Bandenbildung und -bekämpfung auf höchstem europäischen
Niveau
Für
diejenigen, deren Hobby die engagierte Verteidigung des Grundgesetzes ist,
ergab sich in jüngster Zeit wieder einmal häufig genug Anlaß,
gemeinsam mit allen aufrechten Demokraten gegen allerlei "Verschärfungen"
und "Demontagen" vorzugehen – und sich von den zwangsweise auftretenden
Niederlagen nicht aus der staatsbürgerlichen Ruhe bringen zu lassen.
Hieß die jüngste Etappe dieses ewigen Kampfes die endgültige
Legalisierung des Abhörens von Wohnungen, so wird die nächste
nicht lange auf sich warten lassen: Auf europäischer Ebene werden
allerlei neue Fahndungs- und Repressionsinstitutionen vorbereitet oder
sind bereits in die Tat umgesetzt worden, die das wackere Häuflein
zur Verteidigung von "Grund- und Freiheitsrechten" anstacheln werden –
allzumal, da sie, oh Graus, ganz ohne parlamentarische und datenschutzrechtliche
Beratung vonstatten gehen. Und doch ist das, was sich unter dem Zeichen
der Bekämpfung sogenannter Organisierter Kriminalität so tut,
nicht bloß als Beschäftigungstherapie für konstruktive
Kritiker, die an dieser Entwicklung mit ihrem Gewarne und Gemahne vor international
agierenden Umwelt-, Wirtschafts- und Kinderpornokriminellen alles andere
als unschuldig sind, von Interesse. An ihr läßt sich auch für
den, der schon immer wußte, daß vernünftige Herrschaft
ein Oxymoron ist, ablesen, wie weit die sinnentleerte Herrschaftssicherung,
die immer zugleich ihr Verfall ist, schon fortgeschritten ist.
Worum geht’s?
Als
die USA in den 60er Jahren in Südostasien für ihren Versuch,
Vietnam in die Steinzeit zurückzubomben, Verbündete suchten,
wurden sie schließlich im Norden Thailands fündig. Dort hatten
sich Reste der chinesischen Nationalarmee geflüchtet, um – mehr schlecht
als recht – sich mit Opiumanbau und -weiterverarbeitung über Wasser
zu halten. Als Gegenleistung für die Unterstützung kaufte der
CIA ihre Heroinbestände auf, vertickte sie an die GI’s weiter und
verpaßte so dem modernen Heroinboom und dem "Goldene Dreieck" eine
gute Starthilfe. 25 Jahre später marschierten die USA auf Befehl des
ehemaligen CIA-Chefs Bush in Panama ein, um einen Präsidenten,
den sie zum Drogendealer erklärt hatten, gefangenzunehmen und dabei
mehrere hundert Zivilisten zu töten. Millionenbeträge werden
den Coca-anbauenden Staaten gestellt, um ihre Kokainproduktion lahmzulegen
und die Lebensgrundlage tausendender Kleinbauern zu zerstören, penibel
überwacht vom Großen Bruder, der jede Verfehlung ahndet; wenn
diese Gelder aber in Flugzeuge fließen, die den Nordosten Kolumbiens
bombardieren, wo zwar kein Koks hergestellt wird, aber die Guerilla operiert,
zuckt niemand hie wie dort mit der Wimper. Die Bekämpfung des Drogenhandels
ist ein dermaßen lächerlicher selbstgegebener Auftrag, ein dermaßen
beliebig operationalisierbares Ideologem, daß man sich fast scheut,
auf diese Banalität hinzuweisen. Vor allem verführt es dazu,
hinter dieser die "wahren Interessen" der Herrschenden beim war on drugs
auszumachen, als gäbe es eine geheime, perfide Strategie, die sich
bloß macchiavellistisch tarnt und sich nicht darin erschöpft,
ebenso massenbegeisterndes wie inhaltsleeres Ticket, beliebig in Anschlag
zu bringende Maßnahme zur Herrschaftssicherung als Selbstzweck zu
sein.
