Die USA sind heute ein PolizeistaatEin Gespräch mit dem Schriftsteller Gore Vidal über den Krieg in Jugoslawien und den Niedergang des amerikanischen ImperiumsSZ: Mr. Vidal, haben Sie auch den Atlas herausgeholt und nachgeschaut, wo das Kosovo liegt, wie es Präsident Bill Clinton Ihren Landsleuten empfahl, als er im Fernsehen den Krieg gegen Jugoslawien ankündigte?Vidal: Das war wirklich ein denkwürdiger Moment. Als guter Populist zögerte Bill Clinton, als er zu dem Wort „Atlas“ kam, denn die meisten Amerikaner wissen überhaupt nicht, was das Wort bedeutet, geschweige denn, daß sie einen Atlas besäßen. Jugoslawien ist die alte römische Provinz Illyrien. Mein Roman Julian spielt dort. In der später nach ihm benannten Doktrin definierte Präsident Harry Truman 1947 die Politik der Vereinigten Staaten als die Absicht, „freie Völker zu unterstützen, die sich dem Versuch der Unterjochung durch bewaffnete Minderheiten widersetzen“. Dieser Doktrin folgend müßten die USA also augenblicklich den von der UCK bedrängten Serben zu Hilfe eilen. Die ganze Truman-Doktrin war doch verlogen. Angeblich wollten wir jedem Land zu einer guten Regierung, zu Freiheit und Demokratie verhelfen. Aber sie diente von Anfang an nur dazu, unser mächtiges militärisches Establishment zu rechtfertigen. Wir geben mehr für Rüstung aus als alle Staaten der westlichen Welt zusammen, und dafür braucht man gute Feinde. So wurde der „Feind des Moments“ erfunden. Wie bei McDonald’s wird Monat für Monat ein anderer herausgehoben. Dafür müssen wir immer wieder unseren Atlas herausholen. Einmal ist es Noriega, dann Gaddhafi, dann Saddam Hussein. Ich wüßte nicht, was sich gegen diesen Herrn einwenden läßt: Er hätte uns das Öl zu einem vernünftigen Preis verkauft, denn dafür war er doch schließlich im Geschäft. Und in diesem Monat heißt der Feind zufällig Slobodan Milosevic. Milosevic ist jedenfalls nicht als glühender Anhänger der amerikanischen Verfassung bekannt. Na und? Es wäre schön, wenn die ganze Welt in Frieden lebte, und sich alle anständig benähmen, aber sie tun es nun einmal nicht. Die Truman-Doktrin sagt deutlich, worum es den USA seit dem Zweiten Weltkrieg ging: Die Kontrolle über die gesamte Erde zu erreichen. Doch den Amerikanern widerstrebt die Rolle des Weltpolizisten. Dieser furchtbare Ehrgeiz peinigt nur die Staatsführer. Die Amerikaner waren in der Vergangenheit meist fröhliche Isolationisten. Sie wollen sich nicht in kriegerische Auseinandersetzungen einmischen, sondern bleiben am liebsten zu Hause, wollten viel Geld verdienen und sich in aller Ruhe ihr Übergewicht anfressen. Dann ist mir aber rätselhaft, wie dieser Krieg gegen den Willen der Mehrheit geführt werden kann. Zum Schlauesten, was die Rechte machen konnte, gehörte die Abschaffung der Wehrpflicht nach dem Vietnamkrieg. Mit Wehrpflichtigen ließe sich eine solche Kampagne nämlich nicht durchziehen. Sie haben vielleicht Mütter und Väter, die reich und mächtig sind und die sagen: Mein Sohn wird doch nicht für euch über das Kosovo fliegen, ihr Idioten! Deshalb rekrutiert sich die amerikanische Armee aus den Armen, bei Weiß und Schwarz gleichermaßen. Diese Sölderarmee wird gut bezalt. Eine wichtige Klausel im Dienstvertrag lautet aber: Wir wollen keine Verwundeten und Toten. Klappt doch ganz hervorragend. Selbst dafür braucht es ein gewaltiges Lügenwerk, als Desinformationskampagne inszeniert vom CIA, damit ständig Krisen am Köcheln gehalten werden. Das Fernsehen erleichtert die Sache: Es liefert wunderbare Bilder von blonden