Der Politiker Erich Fromm

Es gibt nur einige wenige Seiten in dem gut 6000 Seiten umfassenden Werk Erich Fromms, auf denen Fromm etwas Autobiographisches schreibt: In "einigen persönlichen Vorbemerkungen" des 1962 erschienenen Buches Jenseits der Illusionen bekundet Fromm selbst, daß er zwar von Kindheit an sehr an Politik interessiert war, aber sich bis Ende der fünfziger Jahre nicht direkt politisch betätigt habe, weil er fühlte, daß er seinem Temperament nach sich nicht für eine politische Tätigkeit eigne. Dies bedeutet nicht, daß er politisch abstinent gewesen wäre, im Gegenteil. Aber seine Einflußnahme war zunächst eher indirekt. Als der 41-jährige Fromm im Jahre 1941 sein erstes Buch Escape from Freedom, zu deutsch: Die Furcht vor der Freiheit (1941a) in den Vereinigten Staaten veröffentlichte, enthielt dieses Buch eine Analyse des Nationalsozialismus, mit der Fromm einen starken Einfluß auf die Meinungsbildung hinsichtlich der Frage ausübte, ob die USA in den Zweiten Weltkrieg eintreten sollen. Zwei Jahre später, im Jahre 1943, konkretisiert Fromm seine Analyse und fordert "die völlige Vernichtung der nationalsozialistischen Herrschaft und all derer, die an ihr interessiert sind oder waren" (1943a, GA V, S. 7).

Bei den Vorbereitungen zum 4. Band der nachgelassenen Schriften Erich Fromms, der den Titel trägt Ethik und Politik. Antworten auf aktuelle politische Frage (1990b) und der vor ein paar Wochen vom Beltz-Verlag in Weinheim in die Buchhandlungen ausgeliefert wurde, stieß ich im wissenschaftlichen Nachlaß Fromms auf Unterlagen, die eine politische Initiative Fromms aus dem Jahre 1948 dokumentieren und die ich in dem besagten 4. Nachlaßband veröffentlicht habe. Die Initiative Fromms hat durch die Golfkrise eine neue Aktualität bekommen, denn Fromm geht es um eine Kooperation von Israelis und Palästinensern. Noch bevor am 15. Mai 1948 das britische Mandat über Palästina erlosch, der Jüdische Nationalrat an diesem Tag den unabhängigen jüdischen Staat unter Chaim Weizmann als Staatspräsidenten ausrief und es am 17. Mai 1948 zu kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen den arabischen Staaten und Israel kam, die erst im Juni 1949 mit einem Waffenstillstand beendet wurden, wandten sich in Jerusalem Martin Buber und zwei andere bekannte jüdische Größen mit einer öffentlichen Erklärung zur Frage des jüdisch-arabischen Konflikts an die Weltöffentlichkeit. Diese Erklärung nahmen Erich Fromm und sein Jugendfreund Ernst Simon zum Anlaß, um bekannte Juden in Amerika zu einer Solidaritätsbekundung für ein friedliches Zusammenleben von Juden und Arabern in Palästina zu gewinnen. Fromm formulierte den Text und bekam schließlich die Unterschriften von Albert Einstein und Leo Baeck für eine öffentliche Erklärung in der New York Times vom 18. April 1948.

1950 siedelte Fromm von New York nach Mexiko über, wo er bis 1974 seinen Hauptwohnsitz innehatte. Hier hatte er die nötige Distanz zur amerikanischen Gesellschaft und Industriekultur; von hier aus konnte er genauer die Zusammenhänge von kapitalistischer Wirtschaft und Entfremdung des Menschen studieren. Hier drängte es ihn, über neue Gesellschaftsentwürfe nachzudenken und seine eigenen Vorstellungen zu Papier zu bringen. Nach dem Erscheinen seines Buches The Sane Society, zu deutsch Wege aus einer kranken Gesellschaft (1955a) im Jahre 1955, in dem Fromm eine basisdemokratische Alternative zu den herrschenden kapitalistischen und sozialistischen Gesellschaftssystemen entwarf, mußte er selbst direkt politisch aktiv werden, und zwar in den USA. Er trat der Amerikanischen Sozialistischen Partei bei und gründete mit anderen die größte amerikanische Friedensbewegung.