Das
gleiche Problem stellt sich anhand der aktuellen deutschen und europäischen
Politik. Was dort aufgerüstet wird, ist nicht ohne. Im Kampf gegen
die diversen Mafien wurden in der BRD beispielsweise mehrere "Lehren aus
dem Faschismus" weniger zur Disposition gestellt denn vielmehr neu gezogen:
Der postfaschistische Staat, auf die Vorabvermeidung gesellschaftlicher
Störungen verpflichtet, entsann sich, von der Organisierten (Rauschgift-)
Kriminalität in allerhöchste Staatsnot versetzt, seit Beginn
des Jahrzehntes auf das gute alte Konzept des nationalsozialistischen Reichssicherheitshauptamtes,
der "präventiven Verbrechensbekämpfung". Flugs wurden die Gesetze
zur "Bekämpfung der Organisierten Kriminalität", zur "Verbrechensbekämpfung"
und zur "Verfahrensentlastung" verabschiedet und der Große Lauschangriff
auf den Weg gebracht, ohne sonderlichen Widerspruch, zumeist mit Zustimmung
der sozialdemokratischen Opposition. Kern der Gesetze war, für radikale
Linke in diesem Lande nicht ganz neu, die Umkehrung der Unschuldsvermutung
in der polizeilichen Ermittlungsarbeit: hieß es einstmals, zumindest
der Idee nach, "hier haben wir eine Straftat, wer könnte sie begangen
haben?", so ist nun das Prinzip vollends legalisiert, daß eine verdächtige
Person, einmal ins Bullenvisier gelangt, im zweiten Schritt darauf überprüft
werden kann, ob sie eine Straftat begangen hat oder noch begehen wird.
Zu diesem Zwecke dürfen die Polizisten zur "Gewinnung eines Anfangsverdachtes"
(d.h. ohne, daß dieser vorläge) ihnen suspekte Personen quasi
geheimdienstlich überwachen oder sich von Geheimdiensten mit Daten
beliefern lassen (so vom BND, der zum Abhören von Auslandsgesprächen
eingesetzt wird). Stoßen die Ermittler dann auf eine Straftat, steht
es wiederum in ihrem Belieben, diese vor Gericht zu bringen oder lieber
gewinnbringender weiterzuermitteln. Flankiert wird diese Ermächtigung
zur Lebensstilschnüffelei und Bullenwillkür durch Datensammelei
über verdächtige Personen, so die Fingerabdrücke von ImmigrantInnen
in der AFIS-Kartei, und durch das wieder in Mode gekommene wilhelminische
Platzverweissystem: zur Abwehr von Gefährdungen der öffentlichen
Ordnung können Polizeibüttel kleinere Repressionsmaßnahmen
verhängen, vom Verweisen bis zum mehrstündigen Ingewahrsamnehmen,
ohne dies begründen oder gar sich richterlich bestätigen lassen
zu müssen – erprobt bei Chaostagen und Junkieszenen.
