Die 68er

 

Nicht nur beim Schätzchen ging's zur Sache

Von Andreas Schön

Ein unmögliches Jahr. 1968. Die Mamas saßen vor dem Radio und wischten sich die Tränen ab. Schuld daran war ein junger Holländer, der ihnen ein Loblied sang, wie es vorher und nachher nie mehr erklang. Heintje hieß er. Wär' doch mein Junge auch so ein süßer Bengel, dachten sich die Mamas sehnsüchtig. In den meisten Wohnstuben blieben sie in jenem Jahr nämlich alleine. Die Kinder waren entweder draußen bei irgendwelchen Go-ins oder Demonstrationen oder sie suchten drinnen Erholung vom Afri-Cola-Rausch und wilden Rocknächten.

Es war das Jahr, in dem nicht nur die Bengels und Mädels sich die Pubertät abstreiften, es war das Jahr, in dem sich die ganze Republik gründlich aus dem kleinbürgerlichen Mief befreite und zu einer lebendigen Demokratie wurde. Es war nicht nur ein launiges Jahr. Aufbruchstimmung herrschte allerorten.

Die 68er. Sie sind zum Begriff geworden. Rebellion war angesagt, der Muff der Talare sollte verschwinden, die Räterepublik sollte den demokratischen Staat ersetzen. Selbst im kleinsten Dorf gab es einen »Ho-Chi-Minh-Pfad«.
Die Beatles und die Stones rockten um die Gunst der Lieblinge. Peter Kraus, Ted Herold und Rex Gildo verwöhnten die Mädchenherzen, die bei ihren Auftritten zum Steinerweichen kreischten. Und so mancher Bengel kreischte innerlich auch, als er die Mädchen plötzlich in Kleidchen sah, die nicht mehr hochrutschen konnten, weil sie schon so »Mini« waren, daß zum Rutschen kein Stoff mehr blieb. Da ließen sie sich einfach Pilzköpfe wachsen, damit die Röte im Gesicht nicht so schnell entdeckt werden konnte.

1968 war ein Jahr der Gewalt und des friedlichen Protests. In Prag wurde der »Frühling« militärisch niedergeschlagen, in Frankreich fürchtete Charles de Gaulle angesichts der Studentenunruhen um die »Grande Nation«, in Amerika gingen die Schwarzen für ihre Rechte auf die Straßen, in Vietnam tobte ein Krieg, der die Welt in Atem hielt. Da ging es in Deutschland vergleichsweise friedlich zu. Eine Ohrfeige war zu vermelden, die Beate Klarsfeld dem Bundeskanzler der Großen Koalition, Kurt Georg Kiesinger, beim CDU-Parteitag verpaßte.

Ein bißchen Lächeln ist immer dabei, wenn von diesen 68ern die Rede ist. In Nürnberg gab es einen Fotounternehmer, der mit Billigangeboten Millionär wurde. Er hatte nur einen Fehler: Er bezeichnete sich als Marxist. Und die Gleichung Marxist und Millionär galt als höchst verdächtig. Ein Jahr später wurde er wegen seiner gepflegt sauberen Kontakte zur DDR verurteilt. Landesverrat stand als Begründung im Urteil. So hart waren damals die Sitten.

Doch aus Frankreich kam Trost. Nein, es war nicht nur Daniel Cohn-Bendit. Asterix, hieß er, der versöhnlich stimmende Gallier, der auch heute noch bei den Deutschen hoch im Kurs steht.

Die Jugend sorgte dafür, daß die Alten ganz schön ins Schwitzen kamen. »Zur Sache Schätzchen« hieß die Losung. Ganz genauso, wie der Film von May Spils, der zum erstenmal Uschi Glas ins Rampenlicht der Öffentlichkeit rückte. »Es wird böse enden«, einer jener vielzitierten Sätze aus dem Film, war abends vor dem Bettgehen von den in sanften Pantoffeln steckenden Eltern immer wieder zu hören.

Fritz Teufel und Rainer Langhans waren da von anderem Zuschnitt. Sie waren so etwas wie die Eltern der »Kommune 1« in Berlin. Wild sah es aus in der Wohngemeinschaft, in der wie anderswo alternatives Miteinander geübt wurde. Jahrzehnte später kam es zu einem Wiedersehen mit Langhans. Er besitzt noch immer seinen »Harem« und die Damen setzten sich vehement für sein gerade erschienenes Buch ein. Es war etwas esoterisch angehaucht, das »Stöffchen« von damals lag irgendwie in der Luft. Aber die »Haremsdamen« dienten dem Wohl ihres Herrn, ausgerechnet bei einem Kritikerempfang, der die deutschsprachigen Edelfedern zusammenführte.

Kurzum, es war viel Nonsens dabei, anno 1968. Wegen solcher Allerweltsgeschichten wäre das Jahr 1968 nie und nimmer ins Geschichtsbuch der Bundesrepublik Deutschland eingegangen. Aber es ging auch um ernstere Dinge. Es war die Zeit des Aufbruchs. Die Jugend wollte raus aus dem Mief, hinein ins freie Leben. Der Emanzipationsprozeß Teil 1 lief an. Der Marsch durch die Institutionen begann.

Im Rückblick ist eines klar: Die Republik wurde kräftig durchgepustet, wurde von manchem braunem Lederzeug gesäubert, für demokratische Strukturen wurden effiziente Grundlagen gesetzt - doch die Schlagzeilen der Geschichte wurden 1968 anderswo gemacht: beim Prager Frühling, in Vietnam, von Mao und Kissinger. Die Deutschen waren damals einfach noch zu grün für einen Eintrag in die Seiten der Weltgeschichte.

Dies bewiesen auch die Bilder von den Diskussionsorten. Eins war überall gleich: es wurde lang und länger diskutiert, meist gar nicht bis zum Ende, weil vor diesem vertagt werden mußte. Und die Chose lief am anderen Tag in der genau gleichen Weise, mit dem genau gleichen Ergebnis wieder ab.

Halt! Summa summarum blieb doch ein gewichtiges Stück 68 übrig, das bis auf den heutigen Tag diese Zeit verkörpert: die des Herrn Lehrer, ganz gleich ob er nun wirklich einer ist oder nicht. Eine Rolle spielt er im Zieleinlauf allerdings nicht. Die wahren Sieger haben ihre Kleider längst gewendet und mehrfach gewechselt, was im Laufe einer Generation durchaus als normal zu werten ist. Und den ewigen Lehrern sei der Ratschlag gegeben: Laßt die heutige Jugend mit euren alten Kamellen in Ruhe. Sie haben wahrlich andere Probleme als eure Geschichte zu wiederholen.