In seinen autobiographischen Notizen von 1962 begründete er sein politisches Engagement folgendermaßen: "Ich tue das nicht deshalb, weil ich heute meine Fähigkeiten anders beurteile, sondern weil ich es für meine Pflicht halte, nicht passiv zuzusehen, wie unsere Welt sich auf eine selbstgewählte Katastrophe zubewegt. Aber ich möchte unterstreichen, daß ich es nicht nur aus Pflichtgefühl tue. Je verrückter und entmenschlichter unsere Welt zu werden scheint, um so mehr mag der einzelne das Bedürfnis spüren, sich mit anderen Männern und Frauen zusammenzutun, die einander durch die Sorge um die Menschheit verbunden sind." (E. Fromm, 1962, GA IX, S. 43.)

Die parteipolitische Aktivität in der Amerikanischen Sozialistischen Partei währte zwar nicht lange, doch gelang es Fromm immerhin, dieser Partei ein neues Parteiprogramm zu unterbreiten, das 1960 auch vom Parteitag akzeptiert wurde. Freilich machte Fromm seine Vorschläge zu einem basisdemokratischen und humanistisch organisierten Sozialismus, ohne die Trägheit der Parteibürokratie zu berücksichtigen, so daß er sich bald enttäuscht aus der parteipolitischen Arbeit wieder verabschiedete.

Das Scheitern des politischen Engagements mittels parteipolitischer Einflußnahme bedeutete nicht, daß Fromm sich von der politischen Bühne zurückzog. Er wählte statt dessen andere Formen. Eine dieser Formen war die Anfertigung und Verbreitung von politischen Pamphleten, also Stellungnahmen zu aktuellen politischen Problemen von sozialpsychologischer Warte aus. Die Idee zu einer Art Rundbrief, in dem solche Stellungnahmen interessierten Personen des politischen Lebens - Abgeordneten, Senatoren und Journalisten - zugänglich gemacht wurde, wurde auch von David Riesman, Roger Hagan und Michael Maccoby mitgetragen. Später kamen noch eine ganze Reihe anderer linker Intellektueller hinzu.

Die Beiträge Fromms in diesen zunächst hektographierten, später als Broschüren gedruckten Rundbriefen, die auch in den vierten Nachlaßband Eingang gefunden haben, befaßten sich vor allem mit außenpolitischen Fragen. In ihnen nahm Fromm Stellung zur Außenpolitik der Vereinigten Staaten, analysierte er das politische Konzept Chruschtschows und Maos, versuchte er Senatoren in der Kuba-Krise für eine friedliche Lösung zu gewinnen, und warnte er die amerikanische Regierung unüberhörbar vor der Wiederbewaffnung Deutschlands. Wie ein roter Faden zieht sich das Anliegen Fromms durch alle diese politischen Schriften, daß jede Politik, zumal die einer Großmacht wie der Vereinigten Staaten, immer die Verantwortung für die ganze Menschheit im Auge behalten muß. Diese Sorge für die Menschheit wird vor allem von zwei Faktoren bestimmt: vom atomaren Wettrüsten, das die Möglichkeit zur Wahrscheinlichkeit werden ließ, daß die ganze menschliche Zivilisation einem Atomkrieg zum Opfer fällt, und von der kolonialen Revolution in der Ländern der Dritten Welt. Dabei spitzt sich seine Sorge jeweils im Hinblick auf ein Land zu: Es muß alles getan werden, damit China seine Führungsrolle bei der kolonialen Revolution nicht noch mehr ausbauen kann, und es muß ein für allemal Deutschland der Zugriff zu Atomwaffen verwehrt werden .

Sein Hauptanliegen freilich ist die Entspannungspolitik zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion, die Fromm möglich scheint, weil er schon in den sechziger Jahren die wechselweisen Projektionen des eigenen Machtstrebens durchschaut und in der Politik Chruschtschows jene Ansätze zu einer Verständigung erkennt, die Gorbatschow gut zwanzig Jahre später offen in die Ost-West-Verhandlungen einbringt. So ahnt Fromm 1965, was nötig wäre: "Das Ende des Kalten Krieges wäre notwendig, und es müßte zu einer Verständigung zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion kommen. Es gibt viele Anzeichen dafür, daß eine solche Verständigung heute möglich ist, auch wenn sie keineswegs leicht zu erreichen ist. Als größtes Hindernis steht ihr nämlich die deutsche Politik der Wiederbewaffnung im Wege, verbunden mit dem Versuch Deutschlands, die Grenzen von 1937 - ja sogar von 1938, wiederzugewinnen." (E. Fromm, 1990b, S. 141.)

