Hanf als Heilmittel
Am Freitag, den 19.12.97 entscheidet der Bundesrat,
ob es den Cannabis-Wirkstoff THC künftig auf Rezept gibt
von Susanne Liedtke
Die Frau
ist stark abgemagert. Seit Tagen hat sie keinen Bissen heruntergebracht.
Die Medikamente, die ihr die Ärzte zur Therapie ihres Tumorleidens
verabreichen, hemmen den Appetit und rufen Übelkeit und Brechreiz
hervor. Weil keiner der gängigen Appetitanreger der Patientin hilft,
verschreibt ihr ein Mediziner das Präparat "Marinol". Das Mittel,
das die ersehnte Linderung der Beschwerden bringt, enthält den synthetisch
hergestellten Cannabis-Wirkstoff Delta-9-THC, der in hohen Dosen berauschend
ist.
Dieses Vorgehen, in den USA unter
Ärzten seit über zehn Jahren üblich, ist hierzulande bislang
strafbar. Das deutsche Betäubungsmittelgesetz verbietet, mit Ausnahme
spezieller Hanfsamen für den landwirtschaftlichen Anbau, jeglichen
Besitz und Verkauf von Hanf und Hanfprodukten. Das könnte sich bald
ändern. Am Freitag wird der Bundesrat über eine Änderung
des Gesetzes entscheiden. Und wie Helmut Butke vom Bundesgesundheitsministerium
(BMG) in Bonn vermutet, werden
sich die Ländervertreter den Empfehlungen von Experten des Bundesinstituts
für Arzneimittel (BfArm)
in Berlin aller Voraussicht nach anschließen.
Die Gutachter des BfArm hatten bereits 1996 dafür plädiert, das
bisher "verkehrsfähige" Betäubungsmittel Delta-9-THC in einen
"verschreibungsfähigen" Wirkstoff umzustufen. In der Praxis heißt
das: Sollte der Bundesrat dem Änderungsvorschlag zustimmen, dürfen
Ärzte ihren Patienten in Deutschland vom 1. Februar 1998 an Medikamente
mit der Cannabis-Substanz ganz legal verschreiben. Ebenso würde die
Neuregelung jeder Apotheke erlauben, beispielsweise Marinol für Kunden
zu importieren, die eine entsprechendes Betäubungsmittelrezept vorlegen
können. Vorausgesetzt allerdings, der jeweilige Apotheker hat dafür
von der Bundesopiumstelle in Berlin eine Genehmigung erhalten.
Nach Ansicht
von Medizinern könnten zahlreiche Patienten von dieser Neufassung
profitieren. Denn die Cannabis-Substanz hilft ihren Befürwortern zufolge
nicht nur gegen Brechreiz als Reaktion auf eine Chemotherapie bei Krebs.
Der Hanfwirkstoff soll auch den gefürchteten Gewichtsverlust bei Menschen
verhindern, die an Aids erkrankt sind. Ebenso wie viele Tumorkranke verlieren
sie mitunter jeglichen Hunger und Appetit.
In den USA zugelassen ist Delta-9-THC zudem für die Behandlung von
Grünem Star (Glaukom). Bei
diesem Augenleiden ist der Augeninnendruck krankhaft erhöht. Wird
die Krankheit nicht behandelt, können Patienten durch sie das Augenlicht
verlieren. Zwar gibt es mehrere Medikamente, die Abhilfe schaffen. Versagen
diese jedoch, dürfen amerikanische Ärzte die Cannabis-Substanz
verschreiben, die den Augeninnendruck senkt. Zudem soll Marihuana Umfragen
zufolge auch Muskelkrämpfe vermindern, die bei dem Nervenleiden Multiple
Sklerose auftreten können. Hasch sei zwar kein Wundermittel, befand
kürzlich die US-Gesundheitsbehörde (National
Insitutes of Health, NIH), nachdem Forscher das medizinische
Potential der Droge geprüft hatten. Es lohne sich aber, die Wirkung
der darin enthaltenen Substanzen weiter zu erforschen.
Sollte
der Bundesrat die Gesetzesänderung beschließen, können
deutsche Ärzte den Wirkstoff nach Aussage von Helmut Butke vom BMG
für jede der Krankheiten verschreiben. Die Behandlung falle dann
unter die Therapiefreiheit von Medizinern und gelte als individueller Heilversuch.
Krankenkassen müßten eine solche Behandlung grundsätzlich
akzeptieren und folglich deren Kosten übernehmen, so Butke weiter.
