berlin. Darin erzählte
er unter anderem, daß auch einige seiner Patienten Cannabis therapeutisch
einsetzen würden.
Herr Gorter, mit dem ich mich einige Wochen später in Verbindung setzte,
war dann freundlicherweise bereit mich mit Menschen bekannt zu machen,
die ebenso wie ich Kontakt zu gleichgesinnten „Leidensgenossen" suchten.
So haben wir schließlich als 4-köpfiges Vorbereitungsteam das
Gründungstreffen der Selbsthilfegruppe „Cannabis als Medizin" organisiert.
Bereits bei diesem ersten Treffen Anfang November letzten Jahres, an dem
über 120 Menschen teilnahmen, wurde anhand der Fragen und Redebeiträge
deutlich, wo auch zukünftig die Schwerpunkte unserer Arbeit liegen
sollten:
Durch Öffentlichkeitsarbeit und gezielte Einflußnahme auf politisch
Verantwortliche darauf hinzuwirken, die gesetzlichen Voraussetzungen für
eine legale Nutzung sowohl des Naturheilmittels Hanf als auch seiner synthetischen
Derivate zu schaffen.
Betroffenen die Möglichkeit zum Erfahrungs- und Informationsaustausch
zu bieten. Auf unseren monatlich stattfindenden, offenen Treffen haben
Interessierte Gelegenheit, Menschen mit den gleichen Beschwerden zu treffen,
sich gegenseitig auszutauschen, sich von deren individuellen Erfahrungen
mit Cannabis berichten zu lassen und vor allem auch in vertraulicher, persönlicher
Atmosphäre die leidige Beschaffungsproblematik und andere Probleme
der Illegalität anzugehen, d.h. Anleitung zur Selbsthilfe zu bekommen.
Zu unseren Zusammenkünften kommen durchschnittlich etwa 20 Personen,
die nicht alle selbst erkrankt sind, sondern häufig in Vertretung
Angehöriger kommen, womit bereits eines unserer größten
Probleme angesprochen wäre. Das besteht in der Tatsache, daß
fast 100% unserer Mitarbeiter mehr oder weniger schwer erkrankt sind und
sich deshalb nur zeitweise bedingt oder aber überhaupt nicht aktiv
einbringen können und so auch der Kontakt häufig verloren geht.
Aus diesem Grund haben wir uns
entschlossen unser Projekt zukünftig als e.V. zu organisieren. Durch
die Möglichkeit unserer Gruppe als Mitglied beitreten zu können,
hoffen wir fortan nicht mehr ganz auf die Unterstützung dieser Menschen
verzichten zu müssen, sie dadurch enger an die Gruppe binden zu können
und darüber hinaus weitere zur Mitarbeit zu motivieren. Außerdem
haben wir bereits Kontakt zu ähnlichen Projekten in anderen Städten,
für die wir als zentrale Anlaufstelle zu fungieren beabsichtigen.
Für Interessierte hier die Kontaktadresse, sowie Zeit und Ort unserer
Treffen:
Selbshilfegruppe Cannabis
als Medizin
c/o SEKIS (Selbsthilfe-Kontakt-und-Informationsstelle)
Albrecht-Achilles-Straße 65
10709 Berlin
Tel.: 030-892 66 02
Fax: 030-893 54 94
Wir treffen uns jeden 3. Mittwoch
im Monat um 20 Uhr unter obiger Adresse im Raum 1002. Außerdem steht
Ratsuchenden immer montags in der Zeit von 10 bis 14 Uhr ein Mitarbeiter
unserer Gruppe zu einem persönlichen (Raum 2011) oder telefonischen
(030-891 60 85) Informationsgespräch zur Verfügung.
Zum Schluß möchte ich noch kurz auf die aktuelle politische
Entwicklung eingehen:
Erst vor wenigen Wochen hat das Bundesgesundheitsministerium eine Änderung
des Betäubungsmittelgesetzes auf den Weg gebracht, wonach zukünftig
das in den USA bereits zugelassene, synthetische Delta-9-THC-Präparat
Marinol auch in Deutschland verschreibungsfähig werden soll.
