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In dieser Hinsicht ist es vor allem die Kriminalisierung der Drogen,
die zur Überfüllung von Amerikas Gefängnissen und zu einer weit
reichenden Veränderung der Rechtspflege geführt hat.
Im Schatten der GefängnismauernFür den Fall Raoul Wüthrich liefert in Europa wieder einmal der US-Puritanismus die Generalerklärung. Doch die Gründerväter der USA waren gar nicht so prüde. Dafür kriminalisiert die neue religiöse Rechte systematisch Amerikas öffentliches Leben.Von René Grandjean*
Die Vereinigten Staaten übertreffen sogar Südafrika in Bezug auf den Bevölkerungsanteil, der sich hinter Gittern befindet; und nur China tötet mehr seiner Bürger von Rechtes wegen. Sogar die Uno ist aus ihrem Schlummer erwacht und hat Kritik an Janet Reno und ihrem Justizdepartement geäussert, weil es auffiel, dass die Todesstrafe vor allem an armen und farbigen Kriminellen vollzogen wurde. Für viele rechtschaffene Menschen, Feministinnen eingerechnet, mag es tröstlich sein zu wissen, dass jeden Tag mehr Männer in Amerikas Gefängnissen als Frauen in Amerikas Strassen und Häusern vergewaltigt werden.
Wein, Weib und Gesang![]() Was die Leute auf der "Mayflower" wirklich obsessiv beschäftigte, war das Bedürfnis, ihre Rechtschaffenheit unter Beweis zu stellen. Damit konnten sie zeigen, dass Gott auf ihrer Seite stand und dass alle anderen, inklusive Indianer, Katholiken, Royalisten und weniger eifriger Protestanten, nicht mit von der Partie Gottes waren. Auf diesem Rechtschaffenheitsanspruch basiert auch der Umstand, dass die amerikanische Gesellschaft heute wie damals eine Vorliebe für Rechtshändel, Prozesse und das Justizsystem mitsamt Anwälten und Gefängnissen hat. Es ist eine grosse Ironie der Geschichte, dass die neue Republik, die sich gegen die Autorität der englischen Monarchie auflehnte, nie von den Rechtsreformen profitierte, die in England und in zahlreichen seiner Kolonien von Australien bis Kanada im Verlaufe des 19. Jahrhunderts eingeführt wurden. Amerika schnitt sich also von Reformen ab, die die absurde Handhabung und Ausweitung von Prozessen und Strafverfolgungen, wie sie heute das öffentliche Leben in den Vereinigten Staaten verseucht, in vernünftige Bahnen gelenkt hätten.
Schuld- statt Unschuldsvermutung![]() Die Voraussetzung der Unschuld und der Habeas Corpus, nach dem "niemand ohne richterlichen Befehl verhaftet und länger als zwei Tage ohne Verhör in Haft gehalten werden darf", waren einmal die Eckpfosten des amerikanischen Rechtsstaates. Doch diese hehren Prinzipien sind heute durch die weitgehende Kriminalisierung des öffentlichen Lebens unterhöhlt worden, wenn selbst Taktlosigkeiten oder blosse Dummheiten als Verbrechen deklariert werden. So ist es durchaus möglich, dass unschuldige Asyl Suchende zuerst mal für ein paar Jahre ins Gefängnis gesteckt werden oder dass eine Frau nach einem ehelichen Disput in Ketten gelegt und auf den Polizeiposten geschleppt wird. Desgleichen Kinder, die entweder wegen angeblicher oder wirklich begangener Missetaten verhaftet, verhört, angeklagt und eingekerkert werden können. So kann es geschehen (wie es im "Tages-Anzeiger" vom 20. Oktober zu lesen war), dass sich ein 13 Jahre alter Junge in Michigan vor einem Geschworenengericht verantworten muss, das ihn anschliessend wegen Mordes verurteilt. Für den elfjährigen Raoul ist es ein schwacher Trost zu wissen, dass das, was sich in Colorado abspielte, in Melbourne oder Toronto (und natürlich in der Schweiz) undenkbar gewesen wäre. Selbst wenn Raoul das, wessen er beschuldigt wird, tatsächlich getan hätte, so würde er an anderen Orten der Betreuung von Psychologen, Lehrern und Eltern anvertraut und nicht in die Maschinerie von Gericht, Polizei und Gefängnis eingewiesen. Was immer Raouls Eltern bewegt