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Der Marmor-Mann


Im Juni 1924 verschwand George Mallory beim Versuch, als erster den Mount Everest zu besteigen. 75 Jahre später fand eine Expedition seine Leiche. Jetzt wollen die Forscher klären, ob der Brite vor seinem Tod den Gipfel erreichte
 

Von Teja Fiedler 

Er lag so friedlich da. Auf dem Bauch, Kopf und Arme festgefroren im Geröll, das im Lauf von 75 Jahren seinen beinharten Körper halb begraben hatte. Doch das abgerissene, geflochtene Hanfseil um den Leib und das direkt oberhalb der ledernen Nagelschuhe doppelt gebrochene Bein zeigten, wie gewaltsam das einsame Ende des Everest-Pioniers George Mallory in 8300 Meter Höhe gewesen sein muß. Offensichtlich war er zwischen die Felsblöcke gestürzt und hatte versucht, mit ausgestreckten Armen seinen Fall zu bremsen.

Weiß, "weiß wie eine griechische Marmorstatue", sei ihm der Körper ins Auge gesprungen, sagt Dave Hahn, einer der Entdecker: ausgebleicht vom Dauerfrost, den Schneestürmen und der brutalen Höhenstrahlung in der Todeszone unterhalb des Everest-Gipfels. Große Teile der altmodischen und unzulänglichen Bergkleidung aus Wolle, Tweed und Baumwolle fehlten, sie hatten dem gnadenlosen Klima nicht standgehalten. Als die Entdecker Fotos der Leiche machten, die der "Spiegel" als "triumphales Dokument einer ausgeklügelten Fahndung" bezeichnete, bewunderten sie erst die muskulösen Oberarme des toten Bergsteigers und sahen dann aus der zerfetzten Unterwäsche ein Wäschezeichen lugen: "G. Mallory", stand da in sauber gestickten Lettern.

Für den fünfköpfigen Suchtrupp am Nordhang des Everest war das der Beweis, daß er, so Expeditionsleiter Eric Simonson, "die Nadel im Heuhaufen" gefunden hatte - die Leiche des 38jährigen Mannes, der gemeinsam mit Andrew Irvine am 8. Juni 1924 die Erstbesteigung des höchsten Bergs der Welt versucht und seither die Phantasie aller Kletterbegeisterten mehr beschäftigt hatte als jeder andere der 150 Bergsteiger, die am Everest bisher umkamen.

Zum letzten Mal lebend hatte damals Noel Odell die beiden gesehen, ein weiterer Teilnehmer des tollkühnen Unternehmens. Der Geologe sichtete um 12.50 Uhr mittags von seinem Camp aus in rund 8500 Meter Höhe zwei schwarze Punkte an den berüchtigten "steps", den Stufen, dem klettertechnisch heikelsten Teil der sowieso schon schwierigen Nordroute, die sich nach oben bewegten. Doch dann verschluckten Wolken den Gipfel und die beiden Kletterer - seitdem waren sie verschollen.

Ihr jähes Verschwinden löste faszinierende Spekulationen aus: Hatten die beiden, hatte wenigstens einer von ihnen damals den Gipfel erreicht? Schließlich waren sie ja auf dem Weg aufwärts letztmals gesichtet worden. Ereilte sie das Schicksal auf dem Rückweg - so wie ihr Landsmann Robert Scott auch erst nach dem Erreichen des Südpols in der Eiswüste der Antarktis erfror? Wären Sir Edward Hillary und sein Sherpa Tensing, die 1953 den Mount Everest auf der einfacheren Südroute bezwangen, damit gar nicht die Erstbesteiger des berühmtesten Gipfels der Welt?

Ende März 1999 brach ein von der BBC, der amerikanischen Radiostation PBS und einer Handvoll Alpinausrüstern gesponsertes 15köpfiges Bergsteiger-Team auf, das Rätsel endgültig zu lösen. Bei seiner Suche konnte es sich auf wichtige Indizien stützen: 1933 hatte ein Kletterer den Eispickel von Andrew Irvine gefunden - am Hang unterhalb der Steps. Und 1979 vertraute der chinesische Bergsteiger Wang Hongbao während einer Everest-Expedition einem japanischen Kollegen an, er habe bei einem Aufstieg 1975 die "alte Leiche eines Engländers" am Rand des Nordgrats liegen sehen. Ehe für eine detailliertere Information ein Dolmetscher zu Rate gezogen werden konnte, wurde Wang zwei Tage später von einer Lawine getötet.