blauäugigen Menschen, die gefoltert und aus ihren Dörfern vertrieben und abgeschlachtet werden. Damit läßt sich ein herrlich sentimentales Klima erzeugen. Aber die Flüchtlinge gibt es doch wirklich . . . . . . und natürlich ist Milosevic böse. Aber es leben viele Bösewichter in der Welt. Im Sudan gibt es weit schlimmere Gesellen. Warum also ziehen wir nicht gegen den Sudan in den Krieg? Weil die Leut dort nicht so gut aussehen, und weil die Amerikaner sowieso alle Schwarzen hassen. Eine kleinere Militäraktion gab es immerhin im vergangenen Jahr, als Bill Clinton diese Fabrik im Sudan bombardieren ließ. Ja, damit wollte man die armen Sudanesen auch noch von ihrem Aspirin-Nachschub abschneiden. Woher kommt dieses amerikanische Sendungsbewußtsein? Wir hatten die Kolonialherrschaft der Engländer abgeschüttelt und wir hatten das beste und auch noch demokratische System. Wir waren die biblische „Stadt auf dem Hügel“. Diese Eitelkeit hat uns schließlich nach Vietnam geführt und mit der gleichen Eitelkeit fliegen wir jetzt unsere Einsätze über dem Kosovo und über Belgrad. Sie waren selber Soldat. Hätten Sie denn in einer solchen Situation einer Einberufung Folge geleistet? Wenn mein Land angegriffen würde, dann würde ich es selbstverständlich verteidigen. Ich habe mich im Zweiten Weltkrieg übrigens freiwillig gemeldet, das war Ehrensache. Wenn heute der Befehl käme, mich in einen Aufstand in Jugoslawien einzumischen, würde ich sofort nach Kanada abhauen. Während des Vietnamkrieges habe ich tausenden von jungen Männern geraten, so schnell wie möglich aus den USA zu verschwinden und sich vor dem Wehrdienst zu drücken. Haben Sie damals auch einen Studenten der Politikwissenschaft namens William Jefferson Clinton in diesem Sinn beraten? Wir hätten uns auf der gleichen Wellenlänge befunden. Dieser Brief an das Einberufungsbüro, in dem Clinton darlegt, warum er gegen den Vietnam-Krieg sei, war so ziemlich die einzige edelmütige Tat in seinem Leben. Warum spielt er dann heute den Warlord? Aus Eigennutz, aber er weiß nicht, was er will. Weiß das überhaupt jemand? Ihr Vater war Luftfahrtminister im Kabinett Franklin D. Roosevelts, vielleicht wissen Sie deshalb mehr: Wer kam denn auf dieser glorreiche Idee mit den Luftschlägen gegen Jugoslawien? Natürlich ist die ganze Operation geisteskrank. Eine Folge der traurigen Tatsache, daß es in unserem Land keine Politik mehr gibt. Welchen Grund gibt es überhaupt für diesen Krieg? Der Militärhaushalt muß gerechtfertigt werden, das ist schon mal ein guter Grund. Ein kleiner Krieg ist immer gut fürs Geschäft. Ganz beiläufig erinnert er die Europäer daran, wer der Chef in der Firma ist. Mich wundert, daß die Deutschen so naiv sind, daß sie nicht einmal merken, was wir da tun. Glauben Sie im Ernst, daß wir Milosevic hassen, daß er für uns ein Bösewicht ist? Gut, er ist wahrscheinlich ein Böser, aber wir haben unsere eigenen Bösen. Unsere Herrscher greifen unschuldige Menschen aus der Luft an. Das ist genauso böse wie alles, was Milosevic tut. Ja, Milosevic verabscheut wenigstens die Leute, die er umbringt, während wir unsere Opfer nicht einmal kennen. Carters Sicherheitsberater Zbigniew Brzezinski hat einen Brief nach Washington geschrieben, der Präsident möchte doch bitte umgehend Bodentruppen in das Kosovo entsenden. Dann müßte man die Reservisten einberufen, sie von Iowa plötzlich nach Europa schicken, damit sie in Mazedonien kämpfen. Dafür bräuchte es schon sehr gute Gründe, und die Reservisten würden nicht losziehen wollen. Eine