Mit sicherem Gespür für die wirklich entscheidenden weltpolitischen Fragen erkennt Fromm: "Der wichtigste Tatbestand dieses Jahrhunderts ist die koloniale Revolution. Sie kann in einer der beiden Formen vor sich gehen: mit Gewalt, Kriegen und blutigen Revolutionen oder mit Hilfe der reichen Nationen in einer geplanten wirtschaftlichen Entwicklung." (A. a. O., S. 137.) Was wir angesichts der Golfkrise nur mit Mühe zu erkennen bereit sind, stand Fromm schon Anfang der sechziger Jahre vor Augen: Wenn der Kalte Krieg zwischen Ost und West zuende sein wird, wird sich die eigentliche Herausforderung zeigen, der Nord-Süd-Konflikt als Konflikt zwischen Reichen und Armen, Ausbeutenden und Ausgebeuteten.

In den Jahren zwischen 1957 und 1968 entfaltete Fromm von Mexiko aus und während seiner zum Teil monatelangen Aufenthalte in den Vereinigten Staaten eine immense politische Aktivität. Seine Mitarbeit in der Friedensbewegung konzentrierte sich zunehmends gegen den Kriegseinsatz der Amerikaner in Vietnam. Unermüdlich kämpfte Fromm gegen die atomare Hochrüstung, gegen Zivilschutzgesetze, gegen Atombombentests Im Jahr 1962 war er zu dem vom "Weltfriedensrat" einberufenen "Weltkongreß für allgemeine Abrüstung und Frieden" nach Moskau gereist. In London traf er sich mit sowjetischen Abgesandten, um die Möglichkeiten der Beendigung des Kalten Krieges auszuloten. 1961 veröffentlichte er ein dickes Buch über amerikanische Außenpolitik.

Mitte der sechziger Jahre verfolgte Fromm die Idee, alle humanistischen Sozialisten in Ost und West an einen Tisch zu bringen. Immerhin gelang ihm mit dem Band Socialist Humanism (1965a) ein literarisches Symposium zustande zu bringen, in dem Autoren wie Adam Schaff, Maximilién Rubel, Lucien Goldmann, Ernst Bloch, Bertrand Russell, Herbert Marcuse, Wolfgang Abendroth, Danilo Dolci, Norman Thomas, Sir Stephen King-Hall und vor allem die jugoslawischen Sozialisten der "Praxis"-Gruppe, zu denen Fromm eine besonders intensive Beziehung hatte, ihre Beiträge veröffentlichten.

1967 und 1968 schrieb Fromm Wahlreden für den demokratischen Präsidentschaftskandidaten Eugene McCarthy und reiste monatelang quer durch die Vereinigten Staaten, um mit dem ganzen Gewicht seiner Bekanntheit für den Humanisten McCarthy zu werben und für den Rückzug der Amerikaner aus Vietnam zu kämpfen. In einer Zeitungsanzeige mit dem Titel "Warum ich für McCarthy bin", die ebenfalls im 4. Nachlaßband abgedruckt ist, bekennt Fromm: "Eine große Zahl von Amerikanern, zu denen humanistische Konservative und humanistische Radikale gehören, bilden eine neue Front, und Senator McCarthy ist ein Symbol für ihre Vision einer humanen Gesellschaft. Sie spüren, daß er ein Mann ist, der seine Individualität behauptet, indem er gegen die Maschine Front macht und das anscheinend Unmögliche fertigbringt: Er wartet nicht auf das Wunder, das eine Änderung hervorbringt, sondern ändert mit einer kühnen Entscheidung die Umstände, so daß es zu einem Wunder kommen kann." (E. Fromm, 1990b, S. 259f.)

Fromms Einsatz für McCarthy führte nicht zu dessen Nominierung als demokratischer Präsidentschaftskandidat, zumal dann der Republikaner Nixon das Rennen machte und den Vietnamkrieg bis zu seinem bitteren Ende verlängerte. Nicht diese Niederlage führte zu Fromms Rückzug aus der aktiven Politik, sondern eine Herzattacke zwang ihn, kürzer zu treten und die Rednerpulte vor Tausenden von Amerikanern zu verlassen. Fromm kehrte sozusagen wieder an den Schreibtisch zurück, ohne allerdings seine Leidenschaftlichkeit als Politiker zu verlieren.