Auf
europäischer Ebene ist es wiederum federführend die BRD, die
dergleichen präventive Ermittlungsarbeit durchzusetzen versucht. Zeitgleich
zur Öffnung der EU-Grenzen traten verschiedene Institutionen auf den
Plan, um die nun allerorten lauernden Gefahren namens Drogen und Immigranten
in ihre Schranken zu weisen. Hier ging es zunächst vor allem um den
Aufbau leistungsstarker Computersysteme, die die Daten suspekter Subjekte,
die sich in der EU aufhalten, sammeln zu können, damit diese bei den
nationalen Fahndungsapparaten, besonders beim Grenzübertritt auf dem
Schirm erscheinen. Im Schengener Vertrag wurde beispielsweise auch die
Einrichtung des Schengener Informationssystems (SIS) beschlossen, welches
personenbezogene Daten von bis zu sieben Millionen Mißliebigen zu
speichern in der Lage sein soll (im September 1993, kurz nach der Inbetriebnahme,
waren bereits knapp zwei Millionen Datenpakete gespeichert). Im Abkommen
heißt es explizit, daß "tatsächliche Anhaltspunkte" eines
Verdachts genügen, Personen- und Sachdaten zur Registrierung, Überwachung
und Vernetzung (von nationalen Fahndungsapparaten, Ausländerbehörden
etc.) zu speichern, "ohne daß von dieser Person eine Gefahr ausgehen
muß". Kaum der Erwähnung wert und von offizieller Seite auch
nur allzugern herausposaunt, daß es sich bei den überwachten
Personen um ImmigrantInnen, Flüchtlinge, Vorbestrafte, sonstige Dubiose
und natürlich Drogengebraucher handelt. Für diese gibt es noch
einen Extra-Computer, das Eurpean Drug Intelligence Unit zur intensiven
Datenerfassung – das Kernstück des European Drug Unit, Keimzelle der
nun endlich, nach langem Gejammer und Gestöhne der vereinten Exekutiven,
allen voran der deutschen, fertiggestellten Europol. Über den Vehikel
des war on drugs konnte nämlich erstmals auch eine europäische
Exekutivbehörde geschaffen werden, die sich zuvörderst zur grenzübergreifenden
Dealerverfolgung berufen fühlt. Zwar war dies bereits vorher Praxis,
ist nun aber aus der Grauzone befreit und vor allem: ohne jede Möglichkeit,
sich als Betroffener zur Wehr zu setzen. Die Immunitätsbestimmungen
für Mitarbeiter dieser Behörde übertreffen die von Parlamentsabgeordneten
bei weitem.
Was soll’s?
In
merkwürdigem Kontrast zu dem Aufwand, mit dem aufgerüstet wird,
und zu allem Gerede von der Gefährlichkeit dieser Kriminalität,
die ja sogar – mit großem ,O‘ – Organisiert ist und deren Bekämpfung
einen schlichten Sachzwang vorstellt, ist das Erscheinen des Bekämpften.
Staatsbürger aller Parteien und Publikationen, die immerhin genau
Bescheid wissen, mit welchen Techniken ihre Feinde so umgehen, haben bis
dato noch nicht einmal angeben können, was die Organisierte Kriminalität
von der herkömmlichen unterscheide, außer daß sie sehr
mächtig sei, mehr als zwei Leute umfasse und mit brachialen Mitteln
nach Gewinn strebe – sich mit anderen Worten also gerade mal von der unorganisierten
Kriminalität in Dick-und-Doof-Filmen unterscheidet. Ansonsten wird
geraunt: "Bandenmäßige Betäubungsmittelkriminalität
als Kern der Organisierten Kriminalität", die "wie Spionagenetze organisiert
sind", die "westlichen Nationen bedrohen" und "fest in der Hand ethnischer
Gruppen sind", so regierungsamtliche Verlautbarungen. Eine der Bedrohungen
der westlichen Nationen, die vielköpfige Hydra der Drogenmafia, umfaßte
1989 nach polizeilicher Kriminalstatistik exakt 20 Personen, die nach §
30.1.1 des Betäubungsmittelgesetzes (Anbau, Herstellung und Handel
als Mitglied einer Bande) verurteilt wurden, und ihre Verstöße
gegen das BtmG machten 0,2% aller registrierten Drogendelikte aus. Inzwischen
soll sich ihr Anteil statistisch bei knapp 0,4% bewegen, sich also immerhin
verdoppelt haben. Eine andere Geißel der (deutschen) Menschheit,
die Schlepperbanden, tarnen sich immerhin als Taxifahrer, die ausländische
Fahrgäste im grenznahen Gebiet befördern – und deshalb, wie unlängst
in Sachsen geschehen, als Mitglied einer solchen zu einem Jahr Knast ohne
Bewährung verurteilt wurden.