Den letzten Anstoß für das Unternehmen gab die Hartnäckigkeit des Frankfurter Kletterers und Geologen Jochen Hemmleb, der sich schon als Teenager an der tragisch-mysteriösen Geschichte Mallorys begeistert hatte. Der 27jährige studierte alle Fotos von der Everest-Nordflanke, deren er habhaft werden konnte, trug die Fundstelle des Eispickels sowie das Lager des Chinesen Wang ein und grenzte in akribischer Arbeit das Areal, das die Suchexpedition nach der Leiche durchkämmen sollte, auf wenige hundert Quadratmeter ein.

Über Funk und Teleskop von dem jungen Deutschen aus dem Basislager dirigiert, sichtete Alpinist Conrad Anker dann genau in dieser Zone auf 8240 Meter Höhe den Leichnam. Auch die globale Klimaänderung half bei der Entdeckung: In den vergangenen Monaten ist am Mount Everest sowenig Schnee gefallen wie seit Jahrzehnten nicht. Dadurch lag der Tote - ähnlich wie beim Ötzi-Fund in den Alpen - wohl erstmals überhaupt eis- und schneefrei auf einem Geröllfeld.

Als Anker und seine Kameraden den Leichnam Mallorys genauer untersuchen wollten, mußten sie erst einmal mit Eisäxten und Taschenmessern in stundenlanger Arbeit vorsichtig einen Teil des Oberkörpers vom festgefrorenen Boden lösen, um wenigstens die Brusttaschen des Toten durchsuchen zu können.

Sie fanden einen Höhenmesser mit einer Skala bis zu 9000 Metern (der Mount Everest ist 8848 Meter hoch), der durch den offensichtlichen Absturz zertrümmert worden war, und mehrere ordnungsgemäß frankierte Briefe von Familienangehörigen, die er auf der Brust - nahe dem Herzen - getragen hatte. Und sie fanden seine Schneebrille in einer Brusttasche verstaut - ein Beweis dafür, daß der Unfall sich nicht am hellichten Tag ereignet haben konnte, da sich kein Bergsteiger dem grellen Höhenlicht ohne Augenschutz aussetzt. Bedeutete dies, daß Mallory, Stunden nachdem ihn Odell gegen Mittag gesehen hatte, verunglückte, erst gegen Abend, mithin auf dem Rückweg vom Gipfel war?

Nicht aufzufinden dagegen war auch nur eine der unförmigen Sauerstoffflaschen, mit denen die beiden Männer am Morgen des 8. Juni ihren Aufstieg begonnen hatten. Wahrscheinlich, vermutet Dave Hahn, waren die zu schnell leer gewesen. Mallory und Irvine entledigten sich dieses Ballasts und stapften ohne zusätzlichen Sauerstoff durch die dünne Luft des Mount Everests, die in 8000 Meter Höhe nur ein Drittel des Oxygens der Atmosphäre auf Normalnull enthält.

Vor allem aber entdeckten sie beim Toten keine Spur der metallenen Kodak-Kamera, die Mallory für den Gipfelsturm eingepackt hatte. Doch die Suchexpedition hofft, bei einem der nächsten Aufstiege zur Unglücksstelle den Fotoapparat noch zu orten. "Sollte dann ein belichteter Film drin sein, wäre wahrscheinlich die Frage endgültig beantwortet, ob Mallory den Gipfel schaffte oder nicht", sagt Eric Simonson. Die Herstellerfirma versichert, daß unter den Tiefkühlbedingungen im Himalaya der 75 Jahre alte Film wahrscheinlich intakt und ergo zu entwickeln wäre.

Doch die Chancen für sensationelle Fotos stehen nicht günstig: Niemand weiß, ob Mallory die Kamera bei sich trug oder doch sein Gefährte Irvine, ein begeisterter Hobby-Fotograf, von dem bisher jede Spur fehlt. "War Irvine am anderen Ende des durchgerissenen Seils um Mallorys Brust und stürzte vom Felsgrat der Nordwand in die Tiefe, dann ist er unwiderbringlich menschlichem Zugriff entzogen und die Kamera auch, falls Irvine sie bei sich hatte", sagt ein Expeditions-Sprecher.

Sollten die Suchtrupps doch fündig werden, müßte der Film, der wahrscheinlich versprödet und an der Rückwand der Kamera festgefroren ist, noch oben in der Todeszone entwickelt oder in einem Tiefkühlbehälter in ein Speziallabor transportiert werden. Die höheren Temperatur-, Feuchtigkeits- und Luftdruckwerte im viel tiefer gelegenen Basislager würde er ungeschützt nicht unbeschadet überstehen.