Fromms politische Strategie zur Veränderung am Beispiel seines Verständnisses von politischer Radikalität
 

a) Die psychische Dimension der politischen Theorie

Fromm wurde zum Politiker, weil er von seinem sozialpsychologischen Denkansatz her erkannte, wie sehr der Mensch in seinem Lebensäußerungen von bewußten und unbewußten leidenschaftlichen Strebungen gelenkt wird, die ihren Ursprung in den Erfordernissen dieser Industriekultur haben und ihn entsprechend dieser Erfordernisse denken, fühlen und handeln lassen, die aber für den inneren Menschen, das heißt für seine psychische Gesundheit, seine seelische Entfaltung und das Zusammenleben der Menschen katastrophale Auswirkungen haben. Das Beispiel mit der Berechenbarkeit und dem Quantifizierungsstreben sollte diesen Zusammenhang wenigstens andeutungsweise illustrieren.

Der Frommsche sozialpsychologische Denkansatz wirkt sich einerseits auf sein Therapieverständnis aus: Fromm wird zum Politiker und anerkennt die Politik als Mittel zur therapeutischen Veränderung gesellschafts-charakterologischer Phänomene, also jener leidenschaftlichen Strebungen, die massenhaft auftreten und zum Teil als normal gelten, die aber dennoch zur seelischen Entfremdung und Verelendung beitragen. Andererseits wirkt sich dieser sozialpsychologische Denkansatz auf das Verständnis von Politik und politischer Veränderung aus. Veränderung mit den Mitteln der Politik hat ihr Augenmerk nicht nur auf die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen, sondern vor allem auf die psychischen Auswirkungen zu richten, das heißt auf die zu ändernden leidenschaftlichen Strebungen, die ihrerseits das ökonomische, soziale und kulturelle Verhalten des Menschen determinieren. Dies ist das Neue, das Erich Fromm zum Verständnis politischen Handeln eingebracht hat. Er zeigt mit seinem neuen Verständnis sowohl einer naiven christlichen politischen Theorie wie einer das Psychische verleugnenden marxistischen und sozialistischen Politik ihre Grenzen.

Das Neue an der politischen Theorie Fromms ist das Ernstnehmen der Wechselbeziehung ökonomischer, sozialer und kulturell-geistiger Faktoren mit den psychischen. So schreibt Fromm bereits 1955 in Wege aus einer kranken Gesellschaft (1955a, GA IV, S. 190f.) programmatisch:

"Wenn ich glaube, daß die Ursache der Krankheit ökonomischer oder geistiger oder psychologischer Art sei, dann glaube ich natürlich, daß die Beseitigung dieser Ursache zur Gesundung führe. Wenn ich dagegen sehe, wie die verschiedenen Aspekte miteinander in Wechselbeziehung stehen, werde ich zu dem Schluß kommen, daß man die geistige und seelische Gesundheit nur erreichen kann, wenn man gleichzeitig im Bereich der industriellen und politischen Organisation, auf dem Gebiet der geistigen und weltanschaulichen Orientierung, der Charakterstruktur und der kulturellen Betätigung Veränderung vornimmt. Konzentrieren wir dagegen unsere Bemühungen auf einen dieser Bereiche unter Ausschluß oder Vernachlässigung der anderen, so wirkt sich das destruktiv auf alle Veränderungen aus. Tatsächlich scheint mir hier eines der wichtigsten Hindernisse für den Fortschritt der Menschheit zu liegen.

Das Christentum hat die spirituelle Erneuerung gepredigt und darüber Veränderungen in der Gesellschaftsordnung versäumt, ohne die eine spirituelle Erneuerung für die meisten unerreichbar bleibt. Das Zeitalter der Aufklärung hat als höchste Normen unabhängiges Urteil und Vernunft postuliert; es hat die politische Gleichberechtigung gepredigt und nicht gesehen, daß man mit der politischen Gleichberechtigung die Brüderschaft aller Menschen nicht verwirklichen kann, wenn sie nicht mit einer fundamentalen Veränderung der sozio-ökonomischen Organisation Hand in Hand geht. Der Sozialismus und insbesondere der Marxismus hat die Notwendigkeit sozialer und wirtschaftlicher Veränderungen in den Vordergrund gestellt und dabei die Notwendigkeit einer inneren Wandlung der Menschen übersehen, ohne die ökonomische Veränderungen niemals die "gute Gesellschaft" herbeiführen können.