Nur
ist Häme leider nicht angesagt. Zwar lösen sich alle Bedrohungsszenarien
schon positivistisch betrachtet in Luft auf, zwar wissen schon bürgerliche
Ökonomen, daß Drogenhändler Einzelunternehmer sind oder
bestenfalls eine mittelständische Firma betreiben, keinesfalls aber
das Risiko eines unüberschaubar werdenden, gar multinational operierenden
Großkonzerns eingehen können, ohne ständig von Mitarbeitern
gelinkt oder verraten zu werden, zwar sagt auch die Polizei, falls gefragt,
daß der Drogenschmuggel zum Großteil über Ameisenhandel
erfolgt, nur ändert das die Lage kein bißchen. Auch ändert
sich nichts daran, obwohl die Bekämpfung von etwas, das es nicht gibt,
ebenso überflüssig ist wie die Umgehung des europäischen
Parlaments bei der Institutionalisierung dieser Bekämpfung, weil keine
relevante parlamentarische Opposition Einspruch erheben würde, ebenso
wie die Immunitätsvorschriften angesichts des üblichen Korpsgeists
der Bullen, der jede Verurteilung eines der ihren bisher effektiv zu verhindern
wußte, nur Ornament ist. Keine brüchig werdende Herrschaft muß
sich derzeit gegen ihr gefährlich werdende Feinde zur Wehr setzen,
die ihr das Gewaltmonopol, die Kontrolle über die ökonomische
Reproduktion der Gesellschaft oder dergleichen streitig machten, noch werden
Staat und Kapital von Unzufriedenen aller Couleur bedroht, deren Kontrolle
sich geschickt zu maskieren hätte. Im Gegenteil: Die nörgelnden
Massen, denen es nach law, order und dem Blut der Mafiosi dürstet,
sind die treuesten Verbündeten in der Bekämpfung der Organisierten
Kriminalität. Diese erweist sich im Horkheimerschen und Adornoschen
Sinne als Ticket par excellence. Jede individuelle Erfahrung ist schon
der Struktur nach aus der Wahrnehmung der Mafia verbannt, denn mit Waffen,
Plutonium und Korruption kommt der Staatsbürger eh’ nie in Kontakt,
und Drogensyndikate erblickt er bloß in Form des schüchtern
zischenden Straßendealers, dessen Unaufdringlichkeit sich eigentlich
angenehm von der penetranten legalen Marktschreierei abheben müßte.
In den Haß, der diese auch stellvertretend für ihre angeblichen
anonymen Hintermänner trifft, fließt kein Fünkchen trotzig
behaupteter schlechter Erfahrung, kein Quentchen persönliche Spleenigkeit
ein; er ist vollständig angedreht. Umso grenzenloser vermag dieser
sich Bahn zu brechen. Da die Grundlage des Ressentiments eben nicht die
empirische Realität sein darf, sondern die Projektion von dieser auf
dem Boden des von der postdemokratischen publizistischen und politischen
Einheitsfront angefütterten gesunden Menschenverstandes, vermag ebenderselbe
verständige Verweis auf Statistiken und fehlenden Fahndungserfolge
jenem keine Grenze zu setzen. Wo so viel schief läuft, ob Drogenelend
oder schlampige Verwaltungen, müssen doch sinistre Kräfte am
Werke sein; wenn diese nicht dingfest zu machen sind, bürgt das erst
recht für ihre Gefährlichkeit; und im Zweifelsfall ist der Kritiker
gekauft. Die pathische Projektion kann alles erklären.