Revolte drohte. Nur gab es in den USA noch nie eine Revolution. Was nicht heißt, daß es nie eine geben wird. Aber Sie sagen ja selber, daß die Menschen damit ausgelastet sind, viel Geld zu verdienen und sich dick und rund zu essen. Aber vier Fünftel aller Amerikaner verdienen doch gar kein richtiges Geld. Sie haben Mini-Jobs, mit denen sich kein Europäer abspeisen ließe. Es wird immer so getan, als ginge es den Amerikanern wirtschaftlich so gut. Das stimmt nur leider nicht: Das durchschnittliche amerikanische Paar im Doppelverdienerhaushalt verdient heute zusammen soviel, wie der Ehemann allein 1973. Nur zehn Prozent aller Arbeiter werden von einer Gewerkschaft vertreten, der Rest ist von der Gnade der Arbeitgeber abhängig. Die Arbeiter fallen also immer weiter zurück und arbeiten, wie sich das Europäer gar nicht mehr vorstellen können. Deshalb sind die deutschen Banker doch so begeistert vom amerikanischen Modell: Es gibt so gut wie keinen Urlaub, der Lohn ist bescheiden, und trotzdem zahlt man vergleichsweise hohe Steuern. Unsere Wunderwaffen haben schließlich ihren Preis. Mir ist unbegreiflich, mit welcher Seelenruhe sich die europäischen Arbeiter ihre Privilegien im Namen angeblich wirtschaftlicher Erfordernisse abschwatzen lassen. Bedauern Sie es nicht manchmal, daß Sie Ihre politische Karriere nicht weiter verfolgt haben? Vielleicht wären Sie heute statt Ihres Cousins Al Gore der nächste Präsidentschaftskandidat der Demokraten. Aber das wäre doch unmöglich. Warum denn? Weil ich das ganze System ablehne. Es ist durch und durch korrupt. Ein Beispiel: Die Amtszeit im Senat dauert sechs Jahre. In diesen sechs Jahren muß man Woche für Woche 10 000 Dollar eintreiben, um am Ende der Wahlperiode genug Geld beisammen zu haben für den nächsten Wahlkampf. Geld aber bekommt man nur von Leuten, für die man etwas zu tun bereit ist. Wir haben keine repräsentative Demokratie. Wer in den Kongreß gewählt wird, vertritt nicht Kalifornien oder West Virginia, sondern General Motors oder Boeing. Jeder weiß das, und die Leute haben sich daran gewöhnt. Wie an den täglichen Krieg im Fernsehen. Der eine oder andere Held würde sich doch gut machen. Sobald Bodentruppen nach Europa geschickt werden – und ich glaube nicht, daß Clinton das wagen würde –, kommen viele Leichen zurück. Dann ginge ein heftiges Beben durchs Land: Keiner wollte den Krieg, keiner weiß, was das für ein Krieg ist, wo er stattfindet, worum es eigentlich geht. Solange keiner der Unsern verletzt wird, und sich der Krieg darauf beschränkt, daß man Bomben auf Fremde wirft, ist es den Leuten ziemlich egal. Bodentruppen aber könnten die USA endgültig zerreißen. Immerhin wären wir dann auch unser Regierungssystem los und das System der Wirtschaftskonglomerate gleich mit. Der Schauspieler Charlton Heston, dem Sie einst den Film Ben Hur auf den Leib schrieben, hat die Politik nicht aufgegeben. Als Sprecher der National Rifle Association ist er erfolgreicher als Sie. Erfolge seiner Politik waren neulich in der Higschool von Littleton zu besichtigen. Heston hat nicht mehr Einfluß als ich, er ist bloß eine Stimme. Charlton Heston verkauft Sachen, in seinem Fall sind es Waffen. Die traurige Geschichte von Colorado hat natürlich auch damit zu tun, daß die Eltern vor lauter Geldverdienen keine Zeit mehr für ihre Kinder haben. Kein Wunder, daß sie durchdrehen. Auch auf mein Betreiben werden demnächst Charlton Heston und die National Rifle Association wegen Anstiftung zur Gewalt vor Gericht gebracht. Aber die Waffen-Lobby