Jede dieser großen Reformbewegungen der letzten zweitausend Jahre hat einen Bereich des Lebens unter Ausschluß der anderen herausgestellt. Ihre Reform- und Erneuerungsvorschläge waren radikal - aber das Resultat war fast stets ein völliger Fehlschlag. Die Predigt des Evangeliums führte zur Katholischen Kirche; die Lehren der Aufklärer des achtzehnten Jahrhunderts führten zu Robespierre und zu Napoleon; die Doktrinen von Marx führten zu Stalin. Es hätte auch kaum anders kommen können.

Der Mensch ist eine Einheit, sein Denken, sein Fühlen und seine Lebenspraxis sind untrennbar miteinander verbunden. Er kann in seinem Denken nicht frei sein, wenn er nicht auch emotional frei ist; und er kann emotional nicht frei sein, wenn er in seiner Lebenspraxis, in seinen ökonomischen und sozialen Beziehungen abhängig und unfrei ist.

Wenn man versucht, in einem Bereich unter Ausschluß der anderen radikal voranzukommen, so muß das notwendigerweise zu dem Resultat führen, zu dem es geführt hat, daß nämlich die radikalen Forderungen auf dem einen Gebiet nur von wenigen Menschen erfüllt werden, während sie für die Mehrheit zu leeren Formeln und Ritualen werden, die zur Tarnung der Tatsache dienen, daß sich in den anderen Bereichen nichts geändert hat."

Bereits in diesem Text aus dem Jahre 1955 erkennt Fromm die ganze Problematik radikaler politischer Theorien. Wird nicht eine an die Wurzeln gehende Veränderungen in allen Lebensbereichen zugleich angestrebt, verkommt die politische Theorie zur Ideologie, wird sie zur leeren Formel und zum feierlichen Ritual, mit der die Wirkungslosigkeit der radikalen revolutionären oder reformerischen Änderungsbestrebungen nur verdeckt wird.
 

b) Zur Bewertung politischer Radikalität

Schauen wir uns nun genauer an, wie Fromm selbst zur politischen Radikalität steht. Er hatte sich mit dieser Frage ausführlich in einem Kapitel zu dem Buch Die Revolution der Hoffnung (1968a) beschäftigt, das über den politischen Radikalismus in den Vereinigten Staaten handelt. Die Gründe sind mir unbekannt, warum er dieses Kapitel wieder aus dem Manuskript zu diesem Buch herausgenommen hatte; da die Frage des politischen Radikalismus in den letzten zwei Jahrzehnten durch den weltweiten Terrorismus an Aktualität gewonnen hat, habe ich dieses Kapitel im vierten Nachlaßband veröffentlicht und werde ich mich bei den folgenden Ausführungen vor allem auf dieses Kapitel stützen.

Für Fromm gibt es keinerlei Zweifel daran, daß der Mensch der kybernetischen Industriegesellschaft zugrunde gehen wird, wenn es nicht zu einer radikalen, das heißt an die Wurzeln gehenden, Änderung seiner ökonomischen, sozialen, kulturellen und psychischen Situation kommt. Eine solche umfassende und alle Lebensbereiche zugleich betreffende Veränderung ist nur mit einem radikalen politischen Programm erreichbar. Ohne politische Radikalität ist angesichts der bestehenden Machtstrukturen und des Widerstands der herrschenden Kräfte gegen eine Veränderung keine wirkliche Überlebenschance.

Daß ein politischer Radikalismus nötig ist, daran gibt es für Fromm keinen Zweifel. Die größte Gefährdung geht deshalb von jenen politischen und gesellschaftlichen Kräften aus, die die Notwendigkeit radikaler Änderungen verleugnen. "Sie verleugnen einfach, daß es jenseits des rein technischen Wandels überhaupt eine große Veränderung auf der Welt gibt. Den technischen Wandel begreifen sie als eine einseitige Gnade. Sie behaupten mit Nachdruck überholte Ansichten zur nationalen Überlegenheit und sprechen vom Krieg (auch von Atomkrieg) als einer Fortführung der Politik mit anderen Mitteln... Gegen alle Vernunft kleben sie an dem Glauben, daß sich grundsätzlich nichts geändert hat und daß noch immer Macht alle Probleme lösen kann." (E. Fromm, 1990b, S. 34f.) Die Gleichgültigkeit gegenüber dem Leben ist in Wirklichkeit eine Feindseligkeit gegen das Leben .

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