Gerade
im Haß auf den Drogenhandel ist ein ausgereiftes Modell zur Erklärung
der Welt zu erkennen, das dem traditionellen und ihm zum Vorbild dienenden
Antisemitismus in kaum etwas nachsteht. Eine international operierende
Verschwörergruppe, zwar ethnisch, doch nicht positiver bestimmbar
als "nicht-deutsch". in jedem Fall aber ohne Vaterland, unterwandert ungesehen
unsere Gemeinschaft, die Schalthebel der Macht wie die Schulhöfe,
um bloß aus Profitgier skrupellos unserer hilflosen Jugend ihr todbringendes
Gift einzuträufeln. Einzig die notwendige Bezugnahme auf den ausgeübten
Beruf der Gehaßten, den des Drogenhändlers, und die daraus resultierende
unvermittelbare Vermittlung aus bösem Gebrauchswert, der Droge, und
dem bösen Tauschwert, dem Stachel der Profitsucht, in einer Person
vermag dem Ressentiment die Grenze zu setzen, ohne die es ansonsten wohl
auch vererbare Dealereigenschaften suchte. Die Hypostasierung der abstrakten
Seite des Kapitals, das als konkrete Eigenschaft natürlicher Gegenpersonen
gefunden und dort bekämpft wird, aber stimmt im Detail: gegens mühelose
Einkommen wird gewettert wie gegens Wucherkapital, und die Male des Reichtums
an denen, denen jener naturgemäß nicht zusteht, erscheinen als
Zerrbild der wundersamen Geldvermehrung in der Zirkulation, die verbotene
Frucht, die die Dealer pflücken. Im Vorwurf der Skrupellosigkeit taucht
als besonderes Merkmal des Drogenhandels verdinglicht die Gleichgültigkeit
des Tauschwerts über den Gebrauch wieder auf, und im Wahn der internationalen
Verschwörung wie der Ortlosigkeit und Unsichtbarkeit derer, die sich
verschwören, gleich die ganze abstrakte Bewegung des Kapitals, die
keine Grenzen kennt – freilich fetischisiert als abgeleitete Machenschaft
der wenigen. Denn wie der Staatsbürger sich ohne den Schutz der allgemeinen
Appellationsinstanz, des Staates als Vaterland, nicht denken kann, so auch
nicht sein entäußertes Gegenüber: der Dealer muß,
um der strafenden Hand des Allgemeinen zu entkommen, eine noch größere
Macht im Rücken haben. So schießen auch Rassismus und der Antisemitismus
in nuce, das Dealerressentiment, in der Wahrnehmung gedeihlich zusammen.
Erfolgreich hatten die Deutschen sich der Asylantenflut, jener gesichtslosen
Naturmasse, die sich fressend, fickend und scheißend über seinen
Vorgarten in Rostock oder anderswo herzumachen drohte, mit Pogrom und geschlossenen
Grenzen erwehrt. Wer heute noch eindringt, trägt überdeutlich
ein Gesicht, stellt dem Volksgenossen in seinen verfemten Naturmerkmalen
frech dessen Ohnmacht, sich seiner nicht entledigt zu haben zur Schau –
und kann es sich doch bloß leisten, weil er Agent einer anonymen
Macht sein muß, eingeschleust von Schlepperbanden und mit dem Auftrag,
Drogen zu verchecken. In dem Moment, wo das Opfer des Rassisten als einzelner
sichtbar wird, als Schwarzafrikaner im Schanzenpark, wird er zugleich abstrakter,
als bloße Maske der namenslosen Verschwörung der Raffgierigen.
Der Deutsche, substantiell und pseudokonkret eingebettet in die Schicksalsgemeinschaft
aus Blut und Wesen, weiß noch im so perhorreszierten wesenshaft Abstrakten,
dessen Verbindendes bloß Raffgier ist, seinen alten Feind wiederzuerkennen.
Bloß ist die Suche nach diesem Feind prinzipiell so ohne Grenzen,
wie es die Bewegung des Kapitals, der er im Besonderen verzerrt habhaft
zu werden hofft, nun eben ist; maßlos muß der wertproduktive
Staatsbürger, Träger der maßlosen Selbstverwertung des
Wertes, im Außen suchen, wo er bloß selbst gemeint sein könnte,
wollte er dem ganzen ein Ende setzen. Genau das aber will er nicht.