Anlaß zu jubeln haben wir deshalb allerdings nicht. Denn selbst wenn
Mitarbeiter unserer Gruppe - im Einzelfall wie es ausdrücklich heißt
- von dieser Regelung profitieren sollten, so ändert sich doch nichts
Grundlegendes:
Das Naturheilmittel Cannabis steht nach wie vor in Anlage 1 des Betäubungsmittelgesetzes
neben Substanzen wie Heroin und Kokain und soll weiterhin von jeglicher
Anwendung ausgeschlossen bleiben. Und wie zurückhaltend Ärzte
Medikamende der Anlage 3 (verkehrs- und verschreibungsfähige Substanzen)
verordnen und welch bürokratischer Aufwand damit verbunden ist, wissen
wir aus unserer Erfahrungen bei der Verordnung von Opioiden.
Außerdem ist kaum davon auszugehen, daß Kranke, die bereits
positive Erfahrungen mit Cannabis gemacht haben, fortan auf das über
Jahrtausende bewährte Naturheilmittel verzichten werden, um ein erst
wenige Jahre altes, potentiell nebenwirkungsreicheres, vielfach teureres,
synthetisches Präparat zu nutzen. Mir kommt dieser Beschluß
so vor, als wollte man mir verbieten, natürliche Vitamine in Form
von Obst oder Gemüse zu mir zu nehmen, um zukünftig nur noch
Vitamintabletten schlucken zu dürfen. Vergleichbares soll bald offizielle,
gängige Praxis bei der Anwendung von Cannabinoiden werden.
Das wirft doch die Frage auf, warum sich politisch Verantwortliche so vehement
gegen die Anwendung natürlicher Cannabinoide stemmen, synthetische
aber dennoch zur Behandlung zulassen wollen. Dafür gibt es sicher
eine ganze Reihe von Gründen, auf die ich jetzt nicht näher eingehen
will. Ganz bestimmt fürchten sie - und das zu Recht - eine Türöffnerfunktion
für eine generelle Freigabe.
Die halte ich persönlich aber sowieso für den einzigen gangbaren
Weg, schon allein deshalb, weil ich eine Differenzierung zwischen medizinischem
und hedonistischem Gebrauch in den meisten Fällen für unmöglich
halte. Dies möchte ich anhand meines Krankheitsfalles verdeutlichen:
Nachdem mir aus schulmedizinischer Sicht keine Therapie mehr mit der Aussicht
auf Heilung angeboten werden kann, besteht für mich die einzige Möglichkeit,
den Verlauf der Erkrankung günstig zu beeinflussen, auf psychosomatischem
Wege. Und in diesem Zusammenhang spielt Cannabis für mich eine große
Rolle. Auf einen Nenner gebracht, könnte man vereinfacht sagen, daß
ich für meine Gesundheit wohl nichts besseres tun kann, als möglichst
oft gut drauf zu sein.
Kiffe ich jetzt aus medizinischen oder hedonistischen Gründen? Ich
denke die Grenzen sind fließend. Eine Unterscheidung kann hier nur
treffen, wer den Menschen als eine bloße Ansammlung von Organen betrachtet.
Ausgehend von einem komplexeren, ganzheitlichen Menschenbild will ich mir
aber die Verantwortung für mein Wohlergehen nicht aus den Händen
nehmen lassen und deshalb selbst entscheiden weshalb, wie oft und in welcher
Form ich Cannabis konsumiere.
Nun wirklich zum Ende kommend, will ich noch mal ausdrücklich betonen,
daß mir als Betroffenem eine Änderung der bestehenden Bestimmungen
zum St. Nimmerleinstag rein gar nichts bringt. Pragmatismus und Geduld
muß man sich leisten können. Angesichts meiner relativ begrenzten
Lebenserwartung kann ich das in diesem Fall nicht. Und so wie mir geht
es sehr vielen in unserer Selbsthilfegruppe.
Aus diesem Grund fordern wir übergangsweise eine Kompromißlösung,
so daß zumindest Schwerstkranke zukünftig straffrei Cannabis
beziehen und konsumieren können. Daß so etwas möglich ist,
zeigt das Beispiel des Buyers-Club in San Francisco. Daß es etwas
Vergleichbares bei uns nicht gibt, liegt nur an der Sturheit unserer Politiker.
Aber leider ist gegen deren Ignorannz noch kein Kraut gewachsen...
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