Nach 1989 war es eine Zeitlang üblich, mit tremolierendem Unterton biographische Erzählungen einzuklagen. Das wirkte meistens ein bißchen verlogen und inquisitorisch, denn das Muster der erwarteten Geschichten stand immer schon fest. Sie sollten vom exemplarischen Leben in der Diktatur erzählen und erklären, wie es dazu kam. Vor allem wurden sie alle vom angeblich so guten Ende her erzählt, dem Zusammenbruch der DDR. Sie sollten eine Geschichte spiegeln, an deren Ende der Held nach mancherlei Irrtümern, Verquickungen oder Verweigerungen im Guten gelandet ist.
Bei der Westberliner Biographie von Wolfgang Neuss ist es sozusagen umgekehrt: Am Anfang steht das gesellschaftlich Akzeptable, eine extrem erfolgreiche Aufsteigergeschichte im bundesdeutschen Showbusiness, am Ende das sogenannte Drogenwrack, die ungezogene, zahnlose alte Frau mit der Pfeife, die ständig komische Sachen sagt. Neuss' Biographie ist der Weg nach unten sozusagen. Ein Weg, den eine Gesellschaft nicht akzeptieren kann, die meint, die gesellschaftlichen Ideale müßten auch die des Einzelnen sein, die den für irre erklärt, der aus einer sogenannten erfolgreichen, tablettenunterstützten Karriere aussteigt, um zu Haus in einem spärlich eingerichteten Zimmer nur noch Haschisch zu rauchen in unglaublichen Mengen - und das auch noch propagiert.
Wenn er still und leise geblieben wäre in seinem Exil, wenn er sich wenigstens die Zähne wieder hätte machen lassen - diverse Zahnärzte, die seinen Anblick nicht mehr ertragen konnten, hatten es ihm angeboten -, das wär' noch gegangen. Aber so? Und in dem Alter? Diese komische alte Frau, die den Bundespräsidenten Weizsäcker in einer Talkshow unterbrach, die mit krähender Stimme nicht nur die Freigabe von Drogen forderte, sondern sich auch noch fröhlich zum eigenen Konsum bekannte, war nicht nur der moral majority ziemlich peinlich. Irritierte sehr, konnte man nicht einordnen, vor allem auch, weil er sich politischem Lagerdenkens entzog und plötzlich anfing - ein durchgedrehter Schwejk -, all die zu umarmen, die nun gar nicht von ihm umarmt werden wollten, und von faschistischen Einschreibungen auch bei denjenigen zu sprechen, die als Alternative oder Friedensfreunde meinten, außerhalb der deutschen Geschichte auf Seiten der Unschuld zu stehen.
Wenn er von braunen Grünen schrieb (seinen Freunden), schockierte das; die Reihe Hitler- Schmidtler, aus der dann am Ende, bei erfolgreicher Durcharbeitung/ Wiederholung der Geschichte im freudschen Sinne schließlich ein Hit werden sollte, war Skandal in einer Linken, die von Psychohistorie noch nichts gehört hatte und ihre faschistischen Einschreibungen (von Vesper vielleicht abgesehen) zu leugnen pflegte.
Seltsam beim Lesen der großartigen Neuss-Werkausgabe, daß es eigentlich keinen größeren Bruch gibt zwischen den Texten des allseits beliebten frühen und denen des späten Neuss. Auch in den immer noch genialen Kellerkindern kehrt Hitler als unschuldiger "Irrer" wieder, ist eine verpönte Ekstasetechnik (amerikanischer Jazz) das Mittel, den Faschismus durchzuarbeiten. Vielleicht klingt das blöde; in jedem Fall ist "Der totale Neuss" ein unglaublich interessantes, lustiges, trauriges, kluges Geschichts- und Geschichtenbuch für alle Generationen und eignet sich sehr als Weihnachtsgeschenk.
Detlef Kuhlbrodt
"Der totale Neuss". Hrsg. Volker Kühn. Rogner & Bernhardt, Hamburg 1997,
956 Seiten, 33 DM
T971213.224 TAZ Nr. 5407, Kommentar vom 13121997, Seite 15, 107 Zeilen
von Detlef Kuhlbrodt
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