Im
Haß auf den Drogenhandel ist noch jene Anstrengung zu spüren,
die den Staatsbürger seine gelungene Disziplinierung gekostet hat
und die es ihm ermöglicht wie ihn dazu nötigt, im spontanen Antikapitalismus
die Herrschaft von Staat und Kapital ins ewige zu prolongieren – der Haß
auf die Verführung. Käme ihm der Gebrauch von Drogen nie in den
Sinn, wie er es mit Abscheu stets versichert, bräuchte er sich vom
Händler nicht beeindrucken zu lassen. Selbstbewußt ließe
der suchtresistente Bürger ihn stehen. Stattdessen aber sieht er alle
bedroht von dem, was angeblich niemanden locken könne – ahnungslos
ins Drogenelend getriebene Schulkinder und Discobesucher, denen nichtsahnend
Stoff verabreicht wird, dem sie dann verfallen. Solidarität verspürt
er mit dem Junkie, den er für krank und hilflos erklärt und sich
ihm darin nicht einmal ganz unähnlich wähnt. Schuld haben nicht
die, die die falsche Ware kauften, sondern die, die sie feilboten. Unverblümt
spricht er aus, daß er Verantwortung sich und seinen Landsleuten
nicht mehr zutraut. Diese haben sie beizeiten an den Staat delegiert, der
– vor hundert Jahren noch undenkbar – die Reproduktion der Wertproduktiven
zum Zwecke der Produktivitätssteigerung in unmittelbare Regie genommen
hat. Die Zurichtung von Stoffwechsel und Vergnügen, von Leib und Seele
hält der Staatsbürger inzwischen für unabdingbar, willig
unterzeichnet er die Unterwerfung, die ihm im Wechsel Schutz, die Garantie
fürs Überleben, gewähren sollen. Die, die auf die staatliche
Fürsorge über den Konsum pfeifen und so den Wechsel in Frage
stellen, rufen seinen Haß auf den Plan. Sie stehen für den nicht
normierbaren Genuß, der als dem subjektiven Belieben anheimgestellter
erst seinem Begriff gerecht würde, als Sinnbild des fürs Überleben
verfemten menschlichen, also übers bloße Überleben hinausschießenden
Lebens. Ein solches soll nur wiederum im Wechsel zu haben zu sein – im
Verzicht auf Überleben. Dafür sorgen die Drogenverbote, die aus
dem Glücksbringer Heroin zugleich die Killerdroge machen, und so fühlt
sich der Bürger mit den Junkies wieder versöhnt. Nur die, die,
wie einst im liberalen Traum, aus bloßem Eigeninteresse den anderen
das Wohl auf dem Markt bereitstellen, müssen noch bezahlen, da sie,
sofern sie nicht konsumieren, den Wechsel nicht zeichnen können. Sie
bekommen es von allen Seiten zu spüren, daß auf ihr kurzes Glück
langes Elend folgt, ob im Knast oder in Folter, Armut und Verfolgung, in
die die Hamburger SPD beispielsweise, wie sie sich auf Wahlkampfplakaten
brüstet, sich nicht scheute "232 jugendliche Intensivdealer" abgzuschieben.
Wem nützt es, wen schützt es?
Der Vorteil des Staatsbürgers bei dem Geschäft
besteht in der halbdurchschauten Ideologie. Im Willkürbegriff der
"organisierten Kriminalität" ist die Willkürlichkeit und die
Unberechenbarkeit, mit der der Bannfluch der Herrschaft den vereinzelten
Einzelnen trifft, ob als Platzverweis, Überwachung, Vertreibung, Abschiebung
oder anderen Formen unmittelbarer Ächtung, schon enthalten. Diese
Willkür macht sich der loyale Parteigänger der Macht zueigen,
gerade weil er weiß oder zumindest ahnt, daß es keinen einsichtigen
Grund gäbe, nicht selbst von ihr getroffen zu werden.