haben mag, sich aus Colorado in die Schweiz abzusetzen - die Idee, dass ihnen auch die andern Kinder weggenommen werden könnten, ist nicht aus der Luft gegriffen. Solch drastische Massnahmen sind nämlich nicht unbekannt, ist es doch nur ein weiterer Schritt auf dem Weg zur Kriminalisierung des amerikanischen Lebens. Beim geringsten Verdacht auf Kindsmisshandlung oder -vernachlässigung rücken Sozialagenturen aufs Tapet, um den Eltern ihr Kind oder ihre Kinder wegzunehmen. Als der romantische Lyriker William Wordsworth in seiner "Intimations-Ode" das Zwielicht voraussagte, das sich auf das Leben eines Kindes legen kann ("Shades of the prison-house begin to close / Upon the growing boy"), so dachte er bestimmt nicht an ein Jugendgefängnis in Colorado. Vielmehr dachte er an den Verlust an Vision und Hoffnung, der das Leben eines Kindes, Dichters oder weltoffenen Menschen überschatten kann. Dennoch sollten uns die Worte von Wordsworth zu denken geben, denn es ist fraglich, ob überhaupt jemals ein Kind es verdient, selbst wenn es die Dinge, dessen es beschuldigt wird, tatsächlich getan hat, mit Justiz und Gefängnis konfrontiert zu werden. Selbst wenn Raoul eine Form des erotischen oder inzestuösen Spiels veranlasst haben sollte: Ist es recht, ihn als Kriminellen einzustufen?
Vor der Erfindung des Traumas![]() Es gilt nun, noch ein zentrales Rätsel zu lösen. Warum legt gerade die amerikanische Öffentlichkeit einen solchen Eifer an den Tag, Kinder als Kriminelle einzustufen und sie zusammen mit Erwachsenen scharenweise ins Gefängnis zu werfen? Das Rätsel vertieft sich, wenn wir bedenken, dass andere Gesellschaften diesen Einsperrungswahn gar nicht teilen. Dies ist vor allem verwunderlich zu einer Zeit, wo in ganz Amerika die Verbrechensrate im Rückgang begriffen ist. Selbst wenn man die These des Puritanismus als Mythos entlarvt, so gibt es noch andere Kräfte im Leben Amerikas, die für die Behandlung von Raoul und von Millionen anderer Jugendlicher verantwortlich sind. Die wichtigste dieser Kräfte ist einerseits die religiöse Rechte und deren ungebremste Privatisierung von Kultur und Verhalten und andererseits die Verinnerlichung von privaten Ängsten, die lange vom Kalten Krieg absorbiert wurden.
Abgeschottet und aggressiv![]() Die Christliche Koalition hat es zu Stande gebracht, den Diskurs über Ethik auf Sex zu reduzieren und Politik mit der Opposition gegen Abtreibung gleichzusetzen. Die so genannten Pro-Life-Gruppen lieben den Fötus mit einer Innigkeit, die bald nach der Geburt in Gleichgültigkeit umschlägt, um dann einer zunehmenden Entfremdung oder gar dem Hass gegen das heranwachsende Kind Platz zu machen. Die in der amerikanischen Politik dominierenden Kräfte glauben eigentlich gar nicht an die integrierende Wirkung einer heilen Gesellschaft, weder zu Hause noch im Ausland. So sagte ein führender Republikaner: "I've been to Europe once, I don't need to go there again." Obwohl solche Politiker dem Allgemeinwohl dienlichen Steuern feindlich gesinnt sind, setzen sie sich für vermehrte Rüstungsausgaben ein und budgetieren Milliarden für den Bau von Gefängnissen. Ein Meilenstein wurde vor drei Jahren erreicht, als Kalifornien, lange das Liebkind der Welt mit seinem hervorragenden System von staatlichen Colleges und Universitäten, zum ersten Mal mehr Geld für den Betrieb von Gefängnissen ausgab als für die Hochschulen. Mit anderen Worten: Ein Gefängnisinsasse kostet den Staat Kalifornien mehr als ein Student in Berkeley, einer der besten amerikanischen Universitäten. Raoul wird es vielleicht nicht zum Studenten bringen, aber seine Tage im Jugendgefängnis haben ihn mit einem Problem vertraut gemacht, das die amerikanische Gesellschaft auszuhöhlen droht. http://www.tages-anzeiger.ch/
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