"Das Auffinden der Kamera könnte komplette Klarheit schaffen", sagt Hans Kammerlander, der den Everest 1996 ohne Sauerstoff in Rekordzeit erklommen hat. Wie sein Konkurrent Reinhold Messner glaubt der Extrem-Bergsteiger aus Südtirol nicht, daß Mallory 1924 die zweite Steilstufe, eine 50 Meter hohe fast senkrechte Wand, vor dem Gipfel schaffte. "Es wird ein ewiges Geheimnis bleiben, ob er infolge Absturzes oder Erschöpfung ums Leben gekommen ist. Ich würde eher sagen, aufgrund von Erschöpfung, weil er auf dem leichteren Teilstück der Everest-Nordwand aufgefunden wurde. Ich denke, daß er mit seiner ganz schlechten Ausrüstung und in extrem erschöpftem Zustand die Steilstufe nicht erklettert hat. Aber auch wenn er nur bis zum Fuß der zweiten Steilstufe gekommen ist, halte ich das für eine wahnsinnige 
Leistung."

Der Enkel Mallorys, der ebenfalls George heißt, ist dagegen überzeugt, daß sein Großvater diese Klippe damals überwand und freien Weg zum Gipfel hatte. George junior schaffte 1995 den Gipfel auf der gleichen Route wie sein Vorfahre. Allerdings mit Hilfe der Metall-Leitern, die eine chinesische Expedition an der zweiten Stufe in den 70er Jahren installiert hatte.

Wahnsinn und Leistung waren schon vor dessen Gipfelsturm zwei Markenzeichen seines exzentrischen Großvaters gewesen. Der blendend aussehende Historiker aus englischem Gutsherrengeschlecht, der es liebte, mit schwarzen Flanellhemden, knallroten Krawatten und sozialistischen Überzeugungen die Londoner Literaturszene unsicher zu machen, war mit einer Großnichte des Schriftstellers William Thackeray verheiratet. Er verkehrte im Salon der Romanautorin Virginia Woolf und riß homoerotische Bewunderer dazu hin, in ihm "Galahad, den edelsten Ritter der Tafelrunde" oder "das Geheimnis Botticellis, die Raffinesse und Delikatesse eines chinesischen Druckes" zu sehen.

Vor allem aber war er davon besessen, den höchsten Berg der Welt zu besteigen. Seine Begründung für ein solches Wagnis: "Einfach, weil er da ist." Mit dieser Äußerung so recht nach dem Herzen des sportiven britischen Gentlemans katapultierte er sich in die vorderste Reihe der Abenteurer im Dienst von Englands Glanz und Glorie. Über das Risiko seiner fixen Idee war er sich voll bewußt. "Wir erwarten vom Everest keine Gnade", schrieb er in sein Tagebuch.

Bevor er zu seiner verhängnisvollen Tour aufgebrochen war, hatte er bereits einen Anlauf genommen - und der Berg seine Gnadenlosigkeit gezeigt. 1922 spurte Mallory als Teilnehmer einer frühen Mount-Everest-Expedition den Nordsattel hoch und löste eine Lawine aus. Sie riß sieben einheimische Träger - "Kulis" nannte man sie damals noch mit bester imperialistischer Arroganz - in die Tiefe. Die Schuldgefühle über diesen Fehltritt ließen Mallory nie mehr los. "Die Konsequenzen sind einfach verheerend. Nur durch meinen Fehler kamen sie ums Leben." Doch um so verbissener und waghalsiger wollte er es von da an dem Monster Everest zeigen: "Ich werde ihn an seiner Nasenspitze aufknüpfen."

Ohne die Hilfe der Technologie von heute mit ihren federleichten und extrem isolierenden Textilien, ohne jede Kenntnis der lebensgefährlichen physiologischen Kettenreaktionen, die Sauerstoffmangel im Gehirn hervorruft, dafür angetan mit Tweedjacken und Nagelschuhen, war es ein ungleiches Duell, das Mallory und sein Gefährte verlieren mußten. Mit Bravour. "Ob er den Gipfel schaffte oder nicht", schrieb seine Witwe in Mallorys Todesjahr, "ändert nichts an meiner Bewunderung für ihn."

Auch das Team, das ihn jetzt fand, zollte dem tollkühnen Pionier seine Achtung. Sie ließen die Leiche so liegen, wie die Natur sie in 75 Jahren bestattet hat, und schichteten als Begräbnisgeste nur ein paar zusätzliche Felsbrocken darüber. Nicht ohne zuvor aber einen kleinen Eingriff zu machen: Mit Erlaubnis der Mallory-Nachkommen entnahmen sie eine Gewebeprobe aus dem Unterarm für einen DNS-Test zur endgültigen Klärung der Identität des Toten.

http://www.stern.de/magazin/titel/1999/20/mounteverest.html
http://www.stern.de/magazin/titel/1999/20/mounteverest-2.html
 

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