Die
Umkehrung der Unschuldsvermutung, wie sie in der Praxis der präventiven
Verbrechensbekämpfung gegeben ist, und die anschließende Sortierung
in gefährliche und ungefährliche Einzelne nach Wahrscheinlichkeitskriterien
spiegeln bloß eine reale gesellschaftliche Bewegung wieder, die sich
notwendig und unaufhörlich Bahn bricht: die Herauskürzung der
menschlichen Arbeit aus der Produktion. Im Kapital ist ein jeder dazu bestimmt
als Ware Arbeitskraft zu leben; zugleich aber tritt in der Produktion das
Natursubstrat der Ware Arbeitskraft, d.h. die Notwendigkeit ihrer Reproduktion,
als lästiger Kostenfaktor, als Schranke jener Verwertung hervor. Diese
Reproduktion in sichere Regie, ob per Sozialstaat oder eben auch per Drogenverbot
zu übernehmen, hatte einst der Staat übernommen. Wenn aber die
industrielle Reservearmee unaufhaltsam wachsen muß, weil ihre Arbeit
dem Kapital zu kostenträchtig wird, erscheinen die Träger der
Arbeitskraft nicht mehr bloß als der Möglichkeit nach zu aktualisierende,
sondern ebenso gut und mit gleichem Recht als etwas, das den Betrieb der
Arbeitenden stören könnte. Tatsächlich aus der Verwertung
ausgespieen, sind die bloß noch zu Reproduzierenden, die dem Staat
da aufgeladen werden, erst recht reduziert auf Natur – die jener dann als
Grund für die nicht stattfindende Verwertung hypostasieren kann. So
mutieren Akzidenzien wie Siechtum und Hautfarbe, Vorlieben und Freundeskreise
zum Signal an die Herrschaft, nicht bloß einen Risikofaktor darzustellen,
sondern auch noch selbst schuld daran zu sein. Als wesentliche Eigenschaft
ihrer Träger gesetzt, wird aber diese Setzung im blinden Vollzug gesellschaftlich
objektiviert, so daß der Wahn seine eigene Legitimation nachträglich
erschafft und seine Unabdingbarkeit zur Reproduktion des Unwesens erweist.
Der bettelnde Krüppel verscheucht, einmal stigmatisiert, tatsächlich
die Kunden, der Raucher wird vom zukünftigen Arbeitgeber scheel angesehen,
und wer anläßlich eines Einstellungstests beim Drugscreening
durchgefallen ist, war wahrlich trottelig. Den Flüchtlingen schließlich,
in der Hoffnung auf ein menschenwürdiges Leben eingewandert, aber
mit der Erfahrung, wie (nicht sonderlich wohlgelittene) Haustiere behandelt,
geschlagen nämlich, worden zu sein, bleibt angesichts des Rassismus
kaum etwas anderes übrig außer als Kriminelle in den gefährlichsten
Jobs zu operieren, wollen sie nicht auf Lebensmittelkarten angewiesen sein.
Die Gemeinschaft der Ethnifizierten finden in ihrem Ausschlußkriterium
zumal noch den positiven Grund, einander bei illegalen Machenschaften,
die als vertragsförmige keine Deckung durchs staatliche Gewaltmonopol
genießen und damit hinfällig würden, mehr zu vertrauen
als anderen. Sichtbar dabei werdend, als Straßendealer beispielsweise,
aber bedeuten sie wiederum dem Volksgenossen, wie berechtigt sein Haß
war und wie notwendig die Fortsetzung der begonnenen Exklusion der Fremden
aus dem staatlichen Schutz sein muß.
Die
Weigerung zur Reflexion, die Vollstreckung von Urteilen, deren Grund seine
pathische Projektion erst möglich gemacht hat, speist sich aber aus
der Angst des Staatsbürgers. Da es für die Exklusion bestimmter
Individuen keinen vernünftigen Grund gibt, so gibt es auch keinen,
daß sie vor ihm Halt machen sollte. Tagtäglich erfährt
er seine eigene Nichtigkeit und seine Überflüssigkeit. Als Individuen
sind die Subjekte von Staat und Kapital, was ihre Fähigkeit, die Welt
zu ihrem Zwecke einzurichten, betrifft, reduziert auf den Status von Kindern
und Greisen, von Unmündigen, die durch die Gnade der Herrschaft bloß
noch existieren. Gerade an den Orten, wo des Staatsbürgers Sicherheitswahn
am meisten tobt, in den Einkaufspassagen und Freßmeilen in Hauptbahnhöfen,
ist er denen, welche ihn als Gesocks stören, objektiv am nähesten.
Die Selbstreflexivität jenes Warenspektakels, welches sich eben darin
schon hermetisch gegen jeden menschlichen Eingriff abriegelt, daß
nicht die einzelne Ware, die feilgeboten wird, sondern gleich ihre ornamentale
Zurschaustellung als ganzes den Reiz der Orte ausmachen soll, tritt dem
Käufer als fremde Macht, als unerklärliches Phänomen gegenüber
(dessen Ursprung, die menschliche Arbeit, die in der Ware, sobald sie zum
Markte kommt, ausgelöscht ist, er schon gar nicht erkennen kann).