Der Mediziner Franjo Grotenhermen von der Arbeitsgemeinschaft
Cannabis als Medizin (ACM) in Köln glaubt jedoch, daß
viele Ärzte nach wie vor Vorurteile gegen den Cannabis-Wirkstoff als
Arznei haben werden. Für sie wie für einen Großteil der
Bevölkerung gälten Haschisch und Marihuana als gefährliche
Einstiegsdrogen, so Grotenhermen. Diese Einschätzung teilt auch Robert
Gorter vom Institut für onkologische und immunologische Forschung
am Krankenhaus Berlin-Moabit. Der Arzt und Immunologe bedauert nicht
nur, daß der Cannabis-Wirkstoff deutschen Patienten bisher vorenthalten
blieb. Er sieht sich durch die bisherigen Bestimmungen auch massiv in seiner
Forschungsarbeit behindert.
Bereits im Oktober dieses Jahres wollte Gorter eine klinische
Studie beginnen, in der der Nutzen von Cannabis- Wirkstoffen für
die Behandlung von Aids- und Krebspatienten untersucht werden sollte. Dies
ist bereits heute in Ausnahmefällen möglich, falls die Bundesopiumstelle
dem Antrag des jeweiligen Studienleiters zustimmt.
Erstmals sollte in der Berliner Untersuchung der therapeutische Nutzen
der synthetischen Substanz mit dem eines Extrakts aus der ganzen Pflanze
mit standardisiertem THC-Gehalt verglichen werden. Über zwölf
Wochen sollten jeweils 360 Aids- und Krebspatienten täglich zweimal
2,5 Milligramm des Wirkstoffs gegen ihre Appetitlosigkeit und Gewichtsverlust
erhalten. Gorters Team will in dieser Zeit die Gewichtszunahme, insbesondere
die Zunahme der Muskelmasse kontrollieren und die Wirkung der Substanz
auf das Immunsystem untersuchen.
Hintergrund dieser Untersuchung ist eine Umfrage unter mehr als 1 000 amerikanischen
Onkologen, derzufolge das pflanzliche Produkt Marihuana besser gegen den
starken Brechreiz im Zuge einer Chemotherapie gegen Krebs oder bei Aids
wirkt als die synthetische Einzelsubstanz Delta-9-THC. 44 Prozent der befragten
Ärzte hatten ihren Patienten daher das auch in den USA illegale Rauschmittel
Marihuana empfohlen.
Gorters Pläne wurden nach seiner Aussage jedoch bisher unter anderem
durch die Einfuhrbestimmungen für Marinol behindert. Für die
klinische Studie müßte er auf einen Schlag 55 000 Kapseln des
Medikaments aus den USA importieren, die alle aus einer Produktionsreihe
stammen. Sonst könnte die Wirkstoffkonzentration des Präparats
von einer Lieferung zur anderen schwanken. Doch aufgrund der derzeitigen
Gesetze durfte der US-Hersteller nur wenige Tausend Kapseln auf einmal
liefern. Gorter hofft, daß die neue Verordnung seine Studien in Zukunft
erleichtern wird.
CANNABIS
Rohstoff für Arznei- und Rauschmittel
Der Indische Hanf Cannabis indica enthält
als Hauptwirkstoff Delta-9-trans-Tetrahydrocannabinol, kurz Delta-9-THC.
In geringen Mengen (etwa fünf Milligramm) wirkt er betäubend,
in höheren (zehn bis 15 Milligramm) berauschend.
Marihuana ist das tabakartige Gemisch der getrockneten Blüten
und Blätter der weiblichen Pflanze des Indischen Hanfs.
Haschisch wird aus den harzreichen Drüsenhaaren weiblicher
Cannabispflanzen gewonnen. Die Droge kann als gepulvertes Kraut, als feste
Masse mit Gummi oder Zucker oder als Extrakt eingenommen werden. Meist
wird Hasch zusammen mit Tabak geraucht.
Cannabis-Medikamente enthalten meist synthetisch hergestelltes Delta-9-THC.
Hauptwirkstoff des in den USA zugelassenen Präparats "Marinol" ist
die nahezu naturidentische Substanz Dronabinol. In Großbritannien
darf der THC-Abkömmling Nabilon hergestellt werden. (sl.)
Medizinische
Gesellschaften fordern:
arzneiliche Verwendung von Cannabisprodukten
ACM:
Informationen
vom 10.01.98
Medizinteil
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