ist die mächtigste in den USA. Warum ist in den USA so überhaupt nichts von der Bürgerrechtsbewegung, vom Geist der Sechziger geblieben? Ein nicht ganz kleiner Teil der Bevölkerung sitzt im Gefängnis, das verbessert nebenbei auch noch die Arbeitslosenstatistik. Um die Schwarzen hat man sich am erfolgreichsten gekümmert und sie alle in den Knast gesperrt. Der Spaß besteht nun nicht bloß darin, sie endlich hinter Gitter zu sehen, da kommen auch noch ein paar undurchsichtige Wahlgesetze zu Hilfe: Wer einmal im Gefängnis war, verliert das Wahlrecht. Nachdem etwa die Hälfte aller schwarzen Männer zwischen vierzehn und dreißig im Gefängnis sitzt oder nur auf Bewährung frei ist, lebt eine ganze Bevölkerungsgruppe ohne Bürgerrechte. Sie kommt also auch nicht für die Wahl in Frage. Eine weitere Kontrollmöglichkeit ist natürlich der sogenannte „Krieg gegen die Drogen“. Damit hat man die Jugend im Griff. Und schließlich gibt es die Geheimpolizei. Die USA sind heute ein Polizeistaat. Aber doch harmlos verglichen mit den Überwachungsmöglichkeiten, die die Meldepflicht in Deutschland bietet. Von den Europäern haben wir auch nichts anderes erwartet. Wir Amerikaner haben unsere Bill of Rights zu verteidigen oder schon fast verloren. Ein Mann der zwanzig Jahre lang Commercials für General Electric machte, wurde eines Tages Präsident der Vereinigten Staaten und machte auch in seinem neuen Amt das, was er am besten konnte – Commercials für General Motors. Sie wissen, wen ich meine – Ronald Reagan. Die Präsentatoren wechseln vielleicht, aber die Werbung für die Konzerne bleibt doch die gleiche. Richard Nixon war ja nicht blöde, als er sagte, daß die USA für die Innenpolitik keine Regierung brauchten. Natürlich bräuchten sie dringend eine, wenn auch nicht aus seiner Sicht. Das Land regiert sich selber. Nixon meinte damit, daß die Konzerne im Land auch die Geschäfte des Landes führen. Und in diesem Geschäft geht es nun einmal um nichts anderes als um Geld. Den Präsidenten braucht man nur für die Außenpolitik. Ein cleverer Demagoge könnte diese cosa nostra der Konzerne leicht auseinandernehmen. Wenn in Amerika eine wirtschaftliche cosa nostra herrscht, dann machen Sie Bill Clinton zum capo di capi. Ach, der ist doch nur ein kleiner Angestellter. Auf den Präsidenten kommt es nicht an. In der Außenpolitik können sie einigen Unfug anrichten, so wie jetzt im Kosovo, aber nicht im Inneren. Der amerikanische Präsident ist womöglich für die Serben wichtig, aber nicht für die Amerikaner. Das Amerika der Konzerne beschäftigt seine Anwälte, die deren Interessen im Kongreß und in der Regierung wahrnehmen. Dafür werden sie gut bezahlt; die Spenden für den Wahlkampf tun ein übriges. Die Clintons waren am Anfang naiv. Sie glaubten, sie könnten uns etwas schenken, was wir dringend benötigten, nämlich eine allgemeine Krankenversicherung. Man hat sie aber rasch eines Besseren belehrt. Der Mischkonzern ITT besitzt unter anderem Hartford Life, die das Geschäft mit den Lebensversicherungen machen. Hartford Life hat selbstverständlich nicht das geringste Interesse an einer staatlichen Krankenversicherung, und deshalb haben wir in den USA auch keine. Aus, Amen. Die Clintons aber wurden regelrecht vernichtet. Bei den Wahlen ist das nicht ganz gelungen, doch ihr Ansehen ist dauerhaft geschädigt. Das Clinton-Impeachment im vergangenen Jahr war eine Warnung: So ergeht es allen, die nicht gehorchen wollen. Die Fragen stellte Willi Winkler Süddeutsche Zeitung USA - Völkermordzentrale der Erde zum Archiv |