Er selbst ist klein und machtlos und darf es als Privileg empfinden, hier
bloß zu verweilen; etwas, was er den anderen nicht gönnen darf,
um sich darin mit der Macht, die die Einkaufspassage über ihn ausübt,
wieder identifizieren zu dürfen. Ähnlich ergeht es ihm, wenn
es ums Ganze geht. Da es ihm wie ein Rätsel erscheinen muß,
warum er unbehelligt weiterleben darf, eben weil es in der gesellschaftlichen
Objektivität, in der es auf ihn als einzelnen nicht ankommt, keinen
Grund gibt, warum die Herrschaft ihm Schutz gewähren sollte, ob Arbeitsplatz
oder Stütze, tut er alles, sie quasi magisch zu befrieden. Er präsentiert
sich stets und ständig als guter wertproduktiver Staatsbürger,
als guter Deutscher also, der den Anforderungen, die an ihn gestellt werden
oder noch gestellt werden könnten, immer schon vorab erfüllt.
Daher ist der Zerfall des Bewußtseins der gesellschaftlichen Realität
immer einen Schritt voraus, und doch erahnt der Staatsbürger nur instinktiv,
was wohl folgen wird. So hofft er, die zunächst bloß imaginär
vollzogene Identifikation mit der Macht, d.h. mit der Bewegung des kapitalen
Ganzen, in eine reale Verbrüderung zu verwandeln, um der nun repersonifizierten
Herrschaft, die in diesem Prozeß der unmittelbaren Verfügungsgewalt
über die nichtautonomen Einzelnen tatsächlich wieder persönlicher
wird, genug Anhaltspunkte dafür zu bieten, daß sie auf ihn zählen
kann. Er bejubelt die Abstrafung der anderen in der Hoffnung, die Hand,
die ihn füttert, bloß die anderen schlagen zu sehen; er bekämpft
die erfundenen multinationalen Großbanden Seite an Seite mit Europol,
weil er selbst zu der ganz realen Bande gehören will, die im nun supranational
werdenden Staatsapparat entsteht.
Lars Quadfasel (BAHAMAS 24/1997)
http://www.nadir.org/nadir/periodika/bahamas/auswahl/web16.htm
Anmerkungen :
Verwendete Literatur & nicht einzeln gekennzeichnete
Zitate aus:
Beate Leuthardt ,"Festung Europa", Zürich 1995
Ingo Malcher, "‘Verhaften Sie die üblichen Verdächtigen’",
in : JungdemokratInnen / Junge Linke (Hg.), "Keine Macht ohne Drogen",
Berlin 1997 (JD/JL, Chausseestr. 8, 10115 Berlin)
Oliver Tolmein, "Grenzenlos sicher", konkret 2/94
Henner Hess, "Desorganisierte Kriminalität",
Kritische Justiz 3/92
Junge Linke, "Hoch die... nieder mit...",
Schwerpunkt Drogen, 1/97
Lambert Heller, "Der Knast – das organisierte Verbrechen der bürgerlichen
Gesellschaft", herausgegeben von JD / JL, Berlin 1997
Wolfgang Pohrt, "Brothers in crime", Berlin 1997
Guy Debord, "Die Gesellschaft des Spektakels", Berlin 1995
und natürlich Horkheimer / Adorno, "Thesen zum Antisemitismus" sowie
Postones "Antisemitismus & Nationalsozialismus"
Innenstadtaktion
Frankfurt -
Berlin
Bundesgrenzschutz -
Anti-Expo/Kein Mensch ist illegal -
EU-Festung
Sympathie for the Dealer -
Mach meinen Dealer nicht an
Organisierte Kriminalitaet -
Rot/Gruene Sicherheit - Repression im Wahlkampf
Im Rausch der Drogen